Desfluran

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Strukturformel
Strukturformel von Desfluran
Allgemeines
Freiname Desfluran
Andere Namen
  • 2-(Difluormethoxy)-1,1,1,2-tetrafluorethan
  • (RS)-2-(Difluormethoxy)-1,1,1,2-tetrafluorethan
Summenformel C3H2F6O
Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 57041-67-5
EG-Nummer 688-023-8
ECHA-InfoCard 100.214.382
PubChem 42113
DrugBank DB01189
Arzneistoffangaben
ATC-Code

N01AB07

Wirkstoffklasse

Inhalationsanästhetikum

Eigenschaften
Molare Masse 168,04 g·mol−1
Dichte
  • 1,4540 g·cm−3 (20 °C)[1]
  • 1,4768 g·cm−3 (15 °C)[2]
Siedepunkt
Dampfdruck

885 hPa (20 °C)[2]

Löslichkeit

praktisch unlöslich in Wasser[2]

Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung
keine Einstufung verfügbar[4]
Treibhauspotential

2540[5]

Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Desfluran (ursprünglich I-653) ist ein als Inhalationsanästhetikum benutzter, ausschließlich mit Fluor halogenierter Ethylmethylether[6] aus der Gruppe der Flurane. Das Desfluran hat eine gute hypnotische, jedoch nur schwache analgetische und muskelrelaxierende Wirkung. Es zeichnet sich durch besonders schnelles An- und Abfluten und damit sehr gute Steuerbarkeit (die beste unter den üblichen volatilen Anästhetika) sowie eine bei sachgerechter Anwendung gute Kreislaufstabilität aus. Desfluran wurde 1991 in den USA und 1995 in Deutschland in die Klinik eingeführt.[7] In Deutschland, Österreich und der Schweiz wird es von Baxter unter dem Handelsnamen Suprane vertrieben.[8][9][10] Verabreicht wird Desfluran über einen Verdampfer wie den von der Lübecker Firma Dräger hergestellten Devapor.

Chemie

Eigenschaften

Die Dichte von Desfluran ist als Flüssigkeit 1,48 g/ml.[2] Angaben zum Siedepunkt variieren zwischen 22,8 °C[3] und 23,5 °C[2]. Der Dampfdruck beträgt bei 20 °C 885 hPa.[2] Aufgrund dieses niedrigen Siedepunktes ist eine spezielle Verdampfertechnologie erforderlich.[3]

Stereochemie

Desfluran ist ein Racemat, also ein 1:1-Gemisch aus folgenden zwei Enantiomeren:[11]

Enantiomere von Desfluran
Structural Formula of (R)-Desfluran
(R)-Enantiomer
Structural Formula of (S)-Desfluran
(S)-Enantiomer

Pharmakologie

Der äußerst niedrige Blut-Gas-Verteilungskoeffizient von Desfluran beträgt 0,42,[12] das heißt bei einer Konzentration von 1 Volumenprozent (Vol-%) in den Lungenbläschen beträgt die Konzentration im Blut 0,42 Vol-%. Die geringe Löslichkeit bewirkt ein schnelles Erwachen[13] in der Aufwachphase. Die minimale alveoläre Konzentration ist 6 %, Desfluran ist damit weniger potent als die im Wesentlichen ähnlich wirkenden[14] Inhalationsanästhetika Isofluran oder Sevofluran. Im Unterschied hierzu weist Desfluran jedoch eine ausgeprägte schleimhautreizende Eigenschaften auf, was beim wachen Patienten mitunter sogar einen Broncho- oder Laryngospasmus auslösen kann.[3] Somit eignet es sich nicht für eine inhalative Narkoseeinleitung, sondern wird üblicherweise nur zur Fortführung und Aufrechterhaltung einer anderweitig (meist intravenös) eingeleiteten Narkose eingesetzt.

