Georg Ratzinger (Politiker)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Georg Ratzinger, zeitgenössischer Stich

Georg Ratzinger (Pseudonyme: Robert Waldhausen, Gottfried Wolf, * 3. April 1844 in Rickering bei Deggendorf; † 3. Dezember 1899 in München) war ein deutscher römisch-katholischer Geistlicher, Sozialreformer, Publizist und Politiker der Bayerischen Patriotenpartei bzw. des Bayerischen Bauernbundes.

Leben

Ratzinger besuchte von 1855 bis 1863 das Gymnasium in Passau (das heutige Gymnasium Leopoldinum), studierte in München von 1863 bis 1867 katholische Theologie und wurde 1867 zum Priester geweiht. 1868 erlangte er in München den Doktortitel der Theologie mit einer Arbeit über die „Geschichte der kirchlichen Armenpflege“, die als Bearbeitung einer Preisfrage ausgezeichnet wurde.

Der Sozialkritiker Georg Ratzinger war – nach einer kurzen Tätigkeit für seinen akademischen Lehrer Ignaz von Döllinger – neben seiner seelsorgerlichen Tätigkeit als Pfarrgeistlicher auch als Publizist und Politiker tätig. So war er von 1869 bis 1870 Kooperator in Berchtesgaden, von 1870 bis 1871 in Würzburg Redakteur der Zeitschrift „Fränkisches Volksblatt“, dann wieder von 1872 bis 1874 Kaplan in Landshut, anschließend bis 1876 in München Redakteur der Zeitschrift „Volksfreund“, 1883 bis 1884 Hofkaplan des Herzogs Carl Theodor in Tegernsee, von 1884 bis 1888 Geistlicher in Günzelhofen, dann in Helfenberg bei Mühldorf. Er wandte sich immer mehr seiner Tätigkeit als publizierender Wissenschaftler zu, nach Aufgabe des Pfarrdienstes auch kurze Zeit in Wien, dann in München.

Für die Bayerische Patriotenpartei war er von 1875 bis 1877 Mitglied der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages für den Wahlkreis Tölz, 1877 bis 1878 Mitglied des Reichstages für den Wahlkreis Rosenheim. 1893 und 1899 wurde er für den Wahlkreis Regen zum Mitglied der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtags gewählt, zunächst als unabhängiger Abgeordneter, dann als Mitglied des Bayerischen Bauernbundes, ab 1894 wieder als unabhängiger Abgeordneter. Als solcher war er auch von 1898 bis zu seinem Tod wieder Mitglied des Reichstages für den Wahlkreis Deggendorf.

Er selbst bezeichnete sich als „Reichsfeind“ und „klerikal-sozial“. Das militaristische Großmachtstreben Preußens lehnte er ab. Er war der Auffassung, dass Militarismus hauptsächlich auf den Schultern der steuerzahlenden Arbeiter und Bauern lastete und dem Monopolstreben des Großkapitals diene. Vorausschauend erkannte er bereits 1895, dass die militaristischen Tendenzen in einen Weltkrieg münden werden. Eine Abwendung dieses Schicksals erwartete er sich nur aus der Umgestaltung des Staates nach den Prinzipien der katholischen Soziallehre.

Eine seiner wichtigsten Schriften war eine Studie mit dem Titel Die Volkswirthschaft in ihren sittlichen Grundlagen. Ethisch-sociale Studien über Cultur und Civilisation. Um die Gewinne des Zwischenhandels zu vermeiden, setzte er sich für die „Teilhaberschaft“ von „Arbeit und Kapital“ ein und forderte dafür genossenschaftliche Organisationen in Handwerk und Landwirtschaft.

Georg Ratzinger werden aber auch die beiden nachfolgend genannten pseudonym veröffentlichten antisemitischen Schriften zugeschrieben. Zwar kann Ratzingers Identität mit deren beiden Verfasserpseudonymen nicht anhand schriftlicher Zeugnisse belegt werden, jedoch gilt sie in der Forschung auf Grund von Indizien als gesichert und wird nicht in Frage gestellt.[1] Unter dem Pseudonym „Dr. Robert Waldhausen“ erschien 1892 das Buch Jüdisches Erwerbsleben. Skizzen aus dem sozialen Leben der Gegenwart,[2] in dessen Einleitung es z. B. heißt: „Die Emanzipation der Juden […] konnte nicht anders, als zerstörend und zersetzend auf die ganze christliche Gesellschaft wirken.“[3] Und 1897 wurde unter dem Pseudonym „Dr. Gottfried Wolf“ ein antisemitisches Pamphlet mit dem Titel Das Judentum in Bayern. Skizzen aus der Vergangenheit und Vorschläge für die Zukunft[4] publiziert. Auch in anderen, nicht pseudonym veröffentlichten Schriften Ratzingers, z. B. in Die Volkswirthschaft in ihren sittlichen Grundlagen, und in seinen Parlamentsreden lassen sich antisemitische Äußerungen und Tendenzen finden.[5]

Ratzinger verstarb am 3. Dezember 1899 im Münchner Krankenhaus rechts der Isar nach wiederholten Operationen an einem Magenleiden.

Georg Ratzinger war ein Großonkel des emeritierten Papstes Benedikt XVI. und dessen älteren Bruders, des römisch-katholischen Priesters und Kirchenmusikers Georg Ratzinger.

