Grundbedürfnis

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Grundbedürfnisse sind Bedürfnisse, die bei einer hierarchischen Aufteilung der Bedürfnisse des Menschen eine hohe Wichtigkeit haben und die im Rahmen des alltäglichen Subsistenz­prozesses vordringlich befriedigt werden.

Eine allgemeingültige Definition von Grundbedürfnissen, oder ein allgemeines Verständnis, welche Bedürfnisse hierzu zählen, besteht nicht. Der Begriff wird in unterschiedlichsten Wissenschaften (z. B. der Anthropologie, der Medizin, der Psychologie, Volkswirtschaftslehre, Theologie oder Rechtswissenschaft) und in politischen Diskussionen verwendet.

Modelle zur hierarchischen Aufteilung von Bedürfnissen

Maslow Bedürfnispyramide.svg

Grundbedürfnisse nach Maslow

Ein bekanntes hierarchisches Modell der Bedürfnisse ist die Maslowsche Bedürfnispyramide:

Grundbedürfnisse finden sich in diesem Modell in den unteren Stufen:

Eine Abgrenzung oder Definition, die erklärt, was Grundbedürfnisse sind, trifft das Modell nicht. Die unterste Stufe des Modells beschreibt körperliche Grundbedürfnisse.

Bedürfnisse nach Dringlichkeit

In den Wirtschaftswissenschaften werden Bedürfnisse nach Dringlichkeit ihrer Erfüllung unterschieden.

  • Existenzbedürfnisse sind auch in der Not erforderlich: ausreichend Nahrung und Wasser, Luft, Kleidung, Wohnraum, Arbeit und medizinische Versorgung.
  • Grundbedürfnisse umfassen saubere Luft, sauberes Wasser und Nahrung. Hinzu kommen Schlaf, Unterkunft, Kleidung, Krankenversorgung, Geborgenheit und Partnerschaft.
  • Kulturbedürfnisse beschreiben den Wunsch nach Kultur, beispielsweise Ästhetik, kreativem Ausdruck und Bildung.
  • Luxusbedürfnisse umfassen die Bedürfnisse nach luxuriösen Gütern und Dienstleistungen (Schmuck, Auto usw.), auch wenn sie an anderen Stellen Not, Leid und Umweltfrevel fördern. Eine Grenze zur Begierde ist nicht vorhanden.

Die Verwendung des Begriffs in der politischen Diskussion

In der politischen Auseinandersetzung wird der Begriff des Grundbedürfnisses hauptsächlich im Bereich der Sozial-, der Steuer- und der Entwicklungshilfepolitik verwendet.

Sozialpolitik

In der öffentlichen Diskussion wird der Begriff Grundbedürfnisse meist im Zusammenhang mit der Armutsgrenze oder Sozialleistungen verwendet. Ziel der Sozialpolitik in Deutschland ist, jedermann das sozio-ökonomische Existenzminimum zu gewährleisten. Voraussetzung hierfür ist die Definition der zu Grunde liegenden Grundbedürfnisse. Dies erfolgt in Deutschland über einen Warenkorb, der in einer repräsentativen Umfrage unter den 20 % der ärmsten Haushalte („Einkommens- und Verbrauchsstichprobe“ (EVS)) erhoben wird.[2] Die Kosten hierfür stellen den Regelsatz der Sozialhilfe dar.

Steuerpolitik

In der Steuerpolitik sind Grundbedürfnisse in zwei Bereichen Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Zum einen besteht das Verfassungsgebot, das sozio-ökonomische Existenzminimum steuerfrei zu halten.[3]

Im Bereich der Umsatzsteuer bestehen in den meisten Ländern gespaltene Mehrwertsteuersätze. Waren und Dienstleistungen, die zur Deckung der Grundbedürfnisse dienen, unterliegen niedrigeren Steuersätzen, als andere. Der Katalog der Waren und Dienstleistungen, die dem ermäßigten Steuersatz unterliegen (für Deutschland: Anlage 2 zum Umsatzsteuergesetz) stellt eine mögliche Definition von Grundbedürfnissen dar.

