Todeslager Osaritschi
Das Todeslager Osaritschi lag in der Nähe des weißrussischen Dorfes Osaritschi, Kreis Kalinkawitschy, nördlich der Stadt Masyr. Dort betrieb die deutsche Wehrmacht vom 12. bis 19. März 1944 einen Lagerkomplex dreier organisatorisch zusammengehörender Einzellager für arbeitsunfähige Zivilisten. In nur einer Woche kamen dort mindestens 9000 Menschen ums Leben. Das Massensterben in diesen Lagern wird von Dieter Pohl, Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte, als „eines der schwersten Verbrechen der Wehrmacht gegen Zivilisten überhaupt“ charakterisiert.[1]
Militärischer Hintergrund und Planung
Aufgrund der hoffnungslosen militärischen Lage im Frühjahr 1944 musste die 9. Armee der Wehrmacht ihren Rückzug vorbereiten. Ihr Oberbefehlshaber Josef Harpe befahl im März 1944, arbeitsfähige Zivilisten zwangszurekrutieren und mitzunehmen; parallel waren deren arbeitsunfähige Angehörige, die sich nicht mehr selbst versorgen konnten, zu deportieren. Sie sollten alle in drei Notlagern bei der weißrussischen Ortschaft Osaritschi, nördlich der Stadt Masyr, konzentriert werden. Ziel der Aktion war es, in allen Korpsbereichen „Seuchenkranke, Krüppel, Greise und Frauen mit mehr als zwei Kindern unter zehn Jahren sowie sonstige Arbeitsunfähige loszuwerden bzw. nicht mehr versorgen zu müssen.“[2] Im Kriegstagebuch der 9. Armee vom 8. März 1944 heißt es dazu:
- „Es ist geplant, aus der frontnahen Zone der Armee alle nicht arbeitsfähigen Einheimischen in den aufzugebenden Raum zu bringen und bei der Frontzurücknahme dort zurückzulassen, insbesondere die zahlreichen Fleckfieberkranken, die bisher in besonderen Dörfern untergebracht worden sind, um eine gesundheitliche Gefährdung der Truppe nach Möglichkeit auszuschalten. Der Entschluss, sich von dieser, auch ernährungsmäßig erheblichen Bürde nunmehr auf diese Weise zu befreien, ist vom AOK nach genauer Erwägung und Prüfung aller sich daraus ergebender Folgerungen gefasst worden.“[3]
Lager und Opfer
Bis zum 12. März 1944 wurden die drei Lager als mit Stacheldraht umzäunte Areale ohne Gebäude oder sanitäre Einrichtungen in diesem Sumpfgebiet in Frontnähe errichtet. Der 9. Armee unterstellte Infanterie-Divisionen, namentlich die 35. Infanterie-Division unter Generalleutnant Johann-Georg Richert sowie das Sonderkommando 7a der SS-Einsatzgruppe B, trieben mindestens 40.000 Zivilisten in diese improvisierten Lager.[4] Bei der Erfassung der betroffenen Zivilisten waren neben der 35. ID die 36. ID, 110. ID, 129. ID, 134. ID, 296. ID sowie die 5. und die 20. Panzerdivision beteiligt.[5] Bereits auf dem nur teilweise mit Eisenbahnwaggons erfolgten Transport starben viele Menschen: „Mindestens 500 von ihnen, darunter Kinder, wurden von den Begleitmannschaften erschossen, weil sie nicht mehr weiterlaufen konnten.“[6] Nach Angaben des deutschen Sicherheitsdienstes wurden die Lager mit 46.000 arbeitsunfähigen Zivilisten belegt.[7] Das Oberkommando der 9. Armee wertete dies als Erfolg:
- „Die Erfassungsaktion hat für das gesamte Gefechtsgebiet eine wesentliche Erleichterung gebracht. Die Wohngebiete wurden erheblich aufgelockert und für Truppenunterkünfte frei. Für nutzlose Esser wird keine Verpflegung mehr verbraucht. Durch Abschieben der Seuchenkranken wurden die Infektionsherde bedeutend verringert.“[8]
Nicht nur auf dem Transport, sondern auch nach erfolgter Internierung schossen die Wachmannschaften der 35. Infanterie-Division „oft beim geringsten Anlass oder ganz ohne Grund, auch auf Kinder (…) sogar auf Versuche der Internierten hin, vom Sumpfwasser zu trinken.“[9]
Da die Menschen in den Lagern völlig unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgt waren und in größerer Zahl Typhuskranke ins Lager kamen, waren bis zum Eintreffen der Roten Armee am 19. März bereits 9000 Menschen zu Tode gekommen.[10] Nach weißrussischen Quellen könnten es insgesamt 20.000 Todesopfer gewesen sein.[11] Wie viele Menschen nach dem 19. März 1944 noch an Typhus oder Entkräftung starben, lässt sich nicht mehr ermitteln. Eine sowjetische Untersuchungskommission gibt an, bis zum 31. März seien bei den Überlebenden 1526 Typhusfälle aufgetreten.[12]
