Frühkindlicher Autismus

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Klassifikation nach ICD-10
F84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
F84.0 Frühkindlicher Autismus
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Der frühkindliche Autismus (auch: Kanner-Autismus, Kanner-Syndrom oder infantiler Autismus) ist eine Form des Autismus. Sie beginnt nach der ICD-10 (Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation) vor dem dritten Lebensjahr und wird zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gerechnet. Diese Form tritt mit einer Häufigkeit von 1:1000 auf, wobei das Verhältnis von Jungen zu Mädchen 3:1 beträgt.[1]

Der frühkindliche Autismus wurde zuerst von Leo Kanner (daher Kanner-Autismus) beschrieben. Kanner diagnostizierte 1943 bei elf Kindern eine „autistische Störung des affektiven Kontakts“ (siehe Psychopathologie des Affekts), die später unter dem Namen „frühkindlicher Autismus“ bekannt wurde.

Symptome und Beschwerden

Der frühkindliche Autismus führt zu einer vielfältigen Art von Auffälligkeiten, besonders im Bereich der Entwicklung, des Sozialverhaltens, der Wahrnehmung und der Kommunikation. In manchen Fällen entwickeln sich die Kinder bereits in den ersten Lebensmonaten auffällig. In anderen Fällen verläuft die frühkindliche Entwicklung anfangs (scheinbar) normal, Auffälligkeiten werden teils erst im zweiten oder dritten Lebensjahr sichtbar. Weiterhin gibt es den Verlauf, dass es nach einer anfangs (scheinbar) normalen Entwicklung im zweiten oder dritten Lebensjahr zu einem Verlust der bereits erworbenen sozialen und kommunikativen Fähigkeiten kommt.

Fasst man die beiden international anerkannten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV zusammen, erkennt man folgende übereinstimmende Merkmale:

Zudem wird im ICD-10 als Merkmal noch „unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen, Selbstverletzungen“ aufgeführt.

Ein Merkmal des frühkindlichen Autismus ist u. a. die Abkapselung von den Mitmenschen. Die Zuwendung zur Primärperson, die für dieses Alter typisch ist, weist deutliche Störungen auf. Der Affekt ist indifferent, die emotionale Schwingungsfähigkeit herabgesetzt. Im direkten Kontakt ist ein verminderter Blickkontakt feststellbar.[2] Für manche autistische Menschen ist es kaum möglich, eine Beziehung zu Personen aufzubauen. Oft scheint es so, als zeigen sie mehr Freude bei der Beschäftigung mit Gegenständen als im persönlichen Kontakt zu Mitmenschen gleichen Alters. Andere zeigen Interesse am Sozialkontakt, leiden dann aber oft darunter, dass sie aufgrund ihrer Probleme im Sozialverhalten bei anderen Menschen anecken und ausgegrenzt werden.

Veränderungsangst: teils reagieren autistische Menschen mit Angst- und Panikzuständen, wenn sich etwas nur geringfügig im geregelten Tagesablauf verändert oder Erwartungen (z. B. der Platz, an dem die Möbel stehen) nicht erfüllt werden.

Kanner-Autisten haben meist starke Sprachauffälligkeiten. Ungefähr 30 % der Kanner-autistischen Menschen können sich nicht lautsprachlich äußern. Diejenigen, die sprechen können, haben oft Sprachauffälligkeiten (beispielsweise monotone Sprachmelodie; wortwörtliches Verständnis von Sprache). Im Allgemeinen sind Artikulation und Grammatik weniger betroffen, oft etwas stärker die Semantik und oft ganz stark der sachgerechte Gebrauch der Sprache, denn dieser bereitet oft am meisten Schwierigkeiten.

Bei Kindern fällt eine retardierte Sprachentwicklung auf. Typische Symptome sind Echolalien, Neologismen, Iterationen sowie pronominale Umkehr. Letzteres bedeutet, dass das Kind sich selbst mit "du" bezeichnet und den Kommunikationspartner mit "ich" anspricht.[2]

Um die Sinneswahrnehmungen zu schulen, kann Zeichnen bzw. Malen als therapeutisches Mittel eingesetzt werden. Zur unterstützenden Kommunikation kann Schreiben dienen. Ängste werden abgebaut, indem die Betroffenen auf dem Computer oder Rechner sich schriftlich ausdrücken lernen oder mit Tonbandaufnahmen und dem anschließenden Abspielen ihre Sprache trainieren.

Diagnosekriterien

Im DSM-IV wird der frühkindliche Autismus den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugeordnet und durch folgende diagnostische Kriterien beschrieben:

A. Es müssen insgesamt aus 1., 2. und 3. mindestens sechs Kriterien zutreffen, wobei mindestens zwei Punkte aus 1. und je ein Punkt aus 2. und 3. stammen müssen:

  1. qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion in mindestens zwei der folgenden Bereiche:
    • ausgeprägte Beeinträchtigung im Gebrauch einer Vielzahl nonverbaler Verhaltensweisen wie beispielsweise Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik zur Steuerung sozialer Interaktionen,
    • Unfähigkeit, entwicklungsgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen,
    • Mangel an spontanen Bestrebungen, Freude, Interessen oder Erfolge mit anderen zu teilen (beispielsweise durch einen Mangel, Objekte des Interesses herzuzeigen, herzubringen oder darauf hinzuweisen),
    • Mangel an sozialer oder emotionaler Gegenseitigkeit;
  2. qualitative Beeinträchtigungen der Kommunikation in mindestens einem der folgenden Bereiche:
    • verzögertes Einsetzen oder völliges Ausbleiben der Entwicklung gesprochener Sprache (ohne den Versuch, die Beeinträchtigung durch alternative Kommunikationsformen wie Gestik oder Mimik zu kompensieren),
    • bei Personen mit ausreichendem Sprachvermögen deutliche Beeinträchtigung der Fähigkeit, ein Gespräch zu beginnen oder fortzuführen,
    • stereotyper oder repetitiver Gebrauch der Sprache oder idiosynkratische Sprache,
    • Fehlen entwicklungsgemäßer variierter, spontaner Rollenspiele oder sozialer Imitationsspiele;
  3. beschränkte repetitive und stereotype Verhaltens-, Interessens- und Aktivitätsmuster in mindestens einem der folgenden Bereiche:
    • umfassende eingehende Beschäftigung innerhalb eines oder mehrerer stereotyper und begrenzter Interessenmuster, wobei entweder Schwerpunkt oder Intensität der Beschäftigung abnorm sind,
    • auffällig unflexibles Festhalten an bestimmten nichtfunktionalen Gewohnheiten oder Ritualen,
    • stereotype und repetitive motorische Manierismen (beispielsweise Verdrehen, Verbiegen der oder Flattern mit den Händen oder Fingern oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers),
    • beharrliche eingehende Beschäftigung mit Teilen von Objekten.

B. Verzögerungen oder abnorme Funktionsfähigkeit in mindestens einem der folgenden Bereiche mit Beginn vor dem dritten Lebensjahr:

  • soziale Interaktion,
  • Sprache als soziales Kommunikationsmittel oder
  • symbolisches oder Fantasiespiel.

C. Die Störung kann nicht besser durch das Rett- oder Heller-Syndrom erklärt werden.

Darüber hinaus nennt ICD-10 noch unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlafstörungen, Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen und selbstverletzendes Verhalten (Automutilation).

Ursachen

Es weist sehr vieles darauf hin, dass genetische Einflüsse eine Rolle spielen. Auch Hirnschädigungen, Hirnfunktionsstörungen, biochemische Besonderheiten, eine Störung kognitiver Prozesse, der Sprachentwicklung und emotionaler Prozesse werden mit der Entstehung des frühkindlichen Autismus in Verbindung gebracht.[3] Konsens herrscht jedoch weitgehend darüber, dass Autismus nicht – wie es noch in den 1960er Jahren angenommen wurde – durch mütterliches Fehlverhalten (siehe unter: Kühlschrankmutter) verursacht wird.

Folgen und Komplikationen

Der frühkindliche Autismus beeinträchtigt das Leben der betroffenen Menschen erheblich und erschwert die Möglichkeiten einer selbständigen Lebensführung. Für die betroffenen Menschen ist es aufgrund der Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten, einer veränderten Wahrnehmung und besonders aufgrund der dadurch bedingten Abkapselung von der Umwelt schwer, sich an die soziale Umgebung anzupassen, Freunde zu finden oder sich in den Rahmen einer Schule oder einer Familie zu fügen. Die Erziehung eines autistischen Kindes stellt die Eltern vor große Schwierigkeiten und ist häufig mit sehr viel Stress verbunden. Auch nur leicht autistische Menschen geraten in Gefahr, bei den Menschen in ihrer Umgebung anzuecken, weil sie etwa die sozialen Regeln nicht kennen oder sie nicht anwenden können. Viele Kanner-autistische Menschen sind auf intensive und lebenslange Betreuung angewiesen (siehe auch unter Autismus).

Belege

  1. Hans-Michael Straßburg, Winfried Dacheneder, Wolfram Kreß: Entwicklungsstörungen bei Kindern. 2. Auflage. Urban & Fischer, München/Jena 2003, ISBN 3-437-22221-X, S. 132 f.
  2. a b Stefan Brunnhuber, Klaus Lieb: Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik – Kurzlehrbuch. 4. Auflage. Urban & Fischer Verlag, München/Jena 2000, ISBN 3-437-42130-1, S. 234.
  3. Helmut Remschmidt: Autismus: Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfen. In: Beck'sche Reihe. 5. Auflage. Band 2147. C.H.Beck, 2012, ISBN 978-3-406-64347-7, S. 27 ff.

Literatur

  • Bruno J. Schor, Alfons Schweiggert: Autismus ein häufig verkanntes Problem. Auer, Donauwörth 1999, ISBN 3-403-03201-9.
  • Stefan Dzikowski: Ursachen des Autismus. 2. Auflage. Deutscher Studien-Verlag, Weinheim 1996, ISBN 3-89271-407-X.
  • Helmut Remscheidt: Autismus: Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfen. Beck, München 2000, ISBN 3-406-44747-3.
  • Franz Heider: Getrenntheit und innerer Raum im kindlichen Autismus. In: Kinderanalyse. Nr. 04, 2012 (klett-cotta.de [abgerufen am 30. September 2020]).

Weblinks