Grundbedürfnisse in der Entwicklungshilfepolitik

In der Entwicklungshilfe orientiert sich die Grundbedürfnisstrategie an der Vorstellung von Grundbedürfnissen.

Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) definierte die Grundbedürfnisse wie folgt: Demnach müssen Mindesterfordernisse wie „ausreichende Ernährung, Wohnung und Bekleidung“ sowie „bestimmte Haushaltsgeräte und Möbel“ verfügbar sein. Außerdem gehören lebenswichtige Dienstleistungen wie Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, sowie eine Bereitstellung von sanitären Anlagen und sauberem Trinkwasser zu den Grundbedürfnissen.[4]

Veränderung der Wahrnehmung der Grundbedürfnisse

Die öffentliche Meinung, was ein „Grundbedürfnis“ sei, unterliegt starkem Wertewandel.

Vor allem die seelisch-geistigen Grundbedürfnisse, die sich in bestimmten Erwartungshaltungen manifestieren, sind in hohem Maße kulturell und gesellschaftlich geprägt und können Veränderungen unterliegen. So kann beobachtet werden, dass in Zeiten der existenziellen Krisen (Kriege, Hungersnöte u. a. m.) die seelisch-geistigen Bedürfnisse gegenüber der Befriedigung der physischen Grundbedürfnisse zurücktreten oder scheinbar völlig verschwinden. Sie äußern sich aber doch in Anfälligkeiten z. B. für neue religiöse Angebote. Dagegen tritt die Erwartung, dass diese abgeleiteten oder "höheren" Bedürfnisse befriedigt werden, in Zeiten der existentiellen Sicherung sogar in den Vordergrund und kann eine ebenso große Dringlichkeit erreichen.

Anwendung in verschiedenen Wissenschaften

Psychologie

Sowohl die psychischen Grundbedürfnisse als auch die abgeleiteten Gefühle werden von allen Menschen geteilt, wodurch eine gegenseitige Verständigung auf emotionaler Ebene überhaupt erst möglich ist. Unterschiede gibt es hingegen auf der Ebene der kognitiven Bewertungsmechanismen, den Emotionen, denn diese werden durch Erfahrungen geprägt und sind durch den bewussten, freien Willen beeinflussbar. Fehlerhafte kognitive Bewertungsmechanismen können durch die Methoden der Psychotherapie verändert werden, z. B. durch das mentale Training der kognitiven Verhaltenstherapie.

Die Psychologie betrachtet die subjektive Zufriedenheit (z. B. Maslowsche Bedürfnispyramide) und geht von vier Säulen (Grundwerten) aus, die zum Wohlbefinden in einem dynamischen Gleichgewicht sein sollen: Sicherheit, Veränderung (Wechsel), Freiheit und Verbundenheit.

Eine neuere psychologische Theorie, die mit dem Konzept von Grundbedürfnissen arbeitet, ist die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan. Diese Autoren postulieren drei psychische Grundbedürfnisse, das Bedürfnis nach Kompetenz (competence), nach Autonomie/ Selbstbestimmung (autonomy) und nach sozialer Eingebundenheit (relatedness).[5] Die Grundbedürfnisse werden hier als Anpassungsmechanismen des Individuums an seine physikalische und sozio-kulturelle Umwelt verstanden, deren Befriedigung sich auf die Qualität von Verhalten sowie auf das mit der Ausübung dieses Verhaltens verbundene Wohlbefinden auswirkt.[6]

Es gibt viele weitere psychologische Theorien, die unterschiedliche Grundbedürfnisse aufzählen. Klaus Grawe postuliert in seiner Konsistenztheorie vier Grundbedürfnisse:[7]

  • Bindungsbedürfnis
  • Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
  • Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
  • Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

Der Sozialpsychologe Erich Fromm maß in seinem Werk Anatomie der menschlichen Destruktivität dem „Streben nach Spannung und Erregung“ eine entscheidende Bedeutung bei. Nach seiner Auffassung ist dieses Grundbedürfnis ein elementarer Antrieb, der sich sowohl in konstruktivem (Kreativität, soziales Engagement, Karrierestreben u. v. m.) als auch in destruktivem Handeln (Vandalismus, asoziales Verhalten, Grausamkeit u. v. m.) ausdrücken kann – je nach den Möglichkeiten, die sich dem Einzelnen bieten.[8] Dies wird heute als Selbstwirksamkeit bezeichnet: Das Bedürfnis, das Leben aktiv beeinflussen zu können, z. B. um Kontrolle zu erlangen, Lust zu empfinden, Unlust zu vermeiden, Wertschätzung zu erlangen[9]

Beispiele für weitere psychische Grundbedürfnisse

Nach Schulz von Thun lassen sich diese Grundbedürfnisse in vier zusammenfassen: wertvoll sein, geliebt sein, frei sein, verbunden sein.

