Gendern
Gendern oder Gendering (von englisch gender „[soziales] Geschlecht“: etwa „Vergeschlechtlichung“) ist eine eingedeutschte Wortbildung aus dem englischen Sprachraum und bezeichnet im allgemeinen Sinne die Berücksichtigung oder Analyse des Geschlechter-Aspekts in Bezug auf eine Grundgesamtheit von Personen oder Daten, etwa in Wissenschaft, Statistik und Lehre. Beispielsweise werden statistische Daten unterschieden in Angaben zu Frauen und zu Männern (vergleiche Gender-Data-Gap). Im besonderen Sinne steht das Gendern im Deutschen für einen geschlechterbewussten Sprachgebrauch, der die Gleichbehandlung der Geschlechter in der schriftlichen und gesprochenen Sprache zum Ausdruck bringen will. Dabei wird unterschieden zwischen zweigeschlechtlichen, binären Formen und mehrgeschlechtlichen Kurzformen mit Genderzeichen, die neben männlichen und weiblichen auch nichtbinäre, diversgeschlechtliche Personen ansprechen und einbeziehen wollen. Allgemein werden neutrale Formen empfohlen, die ohne Geschlechtsbezug auskommen.
Gendern in der deutschen Sprache
In der Sprachwissenschaft (Linguistik) bezeichnet Gendern den Gebrauch geschlechtergerechter Formulierungen zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter im Deutschen. Gabriele Diewald und Anja Steinhauer definieren 2019: „Gendern ist, sehr allgemein gesprochen, ein sprachliches Verfahren, um Gleichberechtigung, d. h. die gleiche und faire Behandlung von Frauen und Männern im Sprachgebrauch, zu erreichen. Gendern bedeutet somit die Anwendung geschlechtergerechter Sprache.“[1] 2020 schreiben sie: „Wir verwenden den Ausdruck gendern gleichbedeutend mit ‚Sprache geschlechtergerecht gestalten‘.“[2] Dies betrifft im Wesentlichen Personenbezeichnungen (Substantive und Pronomen) und ihre geschlechtsspezifische oder genderneutrale Verwendung. Um generisch maskuline Bezeichnungsformen (Lehrer im Sinne von „Person, die unterrichtet“) wegen ihrer Mehrdeutigkeit zu vermeiden und auch nichtbinäre Personen sprachlich einzubeziehen, wurden ab den späten 1970er-Jahren zwei Vorgehensweisen entwickelt:
- Zur Sichtbarmachung der Geschlechter werden Bezeichnungsformen verwendet, die mit dem Geschlecht/Gender der referierten Personen (fachsprachlich: ihrem Sexus) übereinstimmen – dazu bieten sich zweigeschlechtliche und darüber hinausgehende Möglichkeiten:
- die vollständige Beidnennung (Paarform) bezeichnet Männer und Frauen: Lehrerinnen und Lehrer, ein Schüler oder eine Schülerin
- verkürzte Paarformen werden mit Schrägstrich geschrieben: Lehrer/Lehrerinnen oder abgekürzt Lehrer/-innen – außerhalb der amtlichen Rechtschreibregel wird stellenweise die Verkürzung Lehrer/innen oder das Binnen-I verwendet: LehrerInnen
- mehrgeschlechtliche Schreibweisen mit Genderzeichen werden seit 2003 und verstärkt seit der rechtlichen Einführung der dritten Geschlechtsoption „divers“ 2018 verwendet, sind aber nicht von den offiziellen Rechtschreibregeln abgedeckt: das Gendersternchen bei Lehrer*innen, der Gender-Doppelpunkt bei Lehrer:innen oder der Gender-Gap bei Lehrer_innen (siehe auch Liste deutschsprachiger Einrichtungen, die Genderzeichen nutzen oder erlauben)
- die vollständige Beidnennung (Paarform) bezeichnet Männer und Frauen: Lehrerinnen und Lehrer, ein Schüler oder eine Schülerin
- Zur Neutralisierung werden nur geschlechtlich unbestimmte Personenbezeichnungen und Formulierungen verwendet, die keinen Bezug erkennen lassen zum Geschlecht/Gender der gemeinten Personen:
- geschlechtsneutrale Benennung
- durch sexusindifferente Personenbezeichnungen (Lehrpersonen)
- durch substantivierte Partizipien oder Adjektive (Lehrende)
- durch Sachbezeichnungen (Lehrkräfte)
- geschlechtsneutrale Umformulierung
- durch Umformulierung mithilfe des Adjektivs (lehrend tätig sein)
- durch Bildung von Relativsätzen (alle, die unterrichten)
- durch Umschreibung mit dem Passiv (Es ist zu beachten)
- durch direkte Anrede (Ihre Unterschrift:)
- geschlechtsneutrale Benennung
Gendering in der Wissenschaft
In Geschichts- und Sozialwissenschaften wird Gendering oder Gendern verwendet, um auszudrücken, dass ein Thema unter einer geschlechterspezifischen Fragestellung und Perspektive untersucht und dargestellt wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Geschlecht in nahezu allen Lebensbereichen eine Rolle spiele und Herrschaftsverhältnisse geschlechtlich markiert seien; Geschlecht präge Denken, Vorstellungen, die soziale und politische Welt, und diese konstituierten das „soziale Geschlecht“ (Gender).
