Dimitrie Cantemir

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Dimitrie Cantemir (1716)
Briefmarke der Sowjetunion die Dimitrie Cantemir gewidmet ist, 1973 (Michel 4175, Scott 4132)

Dimitrie Cantemir (russisch: Дмитрий Кантемир, türkisch: Kantemiroğlu, griechisch: Δημήτριος Καντεμίρης; * 26. Oktober 1673 in Silișteni, Fürstentum Moldau; † 21. August 1723 in Dmitrowka bei Charkow, Gouvernement Kiew, Russisches Reich) war ein moldauischer Universalwissenschaftler, Historiker, Musiktheoretiker, Komponist, Geograph und Enzyklopädist. Cantemir diente als Woiwode der Moldau und nach dem Umzug nach Russland war er seit 1711 als Seine Durchlaucht von Russland im Hof von Peter dem Großen beschäftigt.

Herkunft und Familie

Cantemir wurde als Sohn des moldauischen Woiwoden Constantin Cantemir geboren, als Spross der bojarischen Familie Cantemir, die von niederem moldauischen Adel war. Seine Mutter Ana Bantăș war eine hochgebildete Aufklärerin, ebenfalls adliger Herkunft. Dimitrie Cantemir verschwieg allerdings später seine elterliche Herkunft, die ihm unzureichend schien, um eine Abkunft von dem Khan Temir vorzugeben.

Bei Hauslehrern erhielt er Unterricht in Griechisch und Latein und erwarb profunde Kenntnisse der antiken Klassiker. Zwischen 1688 und 1710 wurde er ins Exil nach Konstantinopel gezwungen, wo er die türkische Sprache und die Geschichte des Osmanischen Reiches an der Griechischen Akademie des orthodoxen Patriarchen studierte. Bei seinem Aufenthalt in Konstantinopel diente er auch als eine Art Geisel, um für die Loyalität seines Vaters zu den Osmanen zu bürgen. Dabei diente er als Mittler für osmanische Gebildete zur europäischen Kultur. Er war unter anderem mit dem Großwesir und Literaten Rami Mehmed Pascha befreundet. 1710 kehrte er als Woiwode in die Moldau zurück.

Dort herrschte er nur wenige Wochen,[1] bis er sich 1711 dem Feldzug Peter des Großen gegen das Osmanische Reich anschloss und Moldau unter russische Oberhoheit stellte. Dieser Seitenwechsel scheint die Folge eines Streites mit dem osmanischen Großwesir über die Höhe des Tributes an die Hohe Pforte zu sein. Nach verlorener Schlacht gegen die Osmanen floh Cantemir nach Russland, wo er sich niederlassen konnte. Von Peter dem Großen wurde ihm der Titel Prinz (Knes) des Russischen Reiches verliehen. Von Karl VI. erhielt er den Ehrentitel Fürst des Heiligen Römischen Reiches. In seinen letzten Lebensjahren soll er von einer tiefen Sehnsucht nach Konstantinopel und der osmanischen Kultur erfüllt gewesen sein. Nun habe er vermehrt versucht, osmanische Sichtweisen im Abendland bekannt zu machen. Er starb nördlich des heutigen Charkiw und wurde in Moskau begraben.

Cantemir war zweimal verheiratet. Zuerst heiratete er in Iași am 9. Mai 1699 Cassandra Cantacuzene (1682–11. Mai 1713) und am 14. Januar 1717 in Sankt Petersburg Anastassija Trubezkaja (14. Oktober 1700 bis 27. November 1755).

