Epoche (Philosophie)

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Der Begriff Epoche hat gegensätzliche Bedeutungen in der Geschichte der Philosophie angenommen. Es handelt sich somit um ein Oppositionswort. Abgeleitet ist der Begriff von altgriechisch ἐποχή (epoché) = „Zurückhaltung seines Urteils“ bzw. von ἐπέχω = 1) „anhalten, zurückhalten“; 2) „gegenüberstehen“. Gegensätze bestehen einerseits im Hinblick auf die Bedeutung eines ideengeschichtlichen und somit auch zeitlich exakt objektivierbaren „Haltepunkts“ im Sinne einer fest bestimmten und von späteren zeitlichen Abläufen und Veränderungen relativ unbeeinflussten Konstellation, andererseits auf die Bedeutung rein subjektiver „Zurückhaltung“ des eigenen Urteils über einen gegebenen Sachverhalt bzw. der bewussten „Enthaltung“ vor definitiver Entscheidung.[1] Diese verschiedenen Bedeutungen werden oft auch durch unterschiedliche Schreibweise hervorgehoben, wie etwa durch die verbreitete alltagssprachliche Bedeutung von Epóche = objektiver Zeitpunkt, Zeitabschnitt und die eher weniger verbreitete wissenschaftliche Bedeutung von Epoché = subjektive Betrachtungsweise (in „graezisierter Schreibweise“).[2]

Ideengeschichte

Der Begriff bezeichnet in objektiver Hinsicht einen Zeitpunkt, mit dem eine neue Entwicklung, ein neuer Zeitgeist oder ein bestimmter Zeitabschnitt beginnt, siehe → Epoche (Chronologie). Unter dem Einfluss herrschender Ideen werden bestimmte Ereignisse oder Persönlichkeiten als epochal oder epochemachend bezeichnet, da sie ein bedeutendes Zeitalter oder eine bedeutende Ära einleiten.[2] Solche zeitlich objektivierbaren „Haltepunkte“ als Niederschläge des geschichtlich-kulturellen Lebens bezeichnete man seit Hegel vielfach als objektiven Geist.[2]

Phänomenologie

Die Phänomenologie kann als subjektives Gegenstück zur objektiven Ideengeschichte angesehen werden (Grundrelation). Nach Anaxagoras sind die Erscheinungen eine flüchtige Sicht auf das Unsichtbare.[3] Das, was an den Erscheinungen unsichtbar ist, sind die subjektiven (inneren) Vorgänge, die durch die Erscheinungen ausgelöst werden. Über die eher formale Bestimmung der Subjekt-Objekt-Spaltung hinaus ist die Gegenüberstellung von Epóche und Epoché vor allem aufgrund der Erörterungen Immanuel Kants über die Zeit zu verstehen.

Stoa

In der Stoa war das Zurückhalten des Urteils ein fester Grundbegriff, der bereits durch die griechische Tugend der Besonnenheit (σωφροσύνη) geprägt war. Dieser Grundbegriff wirkte sich auch später auf die altgriechische Skepsis aus, so insbesondere bei Sextus Empiricus. Skeptizismus verpflichtet zur Zurückhaltung vor allen Theorien und Hypothesen.[2]

Immanuel Kant

Kant hat die Zeit als „formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“ (KrV B 50) angesehen. Man könne die Erscheinungen aus der Zeit wegdenken, aber nicht die Zeit selbst. Die Zeit sei daher a priori gegeben (B 46). Hieraus ergibt sich zunächst ein enger Zusammenhang der Zeit mit den Erscheinungen. Die Gegensätzlichkeit von Epóche und Epoché als objektiver Zeitpunkt bzw. Zeitabschnitt und als bestimmte Form einer subjektiven Betrachtungsweise wird insbesondere dadurch verständlich, dass Kant die Zeit als formale Bedingung eines „inneren Sinns“ wertet, während der Raum als reine Form der „äußeren Anschauung“ angesehen wird (B 50). Weiter stellt Kant fest, dass der „innere Sinn“ zwar keine Anschauung von der Seele als einem Objekt vermittelt, dass jedoch alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird (B 37). Es gibt also kein Sinnesorgan, das einen Zeitsinn vermitteln könnte, wodurch die Zeit selbst als ein äußeres Objekt erschiene.

