Genetischer Unterricht

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In der Didaktik bezeichnet genetisch-sokratisch-exemplarischer Unterricht eine Methode für den Aufbau von Unterrichtsreihen.

Das genetische Prinzip (nicht zu verwechseln mit der genetischen Epistemologie von Jean Piaget) ist von besonderer Bedeutung in der Fachdidaktik der Mathematik und der Naturwissenschaften.

Bedeutende Proponenten des genetischen Prinzips waren Felix Klein, Martin Wagenschein und Jerome Bruner.

Das genetische Prinzip bei Wagenschein

Martin Wagenschein kritisiert den bestehenden (mathematischen und naturwissenschaftlichen) Unterricht in der Schule. Anstatt sich an lebenden Problemen abzuarbeiten orientiere sich dieser an der starren Systematik der Fachwissenschaft, anstelle ernsthafter Bildung finde oberflächliches Vorratslernen statt.

Dagegen setzt Wagenschein das genetische Prinzip:

„Pädagogik hat mit dem Werdenden zu tun: mit dem werdenden Menschen und – im Unterricht, als Didaktik – mit dem Werden des Wissens in ihm.[1]

Pädagogisches Ziel ist eine allgemeine Bildung, bei Wagenschein „Formatio“ genannt, für die drei notwendige Tugenden genannt werden:

  1. Produktive Findigkeit (angelehnt an Max Wertheimer), d. h. angesichts unerwarteter Aufgaben klärende Einfälle zu haben,
  2. Enracinement (angelehnt an Simone Weil), d. h. die intellektuelle Einwurzelung in der Umwelterfahrung, sowie
  3. Kritisches Vermögen, sowohl sich selbst als auch der Sache gegenüber.

Um das im Unterricht zu erreichen, bedarf es zweierlei. Erstens herausfordernder, aufschließender Probleme, d. h. (innerlich) bewegender und (fachlich) weittragender Fragen, die sich aus der Sache bzw. aus der Natur heraus erheben und zum Denken auffordern. Zweitens bedarf es der Geduld und Muße, bis ein Thema zündet und „von der Sache ausgehend, nicht vom Lehrer, ein Sog [entsteht], der gewisse Teile des ‚Lehrstoffes’ ansaugt[2]“.

Das hat erhebliche Konsequenzen für Unterrichtsform und -inhalte. Der durch die Kurzstunde bestimmte Unterrichtstakt muss durch Epochenunterricht ergänzt werden. Die (laut Wagenschein) übliche darlegende, dozierende Form des Unterrichts muss durch das sokratische Gespräch (angelehnt an Leonard Nelson) ersetzt werden. Schließlich darf die Auswahl des Lehrstoffes nicht mehr fachsystematisch erfolgen, sondern muss exemplarisch sein.

„Das Einzelne, in das man sich hier versenkt, ist nicht Stufe, es ist Spiegel des Ganzen.[3]

Genetisch – sokratisch – exemplarisch: Diese Dreiheit ist Wagenscheins Credo für einen bildenden Unterricht.

Kritik

Die Hauptkritik arbeitet sich an den für die genetische Methode zentralen Initialproblemen ab. Erstens gebe es nicht hinreichend viele Probleme, die sich aus der primären Wirklichkeit erheben und fachinhaltlich und -methodisch genügend reichhaltig seien. Zweitens sei die Frage, ob ein Thema als zündend erlebt werde, stark vom jeweiligen Erfahrungshintergrund der Schüler abhängig. Wagenschein sei inhaltlich wie auch mit seinem pädagogischen Ideal der Muße zur Bildung zu stark auf eine bildungsbürgerliche Klientel fixiert.[4]

Literatur

Allgemein:
Primär:

  • Martin Wagenschein (1968): Verstehen lehren: genetisch – sokratisch – exemplarisch. (= Pädagogische Bibliothek Beltz; Bd. 1) 11. Aufl., Beltz Verlag, Weinheim 1997, ISBN 3-407-29001-2.

Sekundär:

  • Helmut Heiland: Genetischer Unterricht bei Wagenschein und Fröbel – ein aktuelles Thema der Didaktik. In: Anne Schlüter (Hrsg.): Aktuelles und Querliegendes zur Didaktik und Curriculumentwicklung: Festschrift für Werner Habel. Janus-Presse, Bielefeld 2003, ISBN 3-922607-95-0, S. 76–95.
  • Susanne Brülls (2004): Unterrichtsvorbereitung nach Wagenschein. In: Astrid Kaiser, Detlef Pech: Unterrichtsplanung und Methoden. (= Basiswissen Sachunterricht; Bd. 5) 6., unveränd. Aufl., Schneider-Verl. Hohengehren, Baltmannsweiler 2018, ISBN 978-3-8340-0391-1, S. 62–69.
  • Marc Müller, Svantje Schumann (Hrsg.): Wagenscheins Pädagogik neu reflektiert: mit Martin Wagenschein Bildungserfahrungen verstehen und unterstützen. (Gespräche zum Sachunterricht; Bd. 2) Waxmann Verl., Münster usw. 2022, ISBN 978-3-8309-4503-1.

Konkretisierung in der Mathematikdidaktik:

  • Lutz Führer: Pädagogik des Mathematikunterrichts. Eine Einführung in die Fachdidaktik für Sekundarstufen. Vieweg Verl., Braunschweig 1997, ISBN 3-528-06911-2.
  • Gerd Schubring: Das genetische Prinzip in der Mathematikdidaktik. Klett-Cotta, Stuttgart 1978.
  • Dieter Volk: Didaktik und Mathematikunterricht. Didaktische Modelle und ihre Konkretisierung durch Unterrichtsentwürfe. Beltz Verl., Weinheim 1980.

Einzelnachweise

  1. Martin Wagenschein (1965): Zum Problem des genetischen Lehrens. In: Ders.: Verstehen lehren. Beltz Verl., Weinheim 1997, S. 55.
  2. Martin Wagenschein (1965): Zum Problem des genetischen Lehrens. In: Ders.: Verstehen lehren. Beltz Verl., Weinheim 1997, S. 62.
  3. Martin Wagenschein (1956): Zum Begriff des exemplarischen Lehrens. In: Ders.: Verstehen lehren. Beltz Verl., Weinheim 1997, S. 12.
  4. vgl. Dieter Volk: Martin Wagenschein: Genetischer Unterricht. In: Ders. (Hg.): Didaktik und Mathematikunterricht. Beltz Verl., Weinheim 1980, S. 61–74.