Die Metabolisierungsrate (Biotransformation) von Desfluran ist minimal und mit unter 0,1 % sogar geringer als die aller anderen halogenierten Anästhetika, wodurch die Wahrscheinlichkeit einer Leberschädigung sehr gering ist. Daher kann es auch bei Patienten mit vorbestehender Lebererkrankung eingesetzt werden.[15] Wie die anderen Inhalationsanästhetika erhöht Desfluran den Hirndruck und kann sehr selten auch einmal eine maligne Hyperthermie auslösen.[3] Eine spezifische Besonderheit von Desfluran besteht indes darin, dass es bei schneller Anflutung (im Sinne einer Narkosevertiefung) zu einer paradoxen Aktivierung des Sympathikus mit Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck kommen kann, was bei vorerkrankten Patienten Hirn- und Herzschäden begünstigt.[16]

Durch die Reaktion mit Atemkalk kann Kohlenstoffmonoxid (CO) entstehen, was insbesondere bei ausgetrockneten CO2-Absorbern und hohen Gaskonzentrationen der Fall ist.[3]

Umwelt

Die „Lebenszeit“ in der Atmosphäre beträgt 14 Jahre, und die Emissionen lagen 2015 bei (geschätzt) 960 Tonnen pro Jahr.[5] Desfluran schädigt nach Entweichen in die Atmosphäre die Ozonschicht, allerdings in geringerem Ausmaß als die (inzwischen aus medizinischen Gründen ohnehin kaum noch eingesetzten) bromierten bzw. chlorierten Substanzen wie Halothan, Enfluran und Isofluran[17].

Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 2010 schneidet jedoch Desfluran hinsichtlich seiner Wirkung als Treibhausgas – verglichen mit Isofluran und Sevofluran – mit Abstand am schlechtesten ab.[18] Sein Treibhauspotential ist 2540[5] (d. h. es trägt 2540-mal so viel zum Treibhauseffekt der Erde bei wie eine massegleiche Menge CO2), wohingegen Sevofluran ein Treibhauspotential von „lediglich“ 130 aufweist; Obendrein muss einem Patienten für die Erreichung bzw. Aufrechterhaltung einer bestimmten Narkosetiefe erheblich mehr Desfluran als Sevofluran zugeführt werden (MAC-Wert 6,0 bzw. 2,1 %),[16] was die Umweltbilanz weiter verschlechtert. Aus diesem Grund ist der Einsatz der Substanz in der Anästhesie zunehmend in die Kritik geraten;[19] einige Kliniken haben inzwischen Konsequenzen gezogen und die Substanz aus dem Tagesbetrieb ihrer Anästhesieabteilungen ganz oder teilweise verbannt. In der Geschichte der Medizin ist dies insofern ein Novum, als ein Medikament weder aus (unmittelbar) medizinischen noch aus finanziellen, sondern ausschließlich aus Klimaerwägungen (stellenweise) für obsolet erklärt wurde.[20]

Literatur

  • Rui Sun, Mehernoor F. Watcha, Paul F. White, Gary D. Skrivanek, James D. Griffin, Louis Stool, Mark T. Murphy: A cost comparison of methohexital and propofol for ambulatory anesthesia. In: Anesthesia & Analgesia. 89, 2, Aug. 1999, S. 311–316, PMID 10439739, online (PDF; 167 kB).
  • Monika Loscar, T. Allhoff, E. Ott, Peter Conzen, Klaus Peter: Aufwachverhalten und kognitive Funktion nach Desfluran oder Isofluran. In: Der Anaesthesist. Band 4, 1996, Nr. 2, S. 140–145.
  • T. K. Abboud et al.: Desflurane: a new volatile anaesthetic for cesarean section. Maternal and neonatal effects. In: Acta Anaesthesiologica Scandinavica. Band 39, Nr. 6, (Kopenhagen) 1995, S. 717.

