Fleischmann-Sacher-Effekt

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Nach einem Straßenverkehrsunfall werden zur Klärung des Verschuldens meist schon an Ort und Stelle von Polizeibeamten Aussagen der Beteiligten und Zeugen aufgenommen. Bedarf es in strittigen Fällen eines Gerichtsverfahrens, müssen als Grundlage der Unfallrekonstruktion neben der Analyse von Spuren und Fahrzeugschäden vor allem auch die Beteiligten nach ihren Erinnerungen zum Unfallgeschehen befragt werden.

Zeugenaussage

Sowohl die menschliche Beobachtungsmöglichkeit als auch die Gedächtnisleistung sind durch psychologische Gegebenheiten eingeschränkt.[1] Der Inhalt einer Aussage kann ohne Kenntnis dieser Grenzen und ohne Berücksichtigung bestimmter regelmäßig auftretender „Fehlleistungen“ nicht richtig gewürdigt werden.[2]

Wahrnehmungspsychologische Interpretation Bremsbeginn

In den 1970er-Jahren fiel den Gerichtssachverständigen für Unfallrekonstruktion Otto Fleischmann und Fritz Sacher bei der Befragung von Fahrzeuglenkern in Gerichtsverfahren folgendes Phänomen auf: Im Fall einer Vollbremsung wird auf die routinemäßige Frage anhand von Planskizzen der Unfallstelle, in welcher Position die Gefahr (meist zweitbeteiligtes Fahrzeug) erkannt worden sei, regelmäßig eine objektiv „falsche“ Stelle angegeben. Und zwar die anhand von Bremsspuren – es gab noch kein ABS – objektiv nachweisbare Position des Bremsbeginns, d. h. die Position des Beginns der aktiven Abwehrhandlung.

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Bremsreaktion und Erinnerung: Die Vorbremsphase bleibt nicht in Erinnerung, weil sie unbewusst abläuft

Nach einer statistischen Auswertung des damals noch ungeklärten Phänomens fand Fritz Sacher in Zusammenarbeit mit dem Verkehrspsychologen Fritz Meyer-Gramcko die wahrnehmungspsychologische Erklärung.[3] In einer Notsituation laufen beim routinierten Lenker eines Fahrzeugs spontane Abwehrhandlungen (Bremsen, Auslenken) automatisiert, reflektorisch ab. Es kommt nicht zu Denkprozessen, die eine viel zu lange Zeitspanne in Anspruch nehmen würden. Die Bremsreaktion in der Gefahrensituation läuft demnach unbewusst ab und kann daher auch nicht in Erinnerung bleiben. Erst die aktive Abwehrhandlung, das Betätigen des Bremspedals, wird bewusst wahrgenommen und bleibt als Beginn der Reaktion in Erinnerung, obwohl die Gefahr „tatsächlich“ schon zu einem früheren Zeitpunkt erkannt worden war.

Dieses von den SV-Pionieren Fleischmann und Sacher entdeckte verkehrspsychologische Phänomen wird in Österreich als Fleischmann-Sacher-Effekt (-Phänomen)[4] bezeichnet.

Fehlschlüsse

Die Unkenntnis dieser wahrnehmungspsychologischen Tatsache kann zu krassen Fehlschlüssen bei der Rekonstruktion von Verkehrsunfällen führen und hat in der Unfallanalyse daher einen besonderen Stellenwert. Würde man die Aussagen ohne wahrnehmungspsychologische Interpretation „wörtlich“ nehmen, würde vermeintlich etwa eine Sekunde verspätet reagiert worden sein bzw. wäre die Aussage technisch nicht nachvollziehbar. Zu Unrecht würde man einem Verkehrsteilnehmer eine eventuell kausale Reaktionsverspätung vorwerfen.

Streifung während Kurvenfahrt

Den analogen Effekt beobachtet man bei der Fragestellung nach der Kollisionsstelle während eines Einbiegemanövers, einer (engen) Kurvenfahrt. In Erinnerung bleibt eine Kollision ausgangs der Kurve, wenn sie „in Wahrheit“ im Kurvenscheitel erfolgte, zeitmäßig eine Sekunde früher, was z. B. bei 20 km/h einer Strecke von 6 m entspricht.

Einzelnachweise

  1. F. Sacher: Unzureichende Informationsaufnahme als Unfallursache. Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik, 6, 1993, S. 155.
  2. B. Wielke: Zeugenaussagen problematisch, aber unverzichtbar. In: M. Rant (Hrsg.): Sachverständige in Österreich, Festschrift 2012 (PDF; 255 kB). ISBN 978-3-7073-2188-3, S. 445 ff.
  3. Fritz Meyer-Gramcko: Reaktionsanlass und Reaktion im Straßenverkehr. In: Der Sachverständige 1/1978.
  4. Fucik, Hartl, Schlosser, Wielke (Hrsg.): Handbuch des Verkehrsunfalls, Teil 2, 3. Auflage. Manz’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Wien 2019, ISBN 978-3-214-13814-1.