Literatur

  • Johann Kirchinger und Ernst Schütz (Hg.): Georg Ratzinger (1844–1899). Ein Leben zwischen Politik, Geschichte und Seelsorge. Schnell & Steiner, Regensburg 2008, ISBN 978-3795420154 (Inhaltsverzeichnis als PDF-Datei)
  • Felix Dirsch: Solidarismus und Sozialethik. Ansätze zur Neuinterpretation einer modernen Strömung der katholischen Sozialphilosophie (= Schriften des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Band 55), Lit, Berlin 2006, ISBN 978-3825896614
  • Karl Otmar von Aretin: Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II. Klett-Cotta, Stuttgart 2003, ISBN 978-3608942866
  • Olaf Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Band 122). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, ISBN 3525357850 (Zu Georg Ratzingers Antisemitismus u. a. ebd. S. 74, 139f., 157 und 270, zu den Pseudonymen: Waldhausen ebd. S. 108, Wolf ebd. S. 163)
  • Siegfried Brewka: Zentrum und Sozialdemokratie in der bayerischen Kammer der Abgeordneten 1893–1914 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Band 742), Peter Lang, Frankfurt/Main 1997.
  • Anton Hochberger: Dr. Georg Ratzinger. Priester, Sozialtheoretiker und Politiker (1844–1899). In: Winfried Becker/Werner Chrobak (Hrsg.): Staat, Kultur, Politik. Beiträge zur Geschichte Bayerns und des Katholizismus. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dieter Albrecht. Laßleben, Kallmünz/Opf. 1992, S. 249–256.
  • Anton Hochberger: Der bayerische Bauernbund 1893–1914 (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Band 99), Beck, München 1991.
  • Dieter Albrecht (Hrsg.): Die Protokolle der Landtagsfraktion der bayerischen Zentrumspartei 1893–1914. Band 1: 1893–1899 (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Band 91), München 1989.
  • Rudolf Lill: Die deutschen Katholiken und die Juden in der Zeit von 1850 bis zur Machtübernahme Hitlers. In: Karl Heinrich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch (Hg.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Band 2. dtv, München 1988, ISBN 3423044780, S. 370–420 (Zu Georg Ratzingers Antisemitismus ebd. S. 389.)
  • Hannes Ludyga: Katholischer Antisemitismus und Kritik an der modernen Gesellschaft. Georg Ratzingers Einstellung zu Juden und Judentum. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Heft 10, 2012, S. 793–812.
  • Alois Hundhammer: Geschichte des Bayerischen Bauernbundes. München 1924.
  • Ludwig Julius Fränkel: Ratzinger, J. Georg. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 53, Duncker & Humblot, Leipzig 1907, S. 215–218.
  • Manfred Hörner: Ratzinger, Georg. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 7, Bautz, Herzberg 1994, ISBN 3-88309-048-4, Sp. 1395–1397.

Weblinks

Commons: Georg Ratzinger – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen

  1. Als erster und bis heute unwidersprochen hat bereits 1907 Ludwig Fränkel in seinem unter Literatur angegebenen Ratzinger-Artikel in der ADB die Identität Ratzingers mit Waldhausen und Wolf behauptet. Indizienbeweise dafür liefern: Michael Langer: Zwischen Vorurteil und Aggression. Zum Judenbild in der deutschsprachigen katholischen Volksbildung des 19. Jahrhunderts. Herder, Freiburg/Breisgau 1994, S. 402. Anm. 276. sowie insbesondere: Manfred Eder: „Ich habe gar keine Abneigung gegen die Juden als solche“. Georg Ratzingers Haltung zum Judentum. In: Johann Kirchinger und Ernst Schütz (Hg.): Georg Ratzinger (1844–1899). Ein Leben zwischen Politik, Geschichte und Seelsorge. Schnell & Steiner, Regensburg 2008, S. 221–289. S. 221f., Anmerkung 5, und S. 254, Anmerkung 177. Vgl. zu Ratzingers Antisemitismus insgesamt: Rudolf Lill: Die deutschen Katholiken und die Juden in der Zeit von 1850 bis zur Machtübernahme Hitlers. In: Karl Heinrich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch (Hg.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Band 2, dtv, München 1988 (= dtv/Klett-Cotta. Band 4478.) S. 370–420. S. 389. Olaf Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Band 122). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, S. 74, 139f., 157 und 270. Ausführlich und grundlegend vor allem aber Eders o. a. Aufsatz.
  2. Vgl. dazu: Manfred Eder: „Ich habe gar keine Abneigung gegen die Juden als solche“. Georg Ratzingers Haltung zum Judentum. In: Johann Kirchinger und Ernst Schütz (Hrsg.): Georg Ratzinger (1844–1899). Ein Leben zwischen Politik, Geschichte und Seelsorge. Schnell & Steiner, Regensburg 2008, S. 230–252.
  3. Robert Waldhausen: Jüdisches Erwerbsleben. Skizzen aus dem sozialen Leben der Gegenwart. Abt, Passau 1892, S. 2. Hinweis auf Download des Buches unter Weblinks.
  4. Siehe den Hinweis auf die digitalisierte Fassung des Buches unter Weblinks. Vgl. dazu: Manfred Eder: „Ich habe gar keine Abneigung gegen die Juden als solche“. Georg Ratzingers Haltung zum Judentum. In: Johann Kirchinger und Ernst Schütz (Hg.): Georg Ratzinger (1844–1899). Ein Leben zwischen Politik, Geschichte und Seelsorge. Schnell & Steiner, Regensburg 2008, S. 256–265.
  5. Vgl. Manfred Eder: „Ich habe gar keine Abneigung gegen die Juden als solche“. Georg Ratzingers Haltung zum Judentum. In: Johann Kirchinger und Ernst Schütz (Hg.): Georg Ratzinger (1844–1899). Ein Leben zwischen Politik, Geschichte und Seelsorge. Schnell & Steiner, Regensburg 2008, 252–256 bzw. 266–277.