Kanzeluhr
Eine Kanzeluhr, auch Predigtuhr genannt, ist eine an der Kanzel angebrachte Uhr, die dazu dient, die Dauer der Predigt vorzugeben.
Formen und Verwendung
Eine Kanzeluhr war „gewöhnlich eine Sanduhr auf der Kanzel, nach welcher sich die Prediger in Ansehung der Länge ihrer Predigt richten können“.[1] So konnten der Pfarrer seine Predigtzeit einhalten und zugleich seine Zuhörer abschätzen, wie lange die Predigt voraussichtlich noch währen wird. In der Regel war die Kanzeluhr eine sogenannte „Predigtsanduhr“: Sie bestand aus zumeist vier nebeneinander angebrachten Sanduhren, deshalb auch „viergläsrige Sanduhr“ genannt. (Gelegentlich hatte sie auch zwei, drei oder sechs Gläser.) Dabei gab es zum einen Kanzeluhren, die in je einer Viertelstunde durchliefen.[2] Bei Predigtbeginn drehte der Küster die Sanduhr um. Der erste Abschnitt der Predigt, die Hinführung zur Predigtperikope, dauerte ein Glas lang, also 15 Minuten. Nach dem Verlesen des biblischen Textes wurde das zweite Glas umgedreht: Die Hauptpredigt begann, die gewöhnlich aus drei, je ein Glas dauernden Teilen bestand, so „daß erst mit dem letzten verrinnenden Körnlein das oft lang ersehnte Amen erfolgte“.[3] Bei anderen Modellen wurde die viergläsrige Sanduhr zu Predigtbeginn als Ganze gedreht.[4] In diesem Fall unterschieden sich die Gläser in der Durchlaufgeschwindigkeit des Sandes: z. B. 15, 30, 45 und 60 Minuten[5] oder 15, 20, 25 und 30 Minuten.[6]
Seltener und in der Regel erst seit dem 18. Jahrhundert wurden mechanische Uhren als Kanzeluhr verwendet, so etwa in der Peterskirche in Görlitz und in der St.-Martini-Kirche in Stadthagen. Die einfachste, nur in wenigen Fällen erhaltene Form der Kanzeluhr ist eine Kerze, die in einem an der Kanzel befestigten Glas niederbrennt.
Zweck
Insofern Prediger heutzutage darauf achten, nicht zu lange zu predigen, wird häufig angenommen, dass Kanzeluhren vor allem vor übermäßiger Predigtdauer bewahren sollten. „Nun war der Sand durch die Uhr gelaufen, die Predigt selbst geschlossen“, heißt es im Roman Vor dem Sturm von Theodor Fontane.[7] Die 1717 für die Johanniskirche in Werben an der Elbe angeschaffte (mechanische) Kanzeluhr „schlug alle Viertelstunden an, nach einer Stunde aber sehr laut und stark als Mahnung für den Prediger fini sermonem“ (auf Deutsch: mit der Predigt zu Ende zu kommen).[8] In der Zeit der Aufklärung war die Obrigkeit darauf bedacht, dass das Volk nicht zu viel Zeit auf „unproduktive Tätigkeiten“ verwandte, sondern gefälligst arbeitete.[9] In der Gefürsteten Grafschaft Nassau-Weilburg verfügte der Fürst im Jahre 1749:[10]
„Daß künftig jeder Pfarrer sich mit dem Konzept seiner Predigt so einrichten soll, daß er bei dem öffentlichen Gottesdienst, einschließlich Gebet und Predigt, nicht länger als dreiviertel Stunde auf der Kanzel aufhält.
Daß ein jeder Pfarrer sogleich bei seinem Auftritt auf die Kanzel die dort anzubringende Sanduhr umdrehen und auf ihren Ablauf achten soll.“
Ältere Kirchenordnungen gaben eher eine Mindestpredigtdauer vor. Insofern dienten Kanzeluhren ebenso dazu, zu überwachen, dass der Prediger „sein Soll, für das er bezahlt wurde, auch einhielt“.[6]
Gelegentlich nutzten die Prediger die Kanzeluhr bei den in der Barockzeit häufigen „Memento mori“- und „Vanitas“-Predigten, um den Zuhörern zu veranschaulichen, wie ihre Lebenszeit unaufhaltsam verrinnt.