Gerichtliche Ahndung
Die „Außerordentliche Staatliche Kommission zur Feststellung der Verbrechen der deutsch-faschistischen Eroberer“ erhob in ihrem Abschlussbericht vom 6. Mai 1944 den Vorwurf, die Wehrmacht habe bewusst Typhuskranke in die Lager gebracht, um die Seuche zu verbreiten. Den Bericht legte die sowjetische Anklagebehörde im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als „Beweisdokument USSR-4“ vor.[13] In der UdSSR sollten unter anderen die Generäle Harpe und Richert vor Gericht gestellt werden. Richert, der im Unterschied zu Harpe in sowjetische Gefangenschaft geraten war, wurde Ende Januar 1946 im Minsker Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Gerade weil die sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse als Teile der sowjetischen Rechtsprechung nicht liberalen westlichen Rechtsauffassungen entsprachen, erscheint es bemerkenswert, dass Richert ausschließlich wegen seiner Mitverantwortung für den Tod Tausender Menschen in den Lagern von Osaritschi verurteilt wurde, während die von der Anklage erhobenen Vorwürfe der Mitverantwortung für „bewusst biologische Kriegführung“ mittels systematischer herbeigeführter Typhusansteckungen im Urteil nicht bestätigt wurden.[14]
Historische Einordnung
In der geschichtswissenschaftlichen Literatur hat das hauptsächlich von der Wehrmacht verantwortete „größte Verbrechen beim Rückzug, die Morde an erschöpften Zivilisten in den Evakuierungslagern um Osaritschi“, bei dem die „Sicherheitspolizei eher peripher beteiligt war“,[15] mittlerweile eine relativ breite Rezeption gefunden. Der Internierungs-, Konzentrations- und Todescharakter der Lager lässt mehrere Bezeichnungen zu. Während Dieter Pohl von „Evakuierungslagern“ für Zivilisten spricht, nennt der Osteuropa-Historiker Hans-Heinrich Nolte sie Konzentrationslager.[16] Neben dem durch Hunger und Seuchen verursachten Massensterben wurden viele Menschen willkürlich erschossen, so dass die Morde auch den Charakter eines Massakers hatten. So sieht Christian Gerlach diese Internierung von Zivilisten explizit als „Todeslager“.[17] Die offizielle Website der Gedenkstätte Chatyn, die Osaritschi eine eigene Seite widmet, schreibt uneinheitlich „Lager“, „Konzentrationslager“ und „Todeslager“.[18] Hans-Heinrich Nolte resümiert: „Das Verbrechen entspricht der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener durch die Wehrmacht im Winter. Es hat auch Ähnlichkeiten mit dem Verhungern von Juden sowie von 'nicht arbeitsfähigen' Menschen, wenn bei Partisanenaktionen Arbeitskräfte zwangsweise ins Reich gebracht wurden. Das Verbrechen entspricht in vielem dem generellen Charakter des deutschen Kriegs gegen die UdSSR, präzis auch in dem Wunsch, ‚unnütze’ Menschen nicht zu ernähren.“[16] Insofern ist Osaritschi in einer langen Kette schon vor dem Überfall auf die UdSSR einkalkulierten Maßnahmen der Hungerpolitik gegen „unnütze Esser“ und Arbeitsunfähige zu verorten, die man bereit war, aus angeblichen kriegswirtschaftlichen Sachzwängen verhungern zu lassen.[19]
Literatur
- Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Studienausgabe. Hamburger Edition, Hamburg 2000, ISBN 3-930908-63-8 (Zugleich Dissertation an der TU Berlin 1998).
- Hans Heinrich Nolte: Osarici 1944. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Primus, Darmstadt 2003, ISBN 3-89678-232-0, S. 186–194.
- Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944. Oldenbourg, München 2008, ISBN 978-3-486-58065-5 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Band 71, zugleich Habilitationsschrift an der Universität München, 2007).
- Christoph Rass: „Menschenmaterial“. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945 Schöningh, Paderborn u. a. 2003, S. 386–402: Kapitel „Anatomie eines Kriegsverbrechens“, ISBN 3-506-74486-0 (= Krieg in der Geschichte. Band 17, zugleich Dissertation an der RWTH Aachen 2001) (online).
