IchBinArmutsbetroffen

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#IchBinArmutsbetroffen ist ein Hashtag, der seit Mai 2022 im sozialen Netzwerk Twitter verbreitet wird und der sich zu einem viralen Aufstand der Armen[1] und seit kurzem zu einer solidarischen Bewegung auswuchs.

Ursprung

Der erste Tweet unter dem Hashtag wurde von einer alleinerziehenden Mutter mit Pseudonym „Finkulasa“ am 12. Mai 2022 verbreitet.[2][3] Ihr Aufruf lautete:

„Ich würde mich freuen, wenn ihr mitmacht. Nur ein kleiner Tweet zu euch. Lasst uns zeigen, wer wir sind (nicht zwingend mit Foto!), dass wir KEINE Zahlen sind. Ob H4, Rente, Aufstocker oder oder oder #IchBinArmutsbetroffen“

Finkulasa[4]

Viele weitere machten es ihr nach und folgten. Bis Juni 2022 sammeln sich mehr als 100.000 Tweets unter dem Hashtag.[5] So erzählen seit Wochen Zehntausende von ihrem Alltag mit wenig Geld und steigenden Preisen.[6]

Beispiele

„#IchBinArmutsbetroffen Durch Schicksalsschläge wie schwere Erkrankungen (irreversibel), verstorbenes Kind, Folgekind schwerbehindert, Scheidung existiere ich halbwegs unsichtbar am Rande der Gesellschaft. Dankbar + mich schämend für jeden, der ab und an versucht zu helfen“

Apocalypsica79[7]

„#IchBinArmutsbetroffen hieß für mich heute im Supermarkt zu stehen, die Preise zu sehen und fast zu weinen. Eigentlich wollte ich heute endlich meinen Kindern den Wunsch nach einer Wassermelone erfüllen, die sie seit Wochen haben wollen. Ich musste sie wieder enttäuschen.“

Luffy Lumen[8]

„#IchBinArmutsbetroffen Heißt auch: Wie sehr ich während der Pandemie getriggert war, von den "Problemen" mancher Menschen: kann keine Party machen, kann nicht in den Urlaub fahren, kann dies nicht, kann jenes nicht. #Armutsbetroffene können nie. Weder vor der Pandemie, noch nach der Pandemie. Lockdown war das erste Mal das Gefühl wir sind alle gleich. Und irgendwie die Erwartung, dass Menschen verstehen wie es #Armutsbetroffene geht, wenn sie immer nur am Rand stehen und zusehen müssen. Falsche Erwartung gehabt. #Armut“

Claudia di Bella (@ClaudiadiBella6)[9]

„#IchBinArmutsbetroffen Ich bin 67 Jahre alt, an Multipler Sklerose erkrankt, Rentnerin mit Grundsicherung . 90% schwerbehindert mit den Merkmalen G + B. Ohne Rollator geht nichts mehr, jeder Schritt tut weh. Jeden Donnerstag gehe ich zur Tafel (2km entfernt). Freitag und Samstag bin ich dann fertig mit der Welt. Ich habe 32 Jahre gearbeitet, davon 22 Jahre Vollzeit. Meine Rente beträgt 770,00 Euro und der Mensch im Sozialamt hält das für hoch. Ich werde nicht mehr still dulden, ich will das ihr uns seht.“

Beate Behrens (@Weltenfrau)[10]

Rezeption und Reaktionen

Am 16. Mai griff der Focus den Hashtag ebenfalls auf, der es zeitweise auch in die Twitter-Trends schaffte. Er berichtete darüber, dass es viele Gründe für Armut gebe, etwa Gewalterfahrungen, Erkrankungen oder die Pflege Angehöriger. Die Tweets zeigten, dass Armut ein Problem mitten in unserer Gesellschaft sei und jeden treffen könne. Die Inflation würde das Problem verschärfen, es habe vorher und „jetzt erst recht“ an kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe gefehlt.[11]

Janine Wissler (Die Linke) ging im Deutschen Bundestag auf die Aktion ein, las einige Tweets vor und sagte:

„Immer mehr Menschen wissen nicht, wie sie angesichts der steigenden Preise ihre Einkäufe bezahlen sollen, wie sie ihre Gasrechnungen bezahlen sollen. Und auf Twitter schildern gerade viele Menschen unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen mutig und offen, wie Armut in diesem reichen Land aussieht, wie es sich anfühlt, wenn man sich elementare Dinge des täglichen Lebens nicht mehr leisten kann. Sie berichten von Scham und Ausgrenzung, von dem Gefühl, seinen Kindern nichts bieten zu können, und von der Wut über diese Zustände. Hören wir diesen Menschen zu!“