Geschichte
Eine sehr alte, angeblich aus dem Jahre 1439 stammende Kanzeluhr befindet sich im Bestand der Priesterhäuser in Zwickau.[11] Die älteste bekannte Abbildung eines Kircheninnenraumes, die eine Kanzeluhr zeigt, stammt aus dem Jahre 1520.[12]
Weil die Predigt den größten (längsten) Teil des lutherischen Sonntagsgottesdienstes ausmachte und erst recht im reformierten Gottesdienst, waren Kanzeluhren vor allem in protestantischen Kirchen im 17. und im 18. Jahrhundert in Gebrauch, in manchen Landeskirchen schon seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In einigen Landeskirchen war die Kanzeluhr vorgeschrieben, in anderen empfohlen.[13] Eine Kirchen- und Schulordnung von 1565 schreibt vor: „Die Morgend- wie auch alle anderen Predigten sollen durchaus nicht über eine Stunde dauern, deshalb auf jeder Kanzel eine richtige Sanduhr angeschaffet … die bei Betretung umgewendet werden soll.“[14]
In der katholischen Sonntagsmesse steht die Predigt nicht an erster Stelle. Kanzeluhren sind deshalb in katholischen Kirchen unüblich.
Der Großteil der Kanzeluhren wurde im 19. und im 20. Jahrhundert als „nicht mehr zeitgemäß“ im Zuge von Renovierungen aus den Kirchen entfernt, wie etwa bei der „Ausweißung“ der Kirche in Kemnitz 1856.[15] Im besten Fall wurden die abgebauten Kanzeluhren Heimatmuseen oder regionalen kulturgeschichtlichen Museen überlassen.
Erhaltene Kanzeluhren in Kirchen
U.a. in folgenden Kirchen ist die Kanzeluhr erhalten:
In Deutschland
Baden-Württemberg
- in der Heiligkreuzkirche in Erlach bei Schwäbisch Hall
Bayern
- in der Kirche St. Oswald in Großwalbur
- in der evangelischen Spitalkirche in Hersbruck
- in der St.-Nikolai-Kirche in Marktbreit
- in der evangelischen Neupfarrkirche in Regensburg
- in der evangelischen St.-Bartholomäus-Kirche in Sommerhausen
Berlin
- in der Dorfkirche Alt-Staaken
Brandenburg
- in der Kirche in Ahrensdorf bei Ludwigsfelde
- in der Dorfkirche in Kleinmachnow
- in der evangelisch-lutherischen Kirche in Lebusa
- in der Dorfkirche in Meseberg bei Gransee
- in der Gutskirche in Tornow bei Wusterhausen an der Dosse
Hamburg
- in der Hauptkirche Sankt Michaelis
Hessen
- in der Stadtkirche Lauterbach in Lauterbach
- in der evangelischen Kirche in Sachsenberg, Gemeinde Lichtenfels
Mecklenburg-Vorpommern
- in der Dorfkirche in Demern
- in der Sankt-Jacobs-Kirche in Kasnevitz auf Rügen
- in der Fachwerkkirche in Matzlow
- in der Seemannskirche in Prerow
- in der St.-Johannis-Kirche in Rerik
Niedersachsen
- in der reformierten Kirche St. Willehad in Accum bei Schortens
- in der St.-Johannis-Kirche in Arenshorst bei Bohmte
- in der Kirche im St. Nicolaihof in Bardowick bei Lüneburg
- in der St.-Martini-Kirche in Stadthagen
- in der St.-Georg-Christophorus-Jodokus-Kirche in Stellichte bei Walsrode
- in der St.-Johannis-Kirche in Wolfenbüttel
Nordrhein-Westfalen
- in der evangelischen Kirche in Lünern bei Unna (nur der Rahmen erhalten)
Rheinland-Pfalz
- in der Bergkirche in Bad Bergzabern
- in der Friedenskirche in Grünstadt
- in der Paulskirche in Kirchheimbolanden
Sachsen
- in der Kirche in Burkersdorf bei Frauenstein
- in der Chorturmkirche in Döben bei Grimma
- im Dom St. Marien in Freiberg
- in der Peterskirche in Görlitz
- in der Kirche von Leubnitz-Neuostra bei Dresden
- in der Pfarrkirche in Ludwigsdorf bei Görlitz
- in der Dorfkirche in Pfaffroda
- in der Stadtkirche Sankt Marien in Torgau
- im Dom St. Marien in Wurzen
- in der Kirche in Zuschendorf bei Pirna
In der St.-Bartholomäus-Kirche in Röhrsdorf in Sachsen wurde im Jahr 2014 ein Nachbau der 1912 entfernten Kanzeluhr angebracht.[16]
Sachsen-Anhalt
- in der Kirche St. Arnold in Breitungen im Südharz
