Graphemik
Unter Graphemik (auch: Graphematik, andere Schreibweisen: Grafemik, Grafematik) versteht man nach Hadumod Bußmann[1] die Untersuchung der Schriftsysteme natürlicher und konstruierter Sprachen.
Gegenstand
Die linguistische Teildisziplin untersucht die Regularitäten, die den geschriebenen Äußerungen einer Sprache (Texte) innewohnen, und in welchem Verhältnis diese Regularitäten zur Entwicklung und Fixierung einer Schriftnorm (Orthographie) stehen.
Untersucht werden die Einheiten eines bestimmten Schriftsystems zum einen hinsichtlich ihrer bedeutungsunterscheidenden Funktion (Ermittlung des Grapheminventars und der morphologischen und syntaktischen Funktion der Grapheme, vgl. u.) und zum anderen hinsichtlich ihrer Beziehungen zur lautlichen Struktur der Sprache (z. B. Phonem-Graphem-Korrespondenzen).
Graphemische (z. B. graphotaktische) Untersuchungen dienen in der Praxis vor allem einer Fundierung geltender orthographischer Normen (beispielsweise in Bezug auf die pädagogische Vermittlung der Schriftsprache), der Decodierung historischer Texte sowie der Umsetzung von Schriftsystemen in verarbeitungsgerechte Systeme innerhalb der Computerlinguistik.
Die einzelnen Elemente in der schriftlichen Umsetzung von Sprache werden (in Analogie zu Phonem und Phon in der Phonologie) Graphem genannt. Unter den Begriff Graphem fallen im Deutschen die 30 Buchstaben einschließlich der deutschen Sonderzeichen (Umlautbuchstaben und „ß“: a–zäöüß, unter Umständen auch é; die Großbuchstaben können dagegen als Allographe dieser Grapheme gelten, siehe unten) sowie die Ziffern und nach manchen Ansätzen auch die Interpunktionszeichen.
Ein Graph ist die kleinste schriftlich realisierte (materielle) Einheit, ein Graphem dagegen die kleinste funktionale beziehungsweise distinktive Einheit (vgl. auch die Bezeichnungen Zeichen, engl. character, versus Glyphe – diese Begriffe werden aber im Gegensatz zu Graphem und Graph eher sprachübergreifend und -unabhängig verwendet).
In Analogie zu den Begriffen Phonologie/Phonem(at)ik und Phonetik wird auch das Untersuchungsgebiet der rein materiellen Seite der geschriebenen Sprache als Graphetik bezeichnet (Paläographie, Typographie, Graphologie).
Das Graphem als funktionale Einheit einer geschriebenen Sprache ist unabhängig von deren konkret realisierten (handschriftlichen oder typographischen) Form, das heißt dem Graph (die unterschiedlichen Graphe ɑ, a, A sind z. B. allographische Varianten des Graphems <a>). Inwieweit ein Graphem auch aus mehreren Graphen (Di- und Trigraphen, z. B. sch, ch oder ie im Deutschen) bestehen kann, ist innerhalb der Graphemik umstritten.
Nach manchen theoretischen Ansätzen kann ein Graphem auch aus mehreren Graphen bestehen, und zwar entweder, weil nach einigen älteren Ansätzen ein Graphem direkt als Repräsentation eines Phonems definiert ist („sch“ für das Phonem /ʃ/), oder weil aus distributionellen bzw. graphotaktischen Gründen eine Graphenfolge als eine Einheit eingestuft wird („sch“ kommt in Positionen im Wort vor, an denen sonst nur einzelne Graphe vorkommen können, vgl. „sch“nallen und „k“nallen). Verbreitet ist aber auch die Ansicht, dass solche Buchstabenkombinationen in der Regel (phonemunabhängig betrachtet und ebenfalls distributionell begründbar) auch Kombinationen aus mehreren Graphemen sind (vgl. z. B. das Minimalpaar sieht – Sicht).
Literatur
- Julie D. Allen: The Unicode Standard, version 6.0. The Unicode Consortium. The Unicode Consortium, Mountain View 2011, ISBN 978-1-936213-01-6 (Online-Version).
- Johannes Bergerhausen, Siri Poarangan: decodeunicode: Die Schriftzeichen der Welt. Hermann Schmidt, Mainz 2011, ISBN 978-3-87439-813-8 (alle 109.242 Grapheme des Unicode-Standards).
- Hans Peter Althaus: Graphemik. In: Lexikon der germanistischen Linguistik. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hrsg. von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert Ernst Wiegand. Niemeyer, Tübingen 1980, ISBN 3-484-10389-2, S. 142–151.
- Peter Eisenberg: Die Schreibsilbe im Deutschen. In: Schriftsystem und Orthographie. Hrsg. von Peter Eisenberg und Hartmut Günther. Niemeyer, Tübingen 1989, S. 57–84.
- Peter Eisenberg: Linguistische Fundierung orthographischer Regeln. Umrisse einer Wortgraphematik des Deutschen. In: Homo scribens. Perspektiven der Schriftlichkeitsforschung. Hrsg. von Jürgen Baurmann u. a. Niemeyer, Tübingen 1993, S. 67–91.
- Burckhard Garbe: Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Teilband. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hrsg. von Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. De Gruyter, Berlin / New York 2000, ISBN 3-11-015882-5, S. 1766–1782.
- Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 2 Halbbände. De Gruyter, Berlin / New York 1994/96, ISBN 3-11-011129-2.
- Manfred Kohrt: Phonotaktik, Graphotaktik und die grafische Worttrennung. In: Probleme der geschriebenen Sprache. Beiträge zur Schriftlinguistik auf dem XIV. Internationalen Linguistenkongress 1987 in Berlin. Hrsg. von Dieter Nerius und Gerhard Augst. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Berlin 1988, S. 125–165.
- Utz Maas: Rechtschreibung und Rechtschreibreform. Sprachwissenschaftliche und didaktische Perspektiven. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 22 (1994), S. 152–189.
- Gisela Zifonun, Ludger Hoffmann, Bruno Strecker u. a.: Grammatik der deutschen Sprache. Band 1. De Gruyter, Berlin / New York 1997, ISBN 3-11-014752-1, S. 246–308.