Estnische Zentrumspartei

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Eesti Keskerakond
Estnische Zentrumspartei
Logo der Estnischen Zentrumspartei
Parteivorsitzender Jüri Ratas
Partei­vorsitzender Jüri Ratas
Gründung 12. Oktober 1991
Haupt­sitz Toom-Rüütli 3/5
10130 Tallinn
Aus­richtung Politische Mitte,
Sozialpopulismus, Sozialliberalismus[1]
Farbe(n) Grün
Parlamentssitze
25/101
(Riigikogu)
Mitglieder­zahl 14.550 (2021)
Europaabgeordnete
1/7
(2019)
Europapartei Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE)
EP-Fraktion Renew Europe (RE)
Website www.keskerakond.ee

Die Estnische Zentrumspartei (estnisch: Eesti Keskerakond) ist eine estnische Mitte-links-Partei mit sozialpopulistischen Elementen.[2] Sie ist eine der wichtigsten Parteien Estlands. Zwischen November 2016 und Januar 2021 stellte sie mit Jüri Ratas den Ministerpräsidenten Estlands.

Geschichte

Die Estnische Zentrumspartei wurde kurz nach Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit am 12. Oktober 1991 in Tallinn gegründet. 1992 wurde die Parteizeitung Seitse Päeva („Sieben Tage“) ins Leben gerufen.

Innenpolitik

Die Estnische Zentrumspartei ist eine der beständigsten und einflussreichsten Parteien Estlands. Sie war an drei der 15 seit 1992 regierenden Koalitionen beteiligt, unter anderem zwischen 2005 und 2007 zusammen mit der Reformpartei und der Estnischen Volksunion unter Ministerpräsident Andrus Ansip. In wichtigen Stadt- und Gemeinderegierungen ist die Zentrumspartei vertreten, u. a. hat sie im Stadtrat von Tallinn derzeit (2015) die absolute Mehrheit der Sitze inne. Sie ist mit über 9000 Mitgliedern (Stand: 2006) gemessen an der Mitgliederzahl die zweitgrößte Partei Estlands. Im Riigikogu, dem estnischen Parlament, ist sie seit einigen Jahren hinter der Estnische Reformpartei zweitstärkste Kraft. Bei der Wahl 2015 konnte die Zentrumspartei mit 24,8 % (+ 1,5 %) bzw. 27 von 101 Sitzen (+ 1 Sitz) ihre Position leicht verbessern. Sie verblieb zunächst in der Opposition.

Im Herbst 2016 trat der langjährige Parteivorsitzende Edgar Savisaar zurück und Jüri Ratas wurde am 5. November 2016 zu seinem Nachfolger gewählt. Kurz darauf zerbrach die Regierungskoalition des amtierenden Premiers Taavi Rõivas (Reformpartei). Rõivas Koalitionspartner, die Sozialdemokraten und die Konservativen (Vaterland) einigten sich mit der Zentrumspartei auf eine neue Regierungskoalition. Ratas wurde am 23. November 2016 zum neuen Premier ernannt und seine Regierung vereidigt.

Die Parlamentswahlen 2019 endeten mit leichten Verlusten für die Zentrumspartei, während die Reformpartei leicht hinzugewinnen konnten. Die bisherige Regierungskoalition verlor allerdings ihre Mehrheit im Riigikogu. Gespräche zwischen Reformpartei und Zentrumspartei über eine gemeinsame Regierungsbildung scheiterten. Letztlich einigten sich die Zentrumspartei, die konservative Volkspartei und die Vaterlandspartei auf eine Mitte-Rechts-Koalition. Das weiterhin unter Vorsitz von Ratas gebildete neue Kabinett wurde am 29. April 2019 vereidigt.

Europa

Seit Mai 2004 gehört die Estnische Zentrumspartei der ALDE im Europäischen Parlament an, nachdem frühere Anträge zweimal zurückgewiesen worden waren. Vor der Volksabstimmung über den EU-Beitritt Estlands rief der Parteitag von Rakvere (August 2003) mit relativer Mehrheit die Wähler der Zentrumspartei auf, gegen die EU-Mitgliedschaft des Landes zu stimmen. Der Parteivorsitzende Savisaar äußerte sich bewusst nicht eindeutig. Als eine Konsequenz dieser Positionierung traten die Vertreter des linksliberalen Flügels aus der Zentrumspartei aus und bildeten im Parlament (Riigikogu) die „Sozialliberale Gruppe“. Später traten die meisten Sozialliberalen in die Sozialdemokratische Partei ein.