Einzelnachweise

  1. a b David R. Lide (Hrsg.): CRC Handbook of Chemistry and Physics. 90. Auflage. (Internet-Version: 2010), CRC Press / Taylor and Francis, Boca Raton FL, Physical Constants of Organic Compounds, S. 3-474.
  2. a b c d e f g Eintrag zu Desfluran in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA, abgerufen am 7. Dezember 2019. (JavaScript erforderlich)
  3. a b c d e f Rolf Rossaint, Christian Werner, Bernhard Zwissler (Hrsg.): Die Anästhesiologie. Allgemeine und spezielle Anästhesiologie, Schmerztherapie und Intensivmedizin. 2. Auflage. Springer, Heidelberg 2008, ISBN 978-3-540-76301-7, S. 297–320.
  4. Dieser Stoff wurde in Bezug auf seine Gefährlichkeit entweder noch nicht eingestuft oder eine verlässliche und zitierfähige Quelle hierzu wurde noch nicht gefunden.
  5. a b c Martin K. Vollmer, Tae Siek Rhee, Matt Rigby, Doris Hofstetter, Matthias Hill, Fabian Schoenenberger, Stefan Reimann: Modern inhalation anesthetics: Potent greenhouse gases in the global atmosphere. In: Geophysical Research Letters. Band 42, Nr. 5, 16. März 2015, S. 1606–1611, doi:10.1002/2014GL062785.
  6. Monika Loscar und andere: Aufwachverhalten und kognitive Funktion nach Desfluran oder Isofluran. 1996, S. 140.
  7. Michael Heck, Michael Fresenius: Repetitorium Anaesthesiologie. Vorbereitung auf die anästhesiologische Facharztprüfung und das Europäische Diplom für Anästhesiologie. 3., vollständig überarbeitete Auflage. Springer, Berlin/Heidelberg/ New York u. a. 2001, ISBN 3-540-67331-8, S. 804.
  8. Rote Liste online, Stand: September 2009.
  9. AM-Komp. d. Schweiz, Stand: September 2009.
  10. AGES-PharmMed. Stand: Mai 2011.
  11. Rote Liste Service GmbH (Hrsg.): Rote Liste 2017. Arzneimittelverzeichnis für Deutschland (einschließlich EU-Zulassungen und bestimmter Medizinprodukte). 57. Auflage. Frankfurt/Main 2017, ISBN 978-3-946057-10-9, S. 175.
  12. E. I. Eger II.: Partition coefficents for I-653 in human blood, saline, and olive oil. In: Anesth Analg. Band 66, 1987, S, 971–973.
  13. Monika Loscar und andere: Aufwachverhalten und kognitive Funktion nach Desfluran oder Isofluran. 1996.
  14. Reinhard Larsen: Anästhesie und Intensivmedizin in Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie. (1. Auflage 1986) 5. Auflage. Springer, Berlin/ Heidelberg/ New York u. a. 1999, ISBN 3-540-65024-5, S. 11 f.
  15. R. M. Jones und andere: Biotransformation and hepato-renal function in volunteers after exposure to desflurane (I-653). In: British Journal of Anaesthesiology. Band 64, 1990, S. 482–487.
  16. a b Roman Ewert: Desfluran - zeitgemäß? In: Anae-doc. 21. April 2018, abgerufen am 13. Juli 2022 (deutsch).
  17. Monika Loscar und andere: Aufwachverhalten und kognitive Funktion nach Desfluran oder Isofluran. 1996, S. 140.
  18. WELT: Umwelt: Narkosegase heizen das Klima wie eine Million Autos. In: DIE WELT. 7. Dezember 2010 (welt.de [abgerufen am 13. Juli 2022]).
  19. S. Koch, S. Pecher: Neue Herausforderungen für die Anästhesie durch den Klimawandel. In: Der Anaesthesist. Band 69, Nr. 7, Juli 2020, ISSN 0003-2417, S. 453–462, doi:10.1007/s00101-020-00770-1 (springer.com [abgerufen am 15. August 2022]).
  20. H. Richter, S. Weixler, M. Schuster: Der CO2-Fußabdruck der Anästhesie. Wie die Wahl volatiler Anästhetika die CO2-Emissionen einer anästhesiologischen Klinik beeinflusst. In: Anästhesie und Intensivmedizin. Band 61, 2020, S. 154–161, doi:10.19224/ai2020.154 (ai-online.info [PDF]).