Karl Joachim Weintraub

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Karl Joachim Weintraub, auch als Jock Weintraub bekannt, (* 1924 in Darmstadt, Deutsches Reich; † 25. März 2004 in Chicago, Illinois) war ein US-amerikanischer Historiker. Er lehrte seit 1954 an der University of Chicago und forschte auch auf den Gebieten der Sozialtheorie, Kulturgeschichte und Geisteswissenschaften.[1]

Leben

Weintraub wurde in Darmstadt als Sohn eines jüdisch-russischen Vaters und einer christlich-deutschen Mutter geboren.[2] Ab 1935 besuchten er und seine Schwester, Tatjana Wood (geborene Weintraub), die Quäkerschule Eerde. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges musste er sich vor den Nazis in Sicherheit bringen und wurde von einer christlichen Familie versteckt. 1948 konnten Weintraub und seine Schwester mit Unterstützung der Quäker in die USA einreisen, wo man ihm riet, seine Ausbildung in Chicago fortzusetzen.[1][3]

Während seines College- und Studienjahre in Chicago arbeitete er nebenbei in unterschiedlichen Jobs, so zum Beispiel als Nachtportier in einem Hotel, das später als Studentenwohnheim diente.[2] 1949 legte er die Bachelor-Prüfung ab, 1952 die Master-Prüfung. Seit 1954 unterrichtete er als Doktorand an der Universität im „Western Civilization Program“, bevor er 1957 in Geschichte promoviert wurde.[1] Einer der wichtigsten Lehrer Weintraubs war ein anderer Emigrant an der University of Chicago: Christian W. Mackauer (1897–1970), „dessen selbstlose Hingabe an den ‚Western Civilization course‘ [..] zu einem Vorbild für den jüngeren Mann wurde“.[4]

Weintraub war mit zahlreichen Führungspositionen an der Universität betraut worden. Er war Vorsitzender des Western Civilization Seminars, Vorsitzender des Ausschusses für Kulturgeschichte und Dekan der Geisteswissenschaftlichen Abteilung. Auch Kunstinstituten außerhalb der Universität war er eng verbunden.[1]

Weitraubs Frau, Katy O'Brien Weintraub, war in den 1970er Jahren eine seiner Studentinnen. Die beiden heirateten 1983, und sie wurde 1987 seine Kollegin an der Universität.[5] 1990 wurde Karl Joachim Weintraub in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Obwohl Karl Weintraub längst emeritiert und gesundheitlich angeschlagen war, unterrichtete er noch bis 2002, weigerte sich aber, dafür ein Gehalt zu akzeptieren. Er erlag mit 79 Jahren einem Gehirntumor.[6]

Lehre und Lehren

Hans A. Schmitt, deutsch-amerikanischer Historiker und wie die Geschwister Weintraub Schüler der „Quäkerschule Eerde“, erinnert an Karl J. Weintraub als einen „landesweit anerkannten Lehrmeister“.[7] Diese Einschätzung wird durch die vielen Nachrufe immer wieder bestätigt. „Sein Teilgebiet der History of Western Civilization war eine der Hauptattraktionen Anfang dieses Monats, als mehr als tausend Studenten Schlange standen und dann die Nacht auf dem Campus verbrachten, um sich Plätze in den Klassen ihrer Wahl zu sichern. Obwohl die Studenten einen Civilization-Kurs belegen müssen, können sie aus mehr als einem Dutzend verschiedener Kurse wählen, einschließlich der sogenannten Western Civ.“[8] Alan Mendelson, ein früherer Schüler Weintraubs, bestätigte, dass dessen Kurse schon Mitte der 1960er Jahre sehr berühmt waren. Und Amy Kass, eine Dozentin der University of Chicago ergänzte, dass andernorts die Studenten im Freien schliefen, um ein Basketball-Ticket zu ergattern, während sie es in Chikago für einen Platz in Weintraubs Kursen taten. „That's the difference between other schools and Chicago. Here it was for Jock.“[6] In ihrem Nachruf stellt die University of Chicago fest, dass von Weintraub für viele Chicagoer Studenten der wichtigste Bildungseinfluss in ihrem Leben ausgegangen sei. Mitfühlend und zugänglich, sei er eine ständige Inspiration für sie gewesen und ihnen auch nach ihrer Campus-Zeit verbunden geblieben.[1]

Weintraubs wissenschaftliche Arbeiten konzentrierten sich auf Kulturgeschichte, Autobiographieforschung und die Geschichte des Selbst im Kontext der westlichen Zivilisation. Er erkannte, dass die autobiographischen Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts in ihren Geschichten oft das Narrativ einer Entwicklung benutzt haben – im Unterschied zu früheren Autobiographien, die sich des Narrativs der „Entfaltung“ bedienten.[9] Die Grundzüge seiner autobiografischen Forschungen, in denen Autobiographien als Quellen für die Entwicklungsgeschichte der Individualität gelesen werden, liefert Weintraub in seinem Buch The Value Of The Individual.