Beispielsweise zeichnete die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger die verschiedenen Gendering-Prozesse innerhalb der Naturwissenschaften um das Jahr 1800 nach. Sie zeigte, wie die zu dieser Zeit vorherrschenden Geschlechterbilder und -dichotomien das wissenschaftliche Denken geprägt haben.[3] Die Rechtshistorikerin und Soziologin Ute Gerhard und die Historikerin Joan Scott beschrieben die frauendiskriminierende Grundstruktur des Staatsbürgerkonzepts, wie es erstmals in der Französischen Revolution realisiert wurde, als male gendering („männliches Gendern“).[4]
Im Bereich von Forschung und Lehre wird die Begriffskopplung „Integratives Gendering“ verwendet, um die Integration von Genderaspekten auf allen hochschuldidaktischen Handlungsebenen und in allen hochschulischen Handlungsfeldern zu bezeichnen.[5] Es wird in diesen Zusammenhängen auf folgende Genderkategorien zurückgegriffen:[6]
- Gender Studies – Geschlechterforschung, beispielsweise Feministische Wissenschaftstheorien
- archäologische Geschlechterforschung – untersucht das Verständnis von Geschlecht und Geschlechterrollen prähistorischer und antiker Kulturen
- Gender-Data-Gap – Geschlechter-Datenlücke: fehlende oder unterrepräsentierte Datenerhebungen für ein bestimmtes Geschlecht
- Gendermedizin – geschlechtsspezifische Studien und Medikationen
- gendergerechte Didaktik – Gendermodule, etwa frauenspezifische Seminare
- Gender Accounting – systematische Sammlung und Aufbereitung von Daten zu Unterschieden zwischen Männern und Frauen in verschiedenen betriebs- und volkswirtschaftlichen Zusammenhängen
- Gender-Marketing – Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen unter geschlechtsbezogenen Aspekten
- Gender-HCI – Mensch-Computer-Interaktion: wie Menschen unterschiedlichen Geschlechts mit Computern interagieren
- Genderlinguistik – Teilgebiet der Sozio-Sprachwissenschaft
- Genderkompetenz – Schlüsselkompetenz in der beruflichen Bildung
- Diversität – sozialwissenschaftlich: Geschlechtervielfalt
Siehe auch
- Geschlechterwissen (gesamtes gesellschaftlich verfügbares Wissen über Geschlechterverhältnisse)
- Geschlechterordnung (soziale Dimension der gesellschaftlichen Zuordnung nach Geschlechtlichkeit)
- Feministische Linguistik (kritische Sprachwissenschaft)
Literatur
- 2020: Duden-Redaktion: Duden: Die deutsche Rechtschreibung. 28. Auflage. Dudenverlag, Berlin August 2020, ISBN 978-3-411-04018-6, S. 112–114: Geschlechtergerechter Sprachgebrauch (online auf duden.de).
- 2020: Gesellschaft für deutsche Sprache: Leitlinien der GfdS zu den Möglichkeiten des Genderings. In: Der Sprachdienst. Nr. 1–2, Mitte 2020 (online auf gfds.de).
- 2020: Gabriele Diewald, Anja Steinhauer: Handbuch geschlechtergerechte Sprache: Wie Sie angemessen und verständlich gendern. Herausgegeben von der Duden-Redaktion. Dudenverlag, Berlin April 2020, ISBN 978-3-411-74517-3 (Leseprobe beim Verlag).
- 2018: Anne Wizorek, Hannah Lühmann: Gendern?! Gleichberechtigung in der Sprache – Ein Für und Wider. Herausgegeben von der Duden-Redaktion. Dudenverlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-411-75619-3 (Leseprobe beim Verlag).
- 2017: Gabriele Diewald, Anja Steinhauer: Richtig gendern: Wie Sie angemessen und verständlich schreiben. Herausgegeben von der Duden-Redaktion. Dudenverlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-411-74357-5 (Leseprobe beim Verlag; Leseprobe in der Google-Buchsuche).
Weblinks
Portale:
- Genderleicht.de: Aktuelles – Neuigkeiten rund ums Thema Gendern (gefördert vom deutschen Frauenministerium).
- Johanna Usinger: Geschickt gendern – das Genderwörterbuch (mit umfangreicher Wort-Sammlung).
