Finanzvertrieb

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Ein Finanzvertrieb ist eine Vertriebsorganisation, die an ihre Kunden, vorwiegend Verbraucher, ein umfassendes Allfinanz-Angebot an Finanzprodukten wie Versicherungen, Vermögensanlagen und Finanzierungen vermittelt. Finanzvertriebe sind in der Regel zwar Ansprechpartner, nicht aber Vertragspartner der durch sie vermittelten Geschäfte. Auf Seiten der Vertriebsberater können oft Zielkonflikte bestehen, die für den Kunden erhebliche Risiken in sich bergen.

Geschichte der Finanzvertriebe

Die Branche der als „unabhängige Finanzvermittler“ auftretenden Vertriebsorganisationen entwickelte sich Anfang der 70er Jahre nach dem Konkurs des Finanzdienstleisters Investors Overseas Services (IOS). Ehemalige Spitzenmanager der IOS gründeten eigene Strukturvertriebe im Finanzbereich: Otto Witschier (OVB und EFS), Werner Kunkler (HMI), Erich Mende (Bonnfinanz), Reinfried Pohl (DVAG)[1] und Udo Keller (Tecis).1988 gründete der Ex-OVB-Landesdirektor Carsten Maschmeyer den AWD, einen weiteren Strukturvertrieb, welcher 2008 vom Schweizer Versicherer Swiss Life komplett übernommen und 2012 in Swiss Life Select umbenannt wurde. Die 1971 von Manfred Lautenschläger gegründete MLP AG spezialisierte sich auf die Zielgruppe Akademiker und ist nach eigenen Angaben nicht als Strukturvertrieb organisiert.[2]

Mit der Entwicklung des Internets entstanden ab 1995 auch auf bestimmte Produktsegmente spezialisierte Finanzvertriebe wie Interhyp (Immobilienfinanzierung), Impuls Finanzmanagement (private Krankenversicherungen) und Dr. Klein & Co. AG (Immobilien). Anders als viele bisher bestehende Anbieter handelt es sich bei diesen neuen Finanzvertrieben nicht um Strukturvertriebe.

Geschäftsprinzip

Finanzvertriebe vermitteln Vertragsabschlüsse zwischen Verbrauchern und Unternehmen der Finanzwirtschaft. Der Kunde zahlt kein Honorar für die Beratung an sich, sondern der Finanzvertrieb erhält Provisionen und/oder Courtagen für jedes vermittelte Geschäft. Die Provisionen und Courtagen sind in der Prämie des vermittelten Produktes bereits enthalten.

Die Kundengewinnung bei Finanzvertrieben ist wesentlich durch die Organisationsform und die Zielgruppe geprägt. Strukturvertriebe nutzen vorwiegend Kontakte im privaten Umfeld oder am Arbeitsplatz, wie DVAG oder OVB. MLP konzentriert seine Aktivitäten auf die Hochschulen. Neuere Finanzvertriebe erreichen ihre Kundenkontakte durch gezielte Werbung meist im Internet. Die meisten Finanzvertriebe binden ihr Vertriebspersonal in Form von selbständigen Handelsvertretern nach § 84 HGB an sich.

Bei Finanzvertrieben neuerer Art sind seit Mitte der 90er Jahre auch andere Strukturen als das Handelsvertretermodell vertreten. So handelt es sich bei dem Vertriebspersonal der Interhyp um sozialversicherungspflichtige Angestellte. Dr. Klein & Co. AG ist mit selbständigen Finanzmaklern nach § 93 HGB über einen Franchisevertrag mit dem Finanzvertrieb verbunden, wobei auch hier wie beim Handelsvertretermodell das unternehmerische Risiko beim Vermittler liegt.