Janine Wissler (Rede im Deutschen Bundestag am 19. Mai 2022): Deutscher Bundestag – 20. Wahlperiode – 37. Sitzung[12]

Die Journalistin Samira El Ouassil thematisierte am 19. Mai 2022 in ihrer Spiegel-Kolumne darüber, wie wirkmächtig der Hashtag ist:

„Von Armut betroffene Menschen werden auch in Deutschland traditionell verachtet. Scham wird dabei zu einer Waffe – die marginalisierte Menschen auch gegen sich selbst richten. (..) Die Beschämung ist ein fabelhaftes soziales Tool, um das Ideal der Eigenverantwortlichkeit aufrechtzuerhalten, denn sie führt zu einer gern gedrehten Armuts-Beschämungs-Spirale, die es ökonomisch abgesicherten Bürgerinnen und Bürgern einfacher macht, sich Armut – was? In Deutschland? Unmöglich! – nicht konkret vorstellen zu müssen. (..) Diese Entmenschlichung wird hoffentlich durch die Sichtbarmachung und das Aufbrechen der Armuts-Beschämungs-Spirale reduziert, wenn hoffentlich endlich klar wird: Da Armut jeden Menschen treffen kann, betrifft sie uns alle“

Samira El Ouassil[13]

Der Journalist Benjamin Fuchs nahm die Aktion zum Anlass, sich den Menschen hinter den Tweets zu nähern und interviewte 5 Menschen zu ihrer Motivation, ihre Scham zu überwinden, dem Stigma entgegenzutreten und ihre Geschichte zu erzählen. Sein Beitrag erschien am 27. Mai 2022 im Online-Magazin Perspective Daily.[3]

Die Journalistin Maria Häußler greift die Kampagne um den Hashtag in der Berliner Zeitung bereits zum zweiten Mal auf. Während sie im ersten Beitrag ”’Armut ist keine Schande’: Wie Menschen auf Twitter mit einem Tabu brechen”[14] die Diversität der vielen Beiträge auf Twitter thematisiert, porträtiert sie im zweiten eine Berlinerin, die unter dem Pseudonym @RosaLin99535919 Luft macht. ”Die ganze Wut habe ich vorher in meinem Körper herumgetragen. Die haue ich jetzt da rein.”[15]

Noch am selben Tag als die Twitter-Nutzerin „Finkulasa“ den Tweet absetzte, begann die OneWorryLess Foundation die Aktion zu unterstützen, etwa bei der Organisation der Protestaktionen in den verschiedenen Städten und der medialen Begleitung. Zur Bewegung sagt Natalie Schöttler, Mitgründerin der Stiftung im Interview: „Man merkt, wie das vielen Betroffenen guttut. Für manche war das ein riesiger Schritt, zum Beispiel ein Foto von sich zu posten, und jetzt sprechen sie mit Medien über ihre Geschichte, wollen noch mutiger sein. Es ist so schön, das mitzuerleben.“[3]

Protestaktionen

Ende Mai 2022 versammelten sich in Bochum, Berlin, Düsseldorf, Köln und Hamburg Aktivisten, die selbst von Armut betroffen sind oder sich solidarisch zeigen wollten zu Protesten und Flashmobs. Das Ziel der Protestierenden war es, Stigmatisierungen zu überwinden und für Sichtbarkeit zu sorgen.[16]

Am 11. und 12. Juni versammelten sich erneut viele Teilnehmende in Bochum, Berlin, Emden, Köln und Hamburg, um zu protestieren. Am Abend des 12. Juni erfolgte ein „Twitter Flashmob“ und alle Teilnehmenden veröffentlichten ihre Fotos zu ihrer Teilnahme.[17]

Am 25. Juni kam es erneut zu Kundgebungen in Emden[18], Bochum, Hannover, Hamburg, Darmstadt, Berlin, Köln[19] und München, bei denen Teilnehmende zusammenkamen, um ihren Forderungen nach Sichtbarkeit und Veränderung Ausdruck zu verleihen.