- Torsten Siever: Genderator: Genderwörterbuch (10.000 Stichwörter; Internetlinguist).
- Gender app: Geschlechtergerechte Sprache (Genderwörterbuch, unterstützt vom Kanton Basel-Stadt).
- Scribbr.de: Richtig gendern auf einen Blick (ausführliche Anleitungen des Korrekturservices).
- Gesellschaft für deutsche Sprache: Klarstellung: Ja zum Gendern! (Schwerpunkt „Geschlechtergerechte Sprache“).
- Universität Leipzig, Open Digital Gender Studies (ODGS): Gender Glossar (kostenfreies transdisziplinäres Online-Nachschlagewerk).
- Freie Universität Berlin: Toolbox Gender und Diversity in der Lehre (praktische Hinweise und Anregungen zur Hochschullehre).
Artikel, Debatten:
- Galileo: Gendern: Vorteile, Nachteile und wie man richtig gendert. In: Galileo.tv. 29. Juli 2022 (mit Video: 3:31 Minuten).
- Philip Wegmann: Faktencheck – Gendern: Sinnvoll oder Quatsch? In: SWR3. 19. Oktober 2021.
- Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Gendern, Ein Pro und Contra: Was für die gendergerechte Sprache spricht – und was dagegen. In: LpB-BW.de. Stand: Februar 2022.
- Anne Wizorek: Vom Gender-Kampfplatz zum Sprachspielraum. Bundeszentrale für politische Bildung, 28. Januar 2022 (Teil eines bpb-Dossiers).
- Video von Hessen schafft Wissen: GENDER(n) – Wahn oder Sinn? Auf YouTube. 19. Oktober 2021 (116:25 Minuten; Debatte; Infoseite).
- Video von Leschs Kosmos, ZDF: Gendern – Wahn oder Wissenschaft? In: ZDF.de. 5. Oktober 2021 (29:42 Minuten; YouTube-Version).
- Marcus Werner: Das kleine Gender-Vokabelheft für den sanften Einstieg. In: WirtschaftsWoche. 22. September 2021.
- Inga Barthels, Benedikt Brandhofer u. a.: Der Genderwahn der AfD. In: Der Tagesspiegel. 17. September 2021 (Studie von Social-Media-Posts von Bundestagsabgeordneten 2018–2021; ggf. Werbeblocker ausschalten, um die interaktiven Grafiken zu sehen).
- Geo-Redaktion: Pro- und Contra-Liste: Was spricht FÜR und GEGEN das Gendern? In: Geo.de. 23. August 2021.
- Gabriele Diewald: Gastkommentar: Kein Mensch „muss“ gendern. In: NZZ.ch. 7. August 2021.
- Philipp Luther: Gendern – Geschlechtergerechte Sprache: Was ist das überhaupt? In: Berliner Morgenpost. 2. Juni 2021.
- Lara Schwenner: Was bringt Gendern wirklich? In: WDR-Quarks. 27. März 2021 (YouTube-Video: 12:15 Minuten).
- Johannes Bruggaier: „Er, der Dicke, ist“: Was können wir von den Sprachen der Naturvölker lernen? In: Südkurier.de. 1. Dezember 2020 („Vom Sprechen mit ‚Genderlect‘ und fünf Geschlechtern“).
Einzelnachweise
- ↑ Gabriele Diewald, Anja Steinhauer: Duden: Gendern – ganz einfach! Herausgegeben von der Duden-Redaktion. Dudenverlag, Berlin März 2019, ISBN 978-3-411-74335-3, S. 7 (Seitenvorschau).
- ↑ Gabriele Diewald, Anja Steinhauer: Handbuch geschlechtergerechte Sprache: Wie Sie angemessen und verständlich gendern. Herausgegeben von der Duden-Redaktion. Dudenverlag, Berlin April 2020, ISBN 978-3-411-74517-3, S. 8 (Seitenvorschau).
- ↑ Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechtergeschichte. Campus, Frankfurt/M. 2010, ISBN 978-3-593-39183-0, S. 45.
- ↑ Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechtergeschichte. Campus, Frankfurt/M. 2010, ISBN 978-3-593-39183-0, S. 140.
- ↑ Bettina Jansen-Schulz, Kathrin van Riesen: Integratives Gendering und Gender-Diversity-Kompetenz: Anforderungen an eine innovative Hochschullehre. In: Sven Ernstson, Christine Meyer (Hrsg.): Praxis geschlechtersensibler und interkultureller Bildung. Springer VS, Wiesbaden 2013, ISBN 978-3-531-19798-2, S. 217–237.
- ↑ Bettina Jansen-Schulz: Integratives Gendering in der Lehre. In: Soziale Technik. Band 3, 2006, S. 19–21 (Zusammenfassung).