Gerechtigkeitsspirale
Die Gerechtigkeitsspirale oder Spirale der Gerechtigkeit ist eine dekorative Textanordnung in Form einer Spirale auf einer Brüstungsplatte des Laiengestühls in der Pfarrkirche St. Valentinus in Kiedrich. Das Gestühl wurde 1510 von Erhart Falckener, einem Meister der Schreinerei und der Flachschnitttechnik, im spätgotischen Stil geschaffen und ist über die Jahrhunderte – ein sehr seltener Fall – vollständig erhalten geblieben. Die Spirale ist links von Akanthus- und rechts von Distelranken umgeben. Das Rankenwerk des Flachschnitts ist stilisiert und zeigt über dem letzten Buchstaben des Wortes VERLORN eine Drolerie in Form eines menschlichen Gesichts im Profil. Der Text der Schriftspirale, die eine variierende Buchstabenhöhe von 4 bis 6 cm hat und von innen nach außen zu lesen ist, lautet:
- DIE GERECHTIKEIT LIT IN GROSER NOT
- DIE WARHEIT IST GESCHLAGEN DOT
- DER GLAVBEN HAT DEN STRIT VER LORN
- DIE FALSCHEIT DIE IST HOCH GEBORN
- DAS DVT GOT DEM HERN ZORN
- O MENSCH LAS AB
- DAS DV NIT WERDES EWIGLICH VERLORN
- LOBT GERECHTIKEIT
Analyse
Im Gegensatz zu den sonstigen konventionellen Themen der dekorativen Textbänder und Inschriften Falckeners kann dieser Text als Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und religiöser Redlichkeit in der Zeit der Reformation und im Vorfeld des Bauernkrieges von 1525 verstanden werden. Inhaltlich geht der Text auf die Psychomachia, den Kampf der Tugenden und Laster, von Prudentius zurück. Dieses alte Thema fand im 15. und 16. Jahrhundert in einer einfachen deutschen Formulierung als Reformation Kaiser Sigismunds weite Verbreitung, vor allem in einer gedruckten Fassung von 1476. Der Auftraggeber für das Laiengestühl und damit wahrscheinlich auch für die Gerechtigkeitsspirale war der damalige Kiedricher Pfarrer Zweifuss, der sich auch lateinisch Bipes nannte.
Literatur
- Werner Kremer, 500 Jahre Laiengestühl 1510 – 2010 in der St. Valentinuskirche Kiedrich im Rheingau geschaffen von Erhart Falckener (Dokumentation), Selbstverlag: Förderkreis Kiedricher Geschichts- und Kulturzeugen e.V., Kiedrich im Rheingau 2010
- W. Kremer, Falckener Erhart in Kiedricher Persönlichkeiten aus sieben Jahrhunderten (S. 45–49), Selbstverlag Förderkreis Kiedricher Geschichts- und Kulturzeugen e.V., Kiedrich im Rheingau 2008
- J. Staab, Die Spirale der Gerechtigkeit von Erhart Falckener und ihre Bedeutung in der Zeit der Reformation und des Bauernkrieges, Rheingau Forum, Heft 4/1998 (ISSN 0942-4474), S. 10–15
- H. Sobel, Die Kirchenmöbel Erhart Falckeners und seiner Werkstatt mit besonderer Berücksichtigung der Flachschnitzerei, Selbstverlag der Gesellschaft für Mittelrheinische Kirchengeschichte, Mainz 1980 (Dissertation)
Weblinks
- Heinrich Koller, Reformation Kaiser Sigismunds, MGH Staatsschriften 6, Stuttgart 1964 (Monumenta Germaniae Historica digital der Bayerischen Staatsbibliothek dmgh)