Gedankenexperiment

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Gedankenexperiment Schrödingers Katze: Quantenmechanische Beschreibung nennt zwei einander ausschließende Möglichkeiten mit ihren Wahrscheinlichkeiten.

Ein Gedankenexperiment (auch Gedankenversuch) ist ein gedankliches Hilfsmittel, um bestimmte Theorien zu untermauern, zu widerlegen, zu veranschaulichen oder weiterzudenken. Es wird dabei gedanklich eine Situation konstruiert, die real so nicht oder nur sehr schwer herzustellen ist (zum Beispiel eine Reise mit annähernd Lichtgeschwindigkeit). Sodann malt man sich im Geiste aus, welche Folgen sich aus dieser Situation ergeben, wenn man die Theorie auf die Situation anwendet. Ein Experiment wird also in Gedanken simuliert. Ein Gedankenexperiment ist jedoch kein Experiment im eigentlichen Sinne. Letzteres beleuchtet Theorien durch empirische Anschauung von außen, ein Gedankenexperiment ist jedoch innerhalb der Theorie gefangen, der empirische Aspekt fehlt.

Gedankenexperiment versus reales Experiment

Einige Gedankenexperimente, die zu der Zeit, als sie erdacht wurden, nicht realisierbar waren, sind später als reale Experimente ausführbar geworden. Zum Beispiel wurde empirisch nachgewiesen, dass Uhren abhängig von der relativen Geschwindigkeit, mit der sie bewegt werden, unterschiedlich schnell gehen.

Andere Gedankenexperimente haben sich später als prinzipiell nicht durchführbar herausgestellt. So ist beispielsweise heute bekannt, dass der Maxwellsche Dämon prinzipiell nicht funktionieren kann, hauptsächlich aus „quantenmechanischen Gründen“. Als dieses Gedankenexperiment erdacht wurde, war noch nichts über die Quantenmechanik bekannt. Komplexer sind die Zusammenhänge bei der Arbeit von Albert Einstein und Mitarbeitern über das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon (EPR).

Gedankenexperimente unterscheiden sich grundsätzlich von realen Experimenten und sind oft der theoretischen Physik zuzuordnen; aber auch in anderen Disziplinen, z. B. in der Philosophie, spielen sie eine wichtige Rolle. Hans Christian Ørsted führte als Erster den Begriff Gedankenexperiment als Beziehung zwischen mathematischer und physikalischer Erkenntnis bei Kant ein. Vor allem die von Albert Einstein gefundene spezielle Relativitätstheorie macht reichlich Gebrauch von Gedankenexperimenten. Einstein übernahm die Idee dazu von seinem zeitweiligen Lehrer Ernst Mach, auf dessen philosophisches Wirken die Bekanntheit dieses Begriffs zurückgeht.

Beliebt sind Gedankenexperimente besonders, um zu prüfen, ob eine Theorie zu paradoxen Situationen führt. So wird das bekannte Beispiel von Schrödingers Katze oft als Beleg dafür angegeben, dass die betroffene Theorie in wenigstens einer Hinsicht unvollständig ist (zum Beispiel, indem sie Verletzungen der quantenmechanischen Kohärenz nicht berücksichtigt).

Überprüfbarkeit

Gedankenexperimente gehören zur jeweiligen theoretischen Disziplin (z. B. Theoretische Physik), während reale Experimente der jeweiligen experimentellen Disziplin angehören. Der Unterschied scheint selbstverständlich zu sein, ist aber subtil, wie am Beispiel der berühmten Arbeit Albert Einsteins zum EPR-Effekt deutlich wird. In dieser Arbeit (1935) hat Einstein mit zwei Mitarbeitern nicht nur besagten Effekt aufgrund eines Gedankenexperiments vorgeschlagen (der Effekt konnte inzwischen realisiert werden), sondern vor allem auch aufgrund der ungewöhnlichen Eigenschaften des Effekts die Quantenmechanik als „unvernünftig und ergänzungsbedürftig“ zurückgewiesen.