Zielkonflikte

Der Verbraucher spart zwar eigenen Aufwand für eine eigene Bedürfnisanalyse und Marktrecherche bzw. alternativ anfallende Honorare für Finanzberater. Verbraucherschutzorganisationen werfen den Finanzvertrieben und ihren Handelsvertretern allerdings vor, Verbraucher systematisch nicht bedarfsgerecht, sondern lückenhaft zu beraten und zu übervorteilen. Kritisiert werden vor allem die als irreführend empfundene Selbstdarstellung als objektive Berater, geringe Ansprüche an die Ausbildung sowie der systembedingte Verkaufsdruck, unter dem Handelsvertreter in Strukturvertrieben und ähnlichen Organisationen stehen.[3]

Finanzvertriebe sind Absatzorganisationen, die der Finanzindustrie gegen Provision Privatverbraucher als Kunden zuführen. Den Verbrauchern gegenüber treten die Handelsvertreter als „Berater“ auf, da sie ihrem Selbstanspruch nach bei der Wahl optimaler Vertragspartner beraten („Vermögensberater“, „Finanzberater“). Kennzeichnend für Finanzvertriebe sind deren angebliche „Objektivität“ und „Unabhängigkeit“[4] von den letztlich zu vermittelnden Finanzfirmen. Dieser Selbstanspruch kollidiert jedoch mit dem wirtschaftlichen Eigeninteresse der Finanzvertriebe und ihrer Handelsvertreter sowie mit der gesetzlichen Loyalitätspflicht zu den vermittelten Unternehmen aus § 86 Abs. 1 HGB.

Die Vermittler und deren Finanzvertriebe stellen für ihre „Beratungsleistung“ dem Kunden kein Honorar in Rechnung, sondern erhalten Abschlussprovisionen von den vermittelten Unternehmen.[5] Diese Provisionen fallen oft unterschiedlich hoch aus, weshalb die Auswahl sachfremd beeinflusst wird. Darüber hinaus erhalten die Finanzvertriebe nicht selten im Rahmen von „Premiumpartnerschaften“ spezielle Zuwendungen (Superprovisionen, Marketingzuschüsse, Naturalprämien etc.). Seit dem 22. Mai 2007 sind die Vermittler außerdem verpflichtet, gemäß der EU-Vermittlerrichtlinie ihre Abschluss-Provisionen bei bestimmten Finanzdienstleistungsprodukten offenzulegen. Von Anfang Juli 2008 an sind die Anbieter von Lebensversicherungen dazu verpflichtet, in den Vertragsunterlagen die Summe des einbehaltenen Geldes als absoluten Betrag auszuweisen.[6]

Sachkundenachweis der Berater

Für die Vermittlung von Finanzprodukten war bis zum Inkrafttreten der Europäischen Vermittlerrichtlinie am 22. Mai 2007 keinerlei Fachqualifikation erforderlich. Für die Vermittlung von Versicherungsverträgen gilt danach: Sofern keine Patronatserklärung eines Versicherers gegeben wird, für den der Vermittler im Rahmen der Ausschließlichkeit tätig ist, muss seit dem 1. Januar 2009 jeder freie Vermittler eine Eintragung im Vermittlerregister vorweisen. Für die Registrierung im Vermittlerregister ist eine behördliche Genehmigung gemäß § 34d GewO erforderlich. Diese erhält der Vermittler jedoch nur durch den Nachweis einer Sachkundeprüfung, die seit 2008 von den örtlichen IHKs abgenommen wird.

Seit dem 1. Januar 2013 ist hinsichtlich anderer Finanzprodukte – wie etwa Kapitalanlagen – ebenfalls ein Sachkundenachweis erforderlich.

Siehe auch

Literatur

  • Till Freiberg: Die Abzocker. DVA Verlag, Stuttgart München. ISBN 3421056293
  • Freibrief zum Betrug. In: Der Spiegel. Nr. 32, 1994 (online8. August 1994).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Familienbande (Memento des Originals vom 25. Februar 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.brandeins.de
  2. Finanzdienstleister MLP: „Kein Strukturvertrieb“. Stiftung Warentest, 19. November 2005, abgerufen am 12. Dezember 2012.
  3. Verkäufer im Auftrag des Kunden: Versicherungs-Makler - Finanzmakler, Verbraucherschutzmagazin.
  4. Finanztest 3/1999.
  5. Drücker (Memento des Originals vom 28. Mai 2005 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bundderversicherten.de, Bund der Versicherten.
  6. Lebensversicherung unter Rechtfertigungsdruck, FAZ vom 16. Juni 2008.