Kallocain

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Kallocain ist ein 1940 erschienener Roman der schwedischen Schriftstellerin Karin Boye. Kallocain ist eine Dystopie und bezeichnet im fiktiven Romangeschehen ein nach ihrem Erfinder Leo Kall benanntes Wahrheitsserum.

Kallocain, Deutsche Erstausgabe, Büchergilde Gutenberg 1947

Die Welt

Der Roman zeichnet ein sehr düsteres Bild der Zukunft: Zwei Supermächte, der Weltstaat einerseits und der Universalstaat andererseits, haben die Erde unter sich aufgeteilt.

Der Held Kall lebt im totalitären Weltstaat, der das Leben seiner Bürger restlos bestimmt. Das Leben der Menschen spielt sich in unterirdischen Städten ab, die Oberfläche darf nur mit Sondergenehmigung betreten werden. Die Städte sind stark spezialisiert, der Roman spielt in Chemiestadt Nummer 4. Die Einwohner gehen einer geregelten Arbeit nach, müssen aber auch zusätzlich (nach Feierabend) mehrmals pro Woche Polizei- oder Militärdienst verrichten.

Die Gesellschaft ist insgesamt extrem militaristisch organisiert: die einzig gebräuchliche Anrede ist „Mitsoldat“ (schwedisch „medsoldat“). Auf Feiern wird nicht getanzt, sondern marschiert. Dass auch die genormte private Einheitswohnung mit Mikrofonen und Kameras ausgestattet ist, versteht sich von selbst. Die kaum vorhandene Freizeit sowie die genannte Überwachung führt im Übrigen zu einem Absinken der Geburtenrate. Dennoch entstandener Nachwuchs wird von frühester Kindheit an in staatlichen Einrichtungen erzogen. Nach beendeter Ausbildung werden die Jugendlichen je nach Bedarf in andere Städte umgesiedelt, ohne irgendeinen Kontakt zur Familie halten zu können.

Die Handlung

Das Werk wird aus der Perspektive von Leo Kall in der ersten Person erzählt. Leo Kall ist ein Chemiker, der treu seine Pflichten erfüllt. Er hegt keinerlei regimekritische Ambitionen, sondern hat im Gegenteil eine für den Staat sehr interessante Erfindung gemacht: die blassgrüne Flüssigkeit Kallocain, die als unfehlbares Wahrheitsserum wirkt. Wer sie injiziert bekommt, offenbart jedem Befrager seine geheimsten und innersten Gedanken – und das ohne medizinische Nebenwirkungen.

Der Staat beabsichtigt selbstverständlich, auf diese Weise nach Staatsfeinden zu suchen. Das Problem: Selbst die ersten, freiwilligen Testkandidaten offenbaren verräterische Gedanken – ausnahmslos. Es gibt zwar auch eine echte Sekte von Abweichlern, die von einem friedlichen Zusammenleben träumen, doch diese wird eher zufällig entdeckt.

Im Prinzip läuft die Existenz der Droge darauf hinaus, dass nun jeder versuchen könnte, beliebige Mitsoldaten aus dem Weg zu räumen: eine Denunziation, eine Injektion, ein Geständnis, eine Verurteilung, eine Exekution. In dem Roman wird dargestellt, dass das bereits bestehende und vom Staat geschürte Misstrauen damit vervielfacht werden kann. Denunziert wird unter anderem, um dem Anderen zuvorzukommen, der sonst denunzieren könnte. Leo Kall denunziert seinen Abteilungsleiter Rissen, da er unter anderem der Überzeugung ist, dieser habe ein Verhältnis mit Kalls Frau Linda. Ehen sind in der fiktiven Welt dieses Romans eine reine Zweckgemeinschaft – sie dienen der Generierung von Nachwuchs. Für gewöhnlich werden sie geschieden, sobald die Kinder aus dem Haus sind, also mit fünf Jahren, wenn sie ins Erziehungslager eingezogen werden.

Als Kall nun – privat und unbeobachtet – Linda mittels der Droge zu einem Geständnis ihres Verhältnisses bringen will, offenbart ihm diese, dass sie vielmehr echte Gefühle für Kall empfindet, was durchaus ungewöhnlich ist. Sie verzeiht ihm selbst den Einsatz der Droge, und so wollen sie ihr weiteres Leben gemeinsam bestreiten.

Ausgerechnet jetzt wird die Stadt aber von Truppen des Universalstaates erobert und Kall aufgrund seiner Bedeutung als Wissenschaftler verschleppt. Fortan lebt er in Gefangenschaft, die sich jedoch – dies bemerkt er bereits im Prolog des Buches – kaum spürbar von der zuvor gebotenen "Freiheit" unterscheidet. Die Bedeutung des Prologs wird dem Leser jedoch erst mit dem Schluss des Buches offenbar.

Literatur- und Zeitgeschichte

Der Roman ähnelt in gewisser Weise George Orwells 1984, wurde aber rund acht Jahre früher verfasst. Er spiegelt ebenfalls die realen Verhältnisse im Dritten Reich oder der frühen Sowjetunion wider, es werden allerdings keine Jahreszahlen genannt oder verwertbare geographische Angaben gemacht. Tatsächlich ist Kallocain nur bedingt als Dystopie einzuordnen. Es ist eher eine verdeckte Kritik am Nationalsozialismus, mit dem Schweden kollaborierte. Der Roman gehört somit zur sogenannten schwedischen Bereitschaftsliteratur, die ihre Leser zur Erhaltung demokratischer Grundwerte motivieren sollte.

Wirkungsgeschichte

Das Werk wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt und 1980 von Hans Abramson in einer TV-Serie adaptiert. Deutsche Übersetzungen (1947 von Helga Clemens; 1992 von Helga Thiele; 2018 von Paul Berf) sind unter dem Titel Karin Boye: Kallocain. ISBN 3-518-38760-X und ISBN 3-89029-009-4 erschienen. Die deutschen Ausgaben wurden mit dem Zusatztitel Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert versehen.

Ausgaben

  • Karin Boye: Kallocain. übersetzt von Helga Clemens. Büchergilde Gutenberg, Zürich 1947, Deutsche Erstausgabe.
  • Karin Boye: Kallocain: Roman aus dem 21. Jahrhundert. (= Phantastische Bibliothek. Band 303; Suhrkamp-Taschenbuch. 2260). übersetzt von Helga Clemens. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-38760-X.
  • Karin Boye: Kallocain: Roman aus dem 21. Jahrhundert. übersetzt von Paul Berf. btb Verlag, 2018, ISBN 978-3-442-75775-6.

Literatur

Weblinks