Kinder von Dimitrie Cantemir

Historiker

1714 wurde Cantemir Mitglied der Brandenburgischen Societät der Wissenschaften in Berlin. In den Jahren von 1711 bis 1719 schrieb er seine wichtigsten Werke. Er war einer der großen Sprachwissenschaftler seiner Zeit, nicht nur, weil er elf Sprachen beherrschte. Außergewöhnlich waren auch seine im Osmanischen Reich erworbenen Kenntnisse. Als vielbeachteter und origineller Autor gewann er großen Einfluss in vielen Themenfeldern. Sein wichtigstes Werk war die bekannte Geschichte der Entstehung und des Verfalls des Osmanischen Reiches. Es zirkulierte ungedruckt über mehrere Jahre als Manuskript in Europa, bevor es 1734 in London gedruckt und ins Deutsche und Französische übersetzt wurde. Als Standardwerk galt es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Später wurde es wegen zweifelhafter Quellen angefochten. Dieses Werk wird als Rechtfertigung seines Verrates am Osmanischen Reich gedeutet. Dabei wollte er seinen Verrat nicht als einfachen Abfall eines Vasallen von seinem Oberherrn betrachtet wissen. Cantemir nutzte dazu eine osmanische Denkfigur, allerdings in einem ganz anderen Sinn. Nach osmanischen Historikern war die Denkfigur, dass sich das Osmanische Reich ab dem 17. Jahrhundert im Niedergang befand, dieses könne man aber durch kluge Politik aufhalten, was die Historiker in ihren Ratschlägen zum Ausdruck brachten. Cantemir sah hingegen die Schwierigkeiten des Osmanischen Reiches als günstige Gelegenheit für seine eigene Politik, und meinte, er greife mit seinem Abfall nur der Unabhängigkeit seines Staates vor. Cantemirs Werk fußt auf zwei Traditionen: Der Text orientiert sich sehr stark an osmanischen Reichschroniken mit einer Gliederung nach Regierungsjahren der Sultane. Eher in der Tradition griechisch-römischer Historiographie sind hingegen die fiktiven wörtlichen Zitate der Protagonisten, die Cantemir ihnen in den Mund legt. In seinem Werk nimmt er Partei für die orthodoxe Kirche und weniger offensichtlich auch für den russischen Zaren. Trotzdem zeigt er Bewunderung für die osmanische Staatsordnung, z. B. die Gratifikation für die Soldaten, die Machtbalance zwischen Großwesir und Sultan usw.

Weitere Bücher behandelten Orientalische Musik (verschollen) sowie kritisch die erste Geschichte Rumäniens unter dem Titel Historia Hieroglyphica, in welcher er die handelnden Personen verschlüsselt als Tiere auftreten ließ. Weiterhin beschrieb er die Geschichte der zwei herrschenden Familien derer von Brâncoveanu und Cantacuzino, wobei ihm – reputationsschädlich – einige Fehler durch Fälschungen und Mystifizierungen unterliefen. Eine philosophische Abhandlung unter dem rumänischen Titel Divanul sau Gâlceava Înțeleptului cu lumea sau Giudețul sufletului cu trupul wurde ins Griechische, Arabische, Französische (Le divan ou la dispute du sage avec le monde ou le jugement de l'âme avec le corps) und ins Englische (The Divan or The Wise Man's Parley with the World or The Judgement of the Soul with the Body) übersetzt.

Musikwissenschaftler

Cantemir arbeitete als Komponist und als Theoretiker Osmanischer Musik. Sein Buch Kitâbu 'Ilmi'l-Mûsikí alâ Vechi'l-Hurûfât (Das Buch der schriftlichen Musikwissenschaft, veröffentlicht 1698 in Iași) behandelt nicht nur die Praxis von Melodie und Rhythmus Osmanischer Musik, sondern enthält auch zeitgenössische und vorhergehende Arbeiten in einer von ihm selbst entwickelten Notation, Arbeiten, welche ohne Cantemir ansonsten verloren gegangen wären.

Geograph

Auf Bitten der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin schrieb Cantemir 1714 die erste geographische, ethnographische, ökonomische Synopse Moldaus unter dem Titel Descriptio Moldaviae. Wieder zirkulierte das Manuskript, bevor es (auf Deutsch) 1769 in einer Zeitschrift und 1771 als Monographie gedruckt wurde. Zur Entstehungszeit des Werkes fertigte Cantemir auch eine handschriftliche Karte Moldaus an, der ersten Landkarte dieser Region überhaupt. Sie enthielt geographische und administrativ-politische Informationen und wurde 1737 in den Niederlanden gedruckt und galt lange als Standardwerk.