- im Dom zu Halberstadt
- in der Kirche in Labrun bei Annaburg
- in der Patronatskirche in Meisdorf bei Falkenstein/Harz
- in der Kirche St. Marien und Willebrord in Schönhausen
- in der Johanniskirche in Werben an der Elbe
- in der Dorfkirche in Wust
Schleswig-Holstein
- in der Dorfkirche Behlendorf in Behlendorf im Kreis Herzogtum Lauenburg
- in der Petrikirche in Bosau
- in der St.-Andreas-Kirche in Brodersby
- in der Kirche St. Marien-Magdalenen in Erfde
- in der Marienkirche in Flensburg
- in der St.-Katharinen-Kirche in Gelting
- in der St.-Laurentius-Kirche in Langenhorn (Nordfriesland)
- in der St.-Johannes-Kirche in Neukirchen (Nordfriesland)
- in der St.-Marien-Kirche in Sörup
Thüringen
- in der St.-Georgen-Kapelle in Arnstadt
- in der Kirche Zum Heiligen Kreuz in Bettenhausen
- in der Kirche St. Bonifatius in Blankenburg
- in der Kirche in Friesau
- in der evangelischen Kirche in Großneundorf
- in der Dorfkirche in Helmershausen
- in der Kirche St. Markus in Oschitz bei Schleiz
- in der Bergkirche St. Marien in Schleiz
- in der Kirche St. Christophorus in Tiefurt bei Weimar
In weiteren Ländern
Niederlande
- in der Nicolaaskerk in Haren
- in der Jacobuskerk in Renesse
- in der Maartenskerk in Wemeldinge
Schweiz
- im Berner Münster
- in der Kirche in Wimmis, Kanton Bern
Skandinavien
- in der Christianskirche in Kopenhagen
- in der Reformert Kirke in Kopenhagen
- in der Sankt Johannes Kirke auf Kegnæs
- in der Ny Kirke auf Bornholm
- in der Kirche von Trondenes bei Harstad
- in der Deutschen Kirche in Stockholm
- in der Kirche von Gammelgarn auf Gotland
- in der Kirche von Stenkyrka auf Gotland
- im Dom zu Visby auf Gotland
- in der „Alten Kapelle“ auf der Insel Ulvön in Ångermanland
Kanzeluhren in Museen
Kanzeluhren finden sich u. a. in folgenden Museen:
- im Schiffahrtsmuseum der oldenburgischen Unterweser in Brake
- in der Uhrensammlung des Mathematisch-Physikalischen Salons in Dresden
- im Volkskundemuseum Erfurt
- im Stiftskirchenmuseum in Himmelkron
- im Museum Schnütgen in Köln
- im Schloss Ludwigslust
- im Stadtmuseum Meißen
- in Museum am Lindenbühl in Mühlhausen
- im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg
- im Fränkischen Museum in Feuchtwangen
- im Burgmuseum in Querfurt
- im Saarländischen Uhrenmuseum in Püttlingen-Köllerbach
- im Salzlandmuseum in Schönebeck (Elbe)
- im Staatlichen Museum in Schwerin
- im Grafschaftsmuseum in Wertheim
- im Museum Kirche in Franken in Bad Windsheim
- im Lutherhaus in Wittenberg
- in den Kunstsammlungen Zwickau
- im Uhrenmuseum L. U. Ceum – Spuren der Zeit in Fleurier, Schweiz
- im Science Museum in London
Literatur
- Reiner Dieckhoff: Zu einer neuerworbenen Kanzeluhr im Schnütgen-Museum. In: Bulletin der Museen der Stadt Köln, Jg. 1978.
- Peter Faßbender: Die Predigtuhr der Kirche St. Peter in Görlitz. In: Schriften des Historisch-Wissenschaftlichen Fachkreises „Freunde Alter Uhren“ in der Deutschen Gesellschaft für Chronometrie, Jg. 33 (1994), S. 54–57.
- Lothar Hasselmeyer: Geschichte und Geschichten einer Sanduhr – der Kanzeluhr von Gröditz. In: Oberlausitzer Hausbuch. Lusatia-Verlag, Bautzen 2002, S. 96–97.
- Hermann Heß: Sanduhren als Zeitmesser im Gottesdienst. In: Turmhahn. Zeitschrift für Bauen und Kunst in der Evangelischen Kirche der Pfalz, Jg. 4 (1960), H. 3, S. 7–8.
- Inken Knoch: Kanzel-Sanduhren, Prediger und Predigten im nachreformatorischen Schleswig-Holstein. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, Reihe 2: Beiträge und Mitteilungen, Jg. 46 (1993).
- Horst Landrock: Alte Uhren – neu entdeckt. Geschichte, Gang und Spiel. Verlag Technik, Berlin 1981. Darin das Kapitel 5.8: Die mechanische Kanzeluhr, S. 107–108.