- Christoph Rass: Ozarichi 1944. Entscheidungs- und Handlungsebenen eines Kriegsverbrechens. In: Timm C. Richter (Hrsg.): Krieg und Verbrechen. Situationen und Inhalte: Fallbeispiele. Martin Meidenbauer, München 2006, ISBN 3-89975-080-2, S. 197–206.
Weblinks
- Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas: Gedenkstättenportal zu Orten der Erinnerung in Europa. Denkmal für die Opfer der Lager von Osaritschi (Einführung – Geschichte – Opfer – Erinnerung)
- United States Holocaust Memorial Museum: Ozarichi 1944, ein Film von Christoph Rass. 2006
- Informationen zu Osaritschi auf der Webseite der Gedenkstätte Chatyn
- Erschütternde Kindheit. Vier Zeitzeugen aus Weißrussland berichteten über ihre Erlebnisse im Konzentrationslager Osaritschi. In: Kölner Stadtanzeiger vom 22. September 2006.
- Als lebendes Schutzschild missbraucht. Larisa Staschkewitsch hat das von der Wehrmacht errichtete Todeslager in Osaritschi überlebt. In: Eßlinger Zeitung vom 13. Januar 2010
Einzelnachweise
- ↑ Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht: deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944 München 2008, S. 328.
- ↑ Christoph Rass: „Menschenmaterial“: Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn 2003, Kapitel „Anatomie eines Kriegsverbrechens“, S. 386–402, Zitat S. 390; vgl. auch Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944. Hamburg 1998, S. 1097 ff.
- ↑ BA-MA Freiburg, RH 20-9/176, zitiert nach Hans Heinrich Nolte: Osarici 1944. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, S. 186–194, hier S. 186.
- ↑ René Rohrkamp: Ozarichi 1944 – Die Beteiligung der 35. Infanterie-Division an einem Kriegsverbrechen gegen Zivilisten. In: Ernst Otto Bräunche (Hrsg. im Auftrag des Stadtarchivs Karlsruhe): Der Zweite Weltkrieg - Last oder Chance der Erinnerung? Widerspruch gegen das Ehrenmal der 35. Infanterie-Division in Karlsruhe; Symposium am 6. November 2014 in der Erinnerungsstätte Ständehaus. Info-Verlag, Karlsruhe 2015, ISBN 978-3-88190-823-8, S. 15–28. (PDF)
- ↑ Christoph Rass: „Menschenmaterial“. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939-1945. Schöningh, Paderborn 2003, S. 395.
- ↑ Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht: deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, S. 328.
- ↑ Hans-Heinrich Nolte, Osarici 1944, S. 190.
- ↑ BA-MA Freiburg, 20–9/197, S. 122, zitiert nach: Hans-Heinrich Nolte, Osarici 1944, S. 189.
- ↑ Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 1088.
- ↑ Hans-Heinrich Nolte, Osarici 1944, S. 190, geht von bis zu 13.000 Toten aus; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 1098, nennt etwa 9000 Tote; ebenso Christoph Rass: „Menschenmaterial“: Deutsche Soldaten an der Ostfront, S. 386 und Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht: deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008, S. 329.
- ↑ Artikel bei Belorusskaja Voennaja Gazeta, 15. März 2013.
- ↑ Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 1099.
- ↑ Christoph Rass: „Menschenmaterial“: Deutsche Soldaten an der Ostfront, S. 387 f.; von dem sowjetischen Oberjustizrat Smirnow vorgelesene längere Passagen aus dem Dokument USSR-4 in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Bd. 7. Verhandlungsniederschriften 5. Februar 1946 bis 19. Februar 1946. Nürnberg 1947, S. 635 ff.
- ↑ Hans-Heinrich Nolte: Osarici 1944, S. 190.
- ↑ Dieter Pohl: Die Kooperation zwischen Heer, SS und Polizei in den besetzten sowjetischen Gebieten. In: Christian Hartmann, Johannes Hürter, Ulrike Jureit (Hg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. Verlag. C.H. Beck München 2005, S. 107–116, hier S. 116.
- ↑ a b Hans-Heinrich Nolte, Osarici 1944, S. 187.
- ↑ Christian Gerlach: Kalkulierte Morde, S. 1098.
- ↑ Info zu Osaritschi auf der Webseite der Gedenkstätte Chatyn
- ↑ Christian Gerlach: Kalkulierte Morde, S. 46 ff. u. S. 1097 ff.; Hans-Heinrich Nolte, Osarici 1944, S. 192.
Koordinaten: 52° 7′ 59,9″ N, 29° 19′ 59,9″ O