Alle mathematischen Schlüsse dieser Arbeit waren korrekt, sodass Einstein damals kein logischer Irrtum nachgewiesen werden konnte, weder durch Gedankenexperimente noch durch reale Experimente. Erst 1964 gelang es dem theoretischen Physiker John Bell, zu zeigen (siehe Bellsche Ungleichung), dass die Gültigkeit der explizit angesprochenen philosophischen Grundlagen der EPR-Arbeit, die Annahme der sogenannten Realität und Lokalität einer physikalischen Theorie, experimentell überprüfbar ist, und zwar durch reale Experimente, nicht durch Gedankenexperimente. Solche realen Experimente wurden inzwischen mehrfach durchgeführt (z. B. durch Alain Aspect) und haben stets die erwähnten philosophischen Grundannahmen der Einstein’schen Arbeit falsifiziert; d. h., dass die Quantenmechanik sich in jedem Fall als nicht ergänzungsbedürftig erwiesen hat. (Zum Thema „Falsifikation einer Theorie“ siehe die Philosophie von Karl Popper.)

In diesem einen Fall hat sich also Einstein geirrt, aber gleichwohl mit dem erwähnten EPR-Effekt und der darauf aufbauenden Quantenkryptographie (siehe auch Quantenverschränkung) für die praktischen Anwendungen der von ihm so heftig bekämpften Quantenmechanik etwas ganz Wesentliches hinterlassen.

Bekannte Gedankenexperimente

Naturwissenschaften

Philosophie

Gedankenexperimente in der Philosophie haben meist ein wesentliches Merkmal, das sie von anderen illustrativen Mitteln unterscheidet: Sie gehen von kontrafaktischen Umständen aus. In einem solchen Gedankenexperiment wird gefragt, was wohl der Fall wäre, wenn die Dinge anders lägen als sie es tatsächlich tun. Der Grad der Kontrafaktizität kann verschieden hoch sein, aber im Grunde liegt immer eine hypothetische Situation vor. Die Form einer solchen Überlegung kann folgendermaßen dargestellt werden:

  • Wir gehen normalerweise davon aus und behaupten, dass der Satz S wahr ist.
  • In unserem Gedankenexperiment gehen wir jetzt aber davon aus, dass die Welt ganz anders (oder ein bisschen anders) funktioniert. Dann nehmen wir nicht mehr an, dass S wahr ist, sondern vielleicht ein anderer Satz F, der mit S unvereinbar ist.
  • Wir haben also keinen Anlass, S für absolut wahr zu halten, sondern sehen S als Resultat unserer bestimmten, (möglicherweise veränderbaren) Situation an.

Beispiele

Von Gedankenexperimenten aus der Philosophie zu unterscheiden sind Gleichnisse, die einen abstrakten Sachverhalt mit einer anschaulichen Situation verdeutlichen sollen. Bei dem Höhlengleichnis geht es Platon um die anschauliche Darstellung seiner Erkenntnistheorie; allerdings enthält das Gleichnis insofern auch Elemente eines Gedankenexperiments, als Platon weiterhin ausführt, wie es einer Person ergehen würde, die dem in der Höhle Gefesselten von der Außenwelt berichtet.[1]

Siehe auch

  • Gleichnis, die Sicht aus einer ungewohnten Perspektive ist eine Gemeinsamkeit mit dem Gedankenexperiment

Literatur

  • G. W. Bertram (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch. Stuttgart 2012.
  • D. H. M. Brooks: The Method of Thought Experiment. In: Metaphilosophy. Band 25, Nr. 1, S. 71–83.
  • S. Haggqvist: Thought Experiments in Philosophy. Stockholm 1996.
  • Albrecht Behmel: Gedankenexperimente in der Philosophie des Geistes. Stuttgart 2001.
  • Th. Macho, A. Wunschel (Hrsg.): Science & Fiction. Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt am Main 2004.
  • H. Engels: „Nehmen wir an…“. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht. Weinheim/Basel 2004.
  • U. Kühne: Die Methode des Gedankenexperiments. Frankfurt am Main 2005.
  • D. Cohnitz: Gedankenexperimente in der Philosophie. Paderborn 2006.
  • R. A. Sorensen: Thought Experiments. Oxford University Press, 1990.
  • J. G. Michel: Mit Gedankenexperimenten argumentieren. Eine Fallstudie in der Philosophie des Geistes. In: J. G. Michel, G. Münster (Hrsg.): Die Suche nach dem Geist. Münster 2013, S. 81–120.
  • Special Issue: Ernst Mach und das Gedankenexperiment um 1900. Eingeleitet von Bernhard Kleeberg. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte. Band 38, Nr. 1, März 2015 S. 1–101.

Weblinks

Commons: Thought experiments – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Gedankenexperiment – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: Gedankenspiel – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Ulrich Gähde: Gedankenexperimente in Erkenntnistheorie und Physik. In: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Rationality, realism, revision. Walter de Gruyter, Berlin 2000, ISBN 3-11-016393-4, S. 457.