- Art. Kanzeluhr. In: Fritz von Osterhausen: Callweys Uhrenlexikon. Callwey, München 1999, ISBN 3-7667-1353-1.
- Karl-Heinz Pohl: Für die Gelehrsamkeit, für Kanzel und Seefahrt. Geschichte und Konstruktion der Sanduhr. In: Kunst und Antiquitäten, Jg. 1979, H. 1, S. 23–28.
- Heimo Reinitzer: Tapetum Concordiae. Peter Heymans Bildteppich für Philipp I. von Pommern und die Tradition der von Mose getragenen Kanzeln. De Gruyter, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-027887-3, S. 201–218.
- Joachim Salzgeber: 200 Jahre Kanzeluhr (in der Stiftskirche Einsiedeln). In: Maria Einsiedeln, Jg. 90, 1985, S. 311–314.
- Karl Thomas: Kanzelsanduhren in Waldeck. In: Geschichtsblätter für Waldeck, Jg. 90 (2002).
- Dagmar Thormann: Zwei Windesheimer <sic! – soll heißen: Windsheimer> Kanzelsanduhren. In: Andrea Thurnwald (Hg.): „… die Predigt und sein Wort nicht verachten“. Zur Bedeutung der Predigt in der Tradition evangelischer Gemeinden in Franken. Fränkisches Freilandmuseum, Bad Windsheim 1993, ISBN 3-926834-26-9, S. 54–55.
- Peter Wasem: „… bis zwei Stunden auf der Kanzel bleiben“. Die Sanduhr in der Kirchheimbolander Paulskirche. In: Donnersberg-Jahrbuch, Jg. 31 (2008), S. 113–115.
- Fränkisches Museum Feuchtwangen – Führer durch die Sammlungen; Verein für Volkskunst und Volkskunde e. V. Feuchtwangen (Hrsg.); Druckerei Sommer, 1948.
Fußnoten
- ↑ Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 2: F bis K. Braunschweig 1808, S. 885.
- ↑ Gudrun Tabbert: Eine letzte Erinnerung an die alte Sanduhr der evangelischen Kirche in Neutomischel, abgerufen am 3. März 2015.
- ↑ Heinrich Alt: Der christliche Cultus nach seinen verschiedenen Entwickelungsformen und seinen einzelnen Theilen historisch dargestellt. G.W.F. Müller, Berlin 1843, Kapitel 7: „Das Gotteshaus und seine innere Einrichtung“, Absatz 4: „Die Sanduhr“, S. 98–99, Zitat S. 98 (Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek).
- ↑ Günter Kuschnik: Sanduhr bestimmt Länge der Predigt. In: Nordwest-Zeitung online, 15. März 2006 (über eine Kanzeluhr im Schiffahrtsmuseum der oldenburgischen Unterweser).
- ↑ In welcher Kirche gibt es noch eine Kanzeluhr? (zu einem Beitrag in der Sendereihe „Außenseiter Spitzenreiter“, ausgestrahlt vom MDR am 11. November 2011), abgerufen am 3. März 2015.
- ↑ a b Rosl Schäfer: Georg-Christophorus-Jodokus-Kirche Stellichte. Walsrode 2008, S. 15.
- ↑ Theodor Fontane: Werke in fünf Bänden, Bd. 1: Vor dem Sturm. Nymphenburger Verlagshandlung, München 1974, S. 37 (über die „dreigeteilte“ Predigt von Pastor Seidentopf in Hohen-Vietz).
- ↑ Deutsches Pfarrerblatt, Jg. 1932, S. 427.
- ↑ uhrenlexikon.de: Geschichte der Sanduhr
- ↑ Zitiert nach Peter Wasem: Die Sanduhr auf der Kanzel (Memento vom 13. September 2015 im Internet Archive), abgerufen am 4. März 2015.
- ↑ Zwickauer Priesterhäuser widmen sich Martin Luther, abgerufen am 3. März 2015.
- ↑ Sanduhren – Kirchenuhren, abgerufen am 5. März 2015.
- ↑ Dorothee Reimann: Die Sanduhr in St. Marien zu Torgau. In: Monumente, Jg. 2005, Heft 11/12, S. 22–23, hier S. 22.
- ↑ Zitiert in: Gemeindebrief der Evangelischen Kirchengemeinde Werden, Ausgabe 03/2008.
- ↑ Cornelius Gurlitt: Amtshauptmannschaft Löbau (= Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, Bd. 34). C. C. Meinhold, Dresden 1910, S. 232.
- ↑ Kirchenbrief der Ev.-Luth. St. Bartholomäus Kirchengemeinde Röhrsdorf, Februar–Juni 2014 (Memento vom 22. Februar 2016 im Internet Archive) S. 12.