Friedliche Koexistenz

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Der Begriff friedliche Koexistenz (russisch мирное сосуществование mirnoje sosuschtschestwowanije) besagte, dass die Entscheidung zwischen Kapitalismus und Sozialismus im friedlichen Wettbewerb beider Systeme, also unter Ausschluss eines kriegerischen Konflikts, fallen solle.

Der Begriff wurde von sowjetischen Politikern geprägt und ging vor allem ab 1955 durch Reden Nikita Chruschtschows in den Wortschatz der sozialistischen Rhetorik ein. Mit dem Zerfall des Ostblocks infolge der Revolutionen im Jahr 1989 verlor er seine Bedeutung.

Der Begriff

Erstmals wurde der Begriff „friedliche Koexistenz“ am 10. April 1922 auf der Konferenz von Genua vom Leiter der sowjetischen Delegation, dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin, verwendet. „Auf dem Standpunkt der Grundsätze des Kommunismus beharrend“ erkannte Tschitscherin an, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten für den allgemeinen Wiederaufbau notwendig sei. Dazu biete die gegenwärtige geschichtliche Epoche „die Möglichkeit einer parallelen Koexistenz zwischen der alten und der entstehenden neuen Ordnung.“[1]

Politik Chruschtschows

Darauf aufbauend begründete der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow seinen neuen außenpolitischen Kurs, vor allem das angestrebte neue Verhältnis zu den USA. Er stellte hierzu wörtlich fest: „Der Leninsche Grundsatz von der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit verschiedenartiger sozialer Struktur war und bleibt Generallinie in der Außenpolitik unseres Landes“. Am 24. Februar 1956 billigte der XX. Parteitag der KPdSU diese neue außenpolitische Generallinie, wonach „auf der Grundlage des Leninschen Prinzips der friedlichen Koexistenz der Kurs gerichtet werden soll auf die Verbesserung der Beziehungen, die Festigung des Vertrauens und die Entwicklung der Zusammenarbeit mit allen Ländern“.

Solange das von der Sowjetunion angestrebte nukleare Rüstungsgleichgewicht zwischen Ost und West nicht erreicht war, verhielt sich die Sowjetunion außenpolitisch zurückhaltend und kooperativ. Kennzeichnend dafür waren die milde Deutschlandpolitik (bis 1953), die Verbesserung der sowjetisch-chinesischen Beziehungen, besonders im wirtschaftlichen und technologischen Sektor, und die teilweise Aussöhnung mit dem jugoslawischen Staatspräsidenten Josip Broz Tito.

Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kampf um den Sozialismus auf allen Sektoren, außer kriegerischen Auseinandersetzungen, aus marxistisch-leninistischer Sicht auch in Zeiten der friedlichen Koexistenz als historische Aufgabe und Pflicht angesehen wurde; die Sicherung und Ausbreitung des Sozialismus wurde in positivistischer Rhetorik als „Kampf für den Frieden“ verbrämt.

Auf dem XXII. Parteitag der KPdSU 1961 erläuterte Chruschtschow, friedliche Koexistenz sei „kein provisorischer labiler Waffenstillstand zwischen Kriegen“. Frieden und friedliche Koexistenz seien nicht identisch. Die Sowjetunion müsse demnach militärisch gerüstet sein, um den Frieden zu bewahren. Der Kern der friedlichen Koexistenz sei: „Es ist eine Koexistenz zweier entgegengesetzter Gesellschaftssysteme, die gegenseitig darauf verzichten, den Krieg als Mittel zur Lösung von Streitigkeiten zwischen den Staaten anzuwenden“. In der Prawda am 18. Oktober 1961 hieß es weiter dazu: „Das Prinzip der friedlichen Koexistenz umfasst nicht nur das Gebiet der Außenpolitik, sondern auch die Sphäre der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland. […] Wir sind überzeugt, dass die sozialistische Ordnung letzten Endes überall den Sieg davontragen wird.“

Entwicklung

Nach der Absetzung von Nikita Chruschtschow 1964 wurde weiterhin am Prinzip der friedlichen Koexistenz festgehalten. Der XXIII. Parteikongress der KPdSU 1966, der XXIV. 1971, der XXV. 1976 und der XXVI. 1981 haben jeweils die friedliche Koexistenz als Generallinie der sowjetischen Außenpolitik bestätigt.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. W. I. Lenin: Gesammelte Werke. 5. russische Auflage, Band 45, S. 63/64, Moskau 1965 und Biographie Lenins in 12 Bänden Wladimir Iljitsch Lenin, Biographische Chronik 1870-1924. russisch, Moskau 1982, Band 12, S. 252–246.