Edmund Husserl

Auch die Phänomenologie nach Edmund Husserl berücksichtigt die von der stoischen Tradition begründete Zurückhaltung. Indem man durch die Methode der Epoche alle im Laufe der Geschichte an einen Gegenstand des Denkens herangetragenen Meinungen auf sich beruhen lässt, kann man leichter zum Wesen eines Gegenstandes vordringen bzw. es durch eine Wesensschau näher ergründen. Nach dieser „historischen Epoche“ soll die eidetische Reduktion als weitere Stufe der Enthaltung vor eigenen Urteilen erfolgen, indem von allen individuellen Gegebenheiten, so wie sie die natürliche Einstellung vermittelt, abgesehen wird.[2] Als Methode kennzeichnet „Epoché“[4] bei Husserl die phänomenologische Reduktion, durch die zunächst den vorgefassten Urteilen über die äußere Welt die Geltung entzogen wird, um anschließend – unter Beiseitelassung der tatsächlichen Existenz – zu Erkenntnissen über das Wesen des betrachteten Gegenstandes zu gelangen.[5]

Martin Heidegger

Auch die Untersuchung Martin Heideggers über Sein und Zeit umfasst den Zusammenhang mit der hermeneutischen Phänomenologie.[6]

Weitere Rezeption

Auch seitens der Psychotherapie ist die Zurückhaltung bei der Beurteilung von Sachverhalten aufgegriffen worden. Hier sei insbesondere auf die Abstinenzregel hingewiesen.[7]

Einzelnachweise

  1. Gustav Eduard Benseler u. a.: Griechisch-Deutsches Schulwörterbuch. 13. Auflage. B. G. Teubner, Leipzig 1911; Spaltenangabe mit ~: Lexikon-Stw. έποχή Seite 341~1; Lexikon-Stw. έπέχω. S. 313~1
  2. a b c d e Georgi Schischkoff (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 14. Auflage. Alfred-Kröner, Stuttgart 1982, ISBN 3-520-01321-5; (a) zur Schreibweise „Epóche / Epoché“ siehe die beiden verschiedenen Lexikon-Stw. Epoche. S. 161; (b) zu Lexikon-Stw. Epóche. S. 161; (c) zu Lexikon-Stw. Objektiver Geist. S. 500; (d) zu Lexikon-Stw. Skeptizismus. S. 641 f., siehe auch Lexikon-Stw. Epoché. S. 161; (e) zu Lexikon-Stw. Eidos. S. 143.
  3. Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. R. Piper, München 1985, ISBN 3-492-02824-1, S. 106.
  4. Vgl. auch Michaela Summa: Epoché und methodische Integration als Grundlagen für Blankenburgs Psychopathologie des common sense. In: Stefano Micali, Thomas Fuchs (Hrsg.): Wolfgang Blankenburg – Psychiatrie und Phänomenologie. Freiburg im Breisgau 2014, S. 55–79.
  5. Christian Rother: Die Unvollständigkeit der Reduktion. Metaphorik bei Husserl und bei Merleau-Ponty. In: Martin Asiáin u. a. (Hrsg.): Der Grund, die Not und die Freude des Bewußtseins. Beiträge zum Internationalen Symposion in Venedig zu Ehren von Wolfgang Marx. Königshausen & Neumann, Würzburg 2002, ISBN 3-8260-2224-6, S. 75–87.
  6. Martin Heidegger: Sein und Zeit. (1927). 15. Auflage. Max Niemeyer-Verlag, Tübingen 1979, ISBN 3-484-70122-6; zur Phänomenologie siehe insbesondere die Seiten 34–39.
  7. Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. (1912). In: Gesammelte Werke - Chronologisch geordnet, Band VIII: Werke aus den Jahren 1909–1913. Fischer, Frankfurt am Main 1999.