Strategien zur Sicherung von psychischen Grundbedürfnissen

Die Motivation zur Befriedigung oder den Schutz der Grundbedürfnisse wird über das neuronale Belohnungssystem gesteuert. Es erzeugt einen subtilen Drang, der kognitiv als bewusstes Verlangen wahrgenommen wird, das gestillt werden muss.

Grawe unterscheidet zwischen zwei Verhaltensschemata:

  • Annäherungsschemata („hin zu“): Wird durch ein Verhalten ein Grundbedürfnis befriedigt, so schüttet das Gehirn Dopamin aus und dies wird als Erfolgs-, Glücks- oder Flow-Erlebnisse abgespeichert.
  • Vermeidungsschemata („weg von“): Strategien, um die Verletzung der Grundbedürfnisse zu vermeiden.

Medizin und Pflegewissenschaft

Die Medizin betrachtet die Funktionen des Körpers zu ihrer Erfüllung unter (mindestens) drei Aspekten:

  1. Physiologie als Lehre des normalen Funktionierens der Organe zur Aufrechterhaltung des eigenen Lebens. Meistens existieren Normwerte mit einer gewissen Bandbreite, innerhalb derer diese definiert sind.
  2. Rehabilitation als medizinische Subdisziplin will Patienten befähigen, wieder eigenständig an Beruf und Lebensalltag teilzunehmen. Wichtige Heilhilfsmittel dazu sind die Ergotherapie, Krankengymnastik und die Hilfsmittelversorgung.
  3. In der Medizinethik geht es bei dem Gesundheits­begriff und der Lebensqualität auch um solche Fragen.

Die Pflegewissenschaft, selbst eine junge Disziplin, setzt sich im Rahmen der so genannten Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL-Konzept, stark von der amerikanischen Psychologie beeinflusst) oder der Lebensaktivitäten mit diesen Begriffen und ihrer Konkretisierung auseinander.

Andere Wissenschaften

Siehe auch

Weblinks

Wiktionary: Grundbedürfnis – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Universität Duisburg-Essen: Kognitive Ansätze der Motivation (Memento vom 22. Februar 2013 im Internet Archive)
  2. TAZ vom 19. Mai 2006
  3. BVerfGE 82, 60, 85 = Rdnr. 104 ff sowie BVerfGE 82, 60, 94 = Rdnr. 128 ff. in BVerfGE 82, 60 - Steuerfreies Existenzminimum
  4. Florian Steinberg: Grundbedürfnisstrategie. Wohnen in der „Dritten Welt“. Kiel 1985.
  5. Richard M. Ryan, Edward L. Deci: Self-Determination Theory and the Facilitation of Intrinsic Motivation, Social Development, and Well-Being. S. 71. In: American Psychologist 55 (2000) 68–78.
  6. Edward L. Deci, Richard M. Ryan: The „What“ and „Why“ of Goal Pursuits: Human Needs and the Self-Determination of Behavior, S. 252. In: Psychological Inquiry 11(4), 2000, 227–268.
  7. Klaus Grawe: Psychologische Therapie. 2. korr. Auflage, Hogrefe, Göttingen 2000, ISBN 3-8017-1369-5, S. 383 ff.
  8. Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Aus dem Amerikanischen von Liselotte u. Ernst Mickel, 86. – 100. Tsd. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1977, ISBN 3-499-17052-3, S. 25–27.
  9. Was ist Selbstwirksamkeit? Resilienzexpertin Prof. Jutta Heller erklärt. Abgerufen am 14. Dezember 2021 (deutsch).