Romanist

In seinem Werk Descriptio Moldaviae zeigte Cantemir sich auch als früher Romanist. Er bewies die Abstammung des Rumänischen vom Lateinischen, verglich es mit dem Italienischen und diskutierte zahlreiche Kontaktsprachen, die im Rumänischen ihre Spuren hinterlassen hatten.

Sonstiges

Ein Haus im Istanbuler Stadtteil Fener, das Cantemir während seines Aufenthalts im Osmanischen Reich als Wohnsitz diente, wurde als Museum eingerichtet.

Schriften

Sekundärliteratur

An Sekundärliteratur über Cantemir sind besonders Veröffentlichungen der rumänischen Historikerin und Musikwissenschaftlerin Eugenia Popescu-Judetz zu nennen, die in verschiedene Sprachen übersetzt sind, z. B.

  • Eugenia Popescu-Judetz: Prince Dimitrie Cantemir. Theorist and Composer of Turkish Music. Pan Yayıncılık, Istanbul 1999, ISBN 975-7652-82-2.

Außerdem:

  • Klaus Bochmann, Vasile Dumbrava (Hrsg.): Dimitrie Cantemir. Fürst der Moldau, Gelehrter, Akteur der europäischen Kulturgeschichte (= Veröffentlichungen des Moldova-Instituts Leipzig. Bd. 3). Leipziger Universitäts-Verlag, Leipzig 2008, ISBN 978-3-86583-257-3.
  • Tudor Dinu: Dimitrie Cantemir şi Nicolae Mavrocordat. Rivalităţi politice şi literare la începutul secolului XVIII. Editura Humanitas, Bukarest 2011, ISBN 978-973-50-3090-2, Rumänische Kurzpräsentation des Autors, Erstes Kapitel (teilweise) und Inhaltsverzeichnis (PDF; 407 kB), Englische Buchpräsentation, Buchanzeige auf der Seite der Europäischen Gesellschaft für Neogräzistik. („Demetrios Kantemiris und Nikolaos Mavrokordatos. Politische und literarische Rivalität zu Beginn des 18. Jahrhunderts“.).
  • Klaus Kreiser: »Hat viel curiöse Sachen unter Händen«. Dimitrie Cantemir – Islamkenner, Historiker, Musiker und gebildeter Universalist. In: Berliner Philharmoniker – das magazin, März/April 2011 (online).
  • Jens Lüdtke: Diachrone romanische Sprachwissenschaft und Sprachgeschichtsschreibung. In: Lexikon der Romanistischen Linguistik. (LRL). Band 1, 1: Geschichte des Faches Romanistik, Methodologie (das Sprachsystem). = Histoire de la philologie romane, méthodologie (langue et système). Max Niemeyer, Tübingen 2001, ISBN 3-484-50231-2, S. 1–35, hier S. 23.
  • Jürgen Storost: 300 Jahre romanische Sprachen und Literaturen an der Berliner Akademie der Wissenschaften (= Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Bd. 4). Band 1. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2001, ISBN 3-631-38312-6, S. 31–36 (Zugleich: Berlin, Freie Universität, Habilitationsschrift, 2000).

Weblinks

Commons: Dimitrie Cantemir – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Stefan Lemny: Les Cantemirs: L'aventure Européene d'une Famille Princière au XVIIIe Siecle. Editions Complexes, Paris 2009, S. 51.
  2. Neu herausgegeben von Owen Wright als
    Demetrius Cantemir: The Collection of Notations. Volume 1: Text. 1992, ISBN 978-0-7286-0191-8
    Demetrius Cantemir: The Collection of Notations. Volume 2: Commentary. 2001, ISBN 978-0-7546-0281-1
    Herausgegeben von Yalçın Tura:
    Kantemiroğlu: Kitābu ʿİlmi'l-Mūsīkī ʿalā vechi'l-Ḥurūfāt. = Mûsikiyi Harflerle Tesbit ve İcrâ İlminin Kitabı. 2 Bände. Yapı Kredi Yayınları, Istanbul 2001, ISBN 975-08-0167-9.
    Faksimileedition durch das Institut für die Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Münster in Vorbereitung, s. Website des Lehrstuhls für Ethnomusikologie