Bei der Europawahl 2004 erhielt die Zentrumspartei einen von sechs estnischen Sitzen. Siiri Oviir zog als Europaabgeordnete der Partei ins Europäische Parlament ein.

Positionen

Die Estnische Zentrumspartei gilt in der wirtschaftsliberal geprägten Gesellschaft Estlands als eine Mitte-links-Partei. Sie befürwortet die Einführung einer progressiven Einkommensteuer und betont die ausgleichende Rolle des Staates in der sozialen Marktwirtschaft. Die Partei ist zu einem Sammelbecken von Rentern und Kleinverdienern geworden und auch für die russischsprachige Minderheit attraktiv. Die Partei ist zudem für populistische Aktionen bekannt. Dennoch gab die Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche (EELK) ihren Mitgliedern zur Parlamentswahl 2019 eine Wahlempfehlung, der zufolge die Estnische Zentrumspartei am ehesten die Positionen der EELK widerspiegele.[3]

Der Politikwissenschaftler Kai-Olaf Lang nennt KESK als Beispiel einer sozialpopulistischen Partei. Diese strebten eine Ausdehnung staatlicher Interventionen, Verlangsamung der Eigentumsumwandlung und eine stärker umverteilende Politik an, ohne jedoch die herrschende Wirtschafts- und Sozialordnung grundsätzlich in Frage zu stellen. Er zählt sie daher zur Gruppe der „weichen Populisten“.[2] David Arter vergleicht sie hingegen mit den nordischen Agrarparteien, insbesondere mit der schwedischen Centerpartiet, die als unmittelbares Vorbild für die estnische Zentrumspartei gedient habe.[4]

Wahlergebnisse

Ergebnisse bei den Parlamentswahlen
Jahr Stimmen Anteil Mandate Platz
1992 56.124 12,2 %
15/101
3.
1995 76.634 14,2 %
16/101
2.
1999 113.378 23,4 %
28/101
1.
2003 125.709 25,4 %
28/101
1.
2007 143.518 26,1 %
29/101
2.
2011 134.124 23,3 %
26/101
2.
2015 142.442 24,8 %
27/101
2.
2019 118.561 23,0 %
26/101
2.
Ergebnisse bei den Europawahlen
Jahr Stimmen Anteil Mandate Platz
2004 40.704 17,5 %
1/6
2.
2009 103.506 26,1 %
2/6
1.
2014 73.419 22,4 %
1/6
2.
2019 47.799 14,4 %
1/7
2.

Vorsitzende

Zum Vorsitzenden der Partei wurde im November 2016 Jüri Ratas (* 1978) gewählt. Er löste den ehemaligen Ministerpräsidenten (1990–1992) und Tallinner Oberbürgermeister Edgar Savisaar (* 1950) ab, der von der Parteigründung 1991 bis 2016 das Amt des Parteivorsitzenden innehatte.

Dem ehemaligen Parteivorsitzenden Savisaar, dem langjährigen Zugpferd der Partei, wurde von seinen Gegnern ein autoritärer Führungsstil vorgeworfen.

Einzelnachweise

  1. Elisabeth Bakke: Central and East European party systems since 1989. In: Sabrina P. Ramet: Central and East European party systems since 1989. Central and Southeast European Politics since 1989. Cambridge University Press, 2010, S. 79.
  2. a b Kai-Olaf Lang: Populismus in Ostmitteleuropa. Manifestationsformen, Besonderheiten und Chancenstrukturen. In: Rudolf von Thadden, Anna Hofmann: Populismus in Europa – Krise der Demokratie? Wallstein, Göttingen 2005, S. 137–154, auf S. 145.
  3. taz online vom 2. März 2019: Gute Prognosen für Rechtsextreme
  4. David Arter: From Farmyard to City Square? The Electoral Adaptation of the Nordic Agrarian Parties. Ashgate, 2001, S. 181.

Weblinks