Individuum est ineffabile

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Individuum est ineffabile (lateinisch für „Das Individuum ist nicht zu fassen“) ist eine philosophische Sentenz. Sie kann unterschiedlich verwendet werden und wird klassischerweise als erkenntnistheoretische These aufgefasst: Unsere Begriffe erfassen nur Allgemeines (z. B. „Mensch“) und damit prinzipiell keine konkreten Einzelgegenstände (z. B. „Sokrates“).

Der Gedanke stammt aus der griechischen Antike. Er findet sich bei Platon und bei Aristoteles, für den aus dem genannten Grund kein(e) Wissen(schaft) vom Einzelnen möglich ist. Insbesondere könne es, so Aristoteles, keine Definitionen von einzelnen sinnlichen Wesenheiten geben.[1] Der Arzt Galenos formulierte, dass der Patient nicht durch eine Formel beschreibbar sei.[2]

Der Satz wird häufig auch der Scholastik zugeschrieben; er ist dort nicht wörtlich, aber sinngemäß nachweisbar.[3] So formulierte beispielsweise Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles, dass das Einzelne nicht wissenschaftlich diskutierbar sei.[4] Ähnliches findet sich bei Francisco Suárez.[5] Gottfried Wilhelm Leibniz hat den Gedanken wortnäher formuliert[6] und vielfach das Problem einer begrifflichen Bestimmung des Individuellen diskutiert.

Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat den Gedanken aufgegriffen. Bei ihm findet sich auch die These, dass wir empirische Gehalte, ein „sinnliches Sein“ nur meinen, nicht aber letztlich sagen können.[7] Johann Wolfgang von Goethe scheint den Gedanken bei Baruch Spinoza oder Leibniz gefunden zu haben und spricht sich mehrfach diesbezüglich enthusiastisch aus, so in einem oft zitierten[8][9] Brief an Johann Caspar Lavater vom 20. September 1780. Auch Johann Gottfried Herder greift den Gedanken auf.

Die Romantiker haben mit dem Nachweis der Unfassbarkeit des Individuums ihre Opposition gegen eine Anmaßung des allgemeinen Begriffs gegenüber dem Individuellen zu stützen versucht. Der Satz kann hier auch im Sinne einer Opposition von Ontologie und personaler Individualität verstanden werden: Alle sonst wie vorhandenen Objekte sind unter ontologische Begriffe zu bringen, Personen aber nicht. In diesem Sinne finden sich Kontinuitäten beispielsweise zu Martin Heidegger, Theodor Adorno und französischen Philosophen wie Emmanuel Levinas.[10]

Franz von Kutschera begründet – ähnlich wie Leibniz – die Nichterfassbarkeit von Individuen mit der Behauptung, dass diese eine unendliche Fülle an Eigenschaften aufwiesen.[11] Selbst wenn man Individualbegriffe akzeptiert, sind diese durch Allgemeinbegriffe nie vollständig analysierbar und allenfalls Kennzeichnungen, keine Beschreibungen.[12]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Aristoteles: Metaphysik. 7, 15, 1039b 27.
  2. Galenos: Methodus medendi. 10, 159 f., 181 f., 206.
  3. Vgl. aber Johannes Assenmacher: Geschichte des Individuationsprinzips in der Scholastik (= Forschungen zur Geschichte der Philosophie und der Pädagogik. 1. Band, Heft 2), Felix Meiner Verlag, Leipzig 1926, S. 3.
  4. Franz Rieder: Mensch und Natur. Wer war das und wann hat das angefangen? In: philoso.de. 22. März 2017, abgerufen am 18. Januar 2021: „[…] die Haecceitas […] gehörte […] in den Bereich der Individuation und wurde als Sonderung des Allgemeinen in ein Einzelnes gedacht. Sonderung (nicht Besonderung) deshalb, weil das Einzelne selbst nicht wissenschaftlich diskutierbar (Individuum est ineffabile) ist.“
  5. Francisco Suárez: Disputationes Metaphysicae. 1, 5, 146: „Commune enim seu universale dicitur, quod secundum unam aliquam rationem multis communicatur, seu in multis reperitur; unum autem numero seu singulare ac individuum dicitur, quod ita est unum ens, ut secundum eam entis rationem, qua unum dicitur, non sit communicabile multis ut inferioribus et sibi subiectis aut quae in illa ratione multa sint.“
  6. G. W. Leibniz: Nouveaux Essays. 3,3,6.
  7. Phänomenologie des Geistes, Werke hg. Lasson, Bd. 5, 82.
  8. Fotis Jannidis: ‘Individuum est ineffabile’. In: Aufklärung 9,2 (1996), S. 77–110.
  9. Dirk Kemper: Ineffabile. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne. München 2004.
  10. Vgl. z. B. Josef Wohlmuth: Chalkedonische Christologie und Metaphysik. In: M. Knapp, Th. Kobusch (Hrsg.): Religion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne. Berlin / New York 2001, S. 333–354, hier 340.
  11. Siehe z. B. Franz von Kutschera: Ästhetik. Walter de Gruyter 1998, S. 49.
  12. Etwas ausführlicher diskutiert das Bezugsproblem A. Pieper: Individuum. In: H. Krings, H. M. Baumgartner, Ch. Wild (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 5, München 1973, S. 728–731, fast vollständig bei López online zugänglich.