„Solidarität mit #IchBinArmutsbetroffen bedeutet, dass Nicht-Betroffene den Rücken stärken dürfen. Gemeinsam lautet das Zauberwort hin zu einem würdevollen Leben“

Natalie Schöttler, Mitgründerin der die Bewegung unterstützenden OneWorryLess Foundation[20][21]

Auch am 23. Juli fanden wieder Kundgebungen statt, diesmal in Emden, Bochum, erstmalig Kiel[22], Hamburg, Berlin und Köln. Die Bewegung ruft auch nicht Betroffene, sich solidarisierende Menschen auf an den Protesten teilzunehmen.[23] Ziel der Kundgebungen ist es einerseits miteinander ins Gespräch zu kommen, aber auch „Öffentlichkeit herstellen und darauf hinweisen, dass Armut vielfältig ist“, wie Beate Behrens, Organisatorin der Protestaktionen in Kiel im Interview sagte.

Einzelnachweise

  1. Jörg Wimalasena: Hashtag #IchBinArmutsbetroffen: Der virale Aufstand der Armen. In: DIE WELT. 19. Mai 2022 (welt.de [abgerufen am 27. Mai 2022]).
  2. Samira El Ouassil: #IchBinArmutsbetroffen: Warum der Hashtag so wirkmächtig ist. In: Der Spiegel. 19. Mai 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 27. Mai 2022]).
  3. a b c Benjamin Fuchs: Von Twitter in den Bundestag: Jetzt machen Betroffene ihre Armut sichtbar. Abgerufen am 29. Mai 2022.
  4. https://twitter.com/finkulasa/status/1524689204520927237. Abgerufen am 27. Mai 2022.
  5. Elsbeth Bräuer: "Von Leben kann man gar nicht reden" - Armut in Bayern. In: BR. 7. Juni 2022, abgerufen am 11. Juni 2022.
  6. Heike Klovert, Mascha Malburg: (S+) Chronisch krank und chronisch arm: »Gab Tage, an denen ich mir zwei letzte Stücke Brot einteilen musste«. In: Der Spiegel. 26. Juni 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 29. Juni 2022]).
  7. Armes Deutschland: DAS sind die traurigen Geschichten der Menschen, die von fast nichts leben müssen. Abgerufen am 29. Mai 2022.
  8. Ärmer heißt nicht arm. Abgerufen am 29. Mai 2022.
  9. „Armut ist keine Schande“: Wie Menschen auf Twitter mit einem Tabu brechen. Abgerufen am 29. Mai 2022.
  10. Rente: Frau kriegt nur 770 Euro – „Ich werde das nicht mehr still dulden“. Abgerufen am 29. Mai 2022.
  11. Lara Wernig: „Sehe im Supermarkt die Preise und muss fast weinen“: Wie Deutsche unter der Teuer-Krise leiden. Abgerufen am 29. Mai 2022.
  12. BT-Plenarprotokoll 20/37, S. 3568D
  13. Samira El Ouassil: #IchBinArmutsbetroffen: Warum der Hashtag so wirkmächtig ist. In: Der Spiegel. 19. Mai 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 27. Mai 2022]).
  14. Maria Häußler: „Armut ist keine Schande“: Wie Menschen auf Twitter mit einem Tabu brechen. Abgerufen am 16. Juni 2022.
  15. Maria Häußler: Wie eine Berlinerin durch Krankheit verarmte – und nicht mehr schweigen will. Abgerufen am 16. Juni 2022.
  16. Eva Bobchenko: „Wir wollen sichtbar werden“: Aktivisten protestieren am Kölner Dom gegen Armut. 28. Mai 2022, abgerufen am 29. Mai 2022 (deutsch).
  17. Wiebke Schröder: #IchBinArmutsbetroffen: Offener Brief und weitere aktuelle Aktionen gegen Armut! 8. Juni 2022, abgerufen am 16. Juni 2022 (deutsch).
  18. Nordwest-Zeitung: Protest per Flashmob um #IchBinArmutsbetroffen am Samstag um zwölf Uhr vor dem Otto-Huus in Emden. Abgerufen am 29. Juni 2022.
  19. Aktion #IchBinArmutsBetroffen: Diese Kölner wollen der Armut ein Gesicht geben. Abgerufen am 29. Juni 2022.
  20. #IchBinArmutsbetroffen: Bundesweite Aktionen am Samstag, 25. Juni. Abgerufen am 21. Juni 2022.
  21. Nordwest-Zeitung: Protest per Flashmob um #IchBinArmutsbetroffen am Samstag um zwölf Uhr vor dem Otto-Huus in Emden. Abgerufen am 21. Juni 2022.
  22. Aktion von #ichbinarmutsbetroffen in Kiel: „Wir wollen sichtbar werden“. Abgerufen am 24. Juli 2022.
  23. #IchBinArmutsbetroffen: Bundesweite Aktionen am Samstag, 23. Juli. Abgerufen am 22. Juli 2022.