„Auf der Basis der Annahme, daß sich das metaphysisch verankerte Selbst in autobiographischen Texten selbst darstellt und daß ‹both self and representation are as hold, indivisible, and unitary as the ‚I‘ that marks the space of selfhood on the page of autobiography›, trägt Karl Joachim Weintraub [..] über autobiographische Texte von Augustinus bis Goethe eine Entstehungsgeschichte dieses modernen westlichen Selbstverständnisses, das er unter dem Begriff individuum ineffabile faßt, zusammen. Dabei geht er von der entscheidenden Setzung aus, daß ‹the proper form of autobiography› diejenige sei, in der ‹a self-reflexivc person asks ‚who am I?‘ and ‚how did I become what I am‘?› Höhepunkt und Vollendung seiner Suche nach den Bedingungen für eine solche selbstbewußte Individualität sieht Weintraub folgerichtig im ausgehenden 18. Jahrhundert in Goethes Dichtung und Wahrheit dokumentiert. Hier findet er die ausgewogene autobiographische Mischung aus liebevoller Kultivierung sowohl partikularer Interessen als auch der von der Aufklärung formulierten gemeinsamen und universalen Ideale der Menschlichkeit; die Entfaltung einer Individualität mithin als gleichzeitig einzigartiges Selbst und Repräsentant seiner Welt.“[10]

Weintraub musste es noch miterleben, dass der Forschungsbereich über die westliche Zivilisation von einer jüngeren Generation der Fakultät verkleinert und verändert wurde. Unverändert blieben nur die Kurse, die die beiden Weintraubs noch anboten. Seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus waren die Basis seiner Entschlossenheit, wenigstens seinen Kurs am Leben zu erhalten. „Ich hatte genug vom Leben ohne Zivilisation“, zitiert ihn die Chicago Tribune über den Kampfe um das reduzierte Lehrangebot.[6]

Werke

Unter der Vielzahl von Publikationen, die Weintraub veröffentlichte, gelten zwei als seine Hauptwerke:

  • Visions Of Culture (1966, eine Studie über Kulturhistoriker wie Jacob Burckhardt und Johan Huizinga)
  • The Value Of The Individual: Self and Circumstance in Autobiography (1978)

Literatur

  • Antje Kley: „Das erlesene Selbst“ in der autobiographischen Schrift. Zu Politik und Poetik der Selbstreflexion bei Roth, Delany, Lorde und Kingston, Gunter Narr Verlag, Tübingen, 2001, ISBN 978-3-8233-5650-9.
  • Gabriele Blod: Lebensmärchen. Goethes "„Dichtung und Wahrheit“ als poetischer und poetologischer Text, Königshausen und Neumann, Würzburg, 2003, ISBN 978-3-8260-2566-2.
  • Penny Schine Gold & Benjamin C. Sax (Editors): Cultural Visions. Essays in the History of Culture, Editions Rodopi B.V., Amsterdam & Atlanta, 2000, ISBN 90-420-0490-8. Die Essays dieses Buches sind Karl Joachim Weintraub gewidmet und würdigen in besonderem Maße The Value Of The Individual.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e Nachruf auf Karl Weintraub der University of Chicago vom 26. März 2004
  2. a b A Tough Teacher Whose Classes Are a Big Draw. The New York Times,May 27, 1990
  3. Nach anderen Quellen fand die gesamte Familie in Holland Unterschlupf und konnte dann auch gemeinsam in die USA einreisen. University mourns Weintraub - The Chicago Maroon – 2. April 2004
  4. CHICAGO JEWISH PHILANTHROPISTS, in: Chicago Jewish History, Vol. 28, No. 2, Spring 2004. Mackauer ist ein weitgehend unbekannter Wissenschaftler, was möglicherweise daran liegt, dass er sich primär als Lehrer verstand und selbst wenig publizierte. Karl Joachim Weintraub – Teacher of Culture and Cultural Historian – 1924-2004. Transkript einer Rundfunksendung aus dem April 2004: „As a devoted student, [Weintraub] also edited a posthumous collection of Mackauer's unpublished lectures, appropriately titling it ‚A teacher at his best . . . ‘ (1973).“
  5. University mourns Weintraub - The Chicago Maroon – 2. April 2004
  6. a b c Karl Joachim Weintraub, 79, U. of C. prof's class had appeal like rock concert – Chicago Tribune, 27. März 2004
  7. Hans A. Schmitt: Lucky Victim. An Ordinary Life in Extraordinary Times 1933-1946, Louisiana State University Press, Baton Rouge, 1989, ISBN 0807115002, S. 94. „Karl J. Weintraub, nationally recognized as a master teacher [..].“
  8. „His section of the History of Western Civilization was one of the prime attractions earlier this month when more than a thousand students lined up and then spent the night on campus to secure places in the classes of their choice for fall. Although undergraduates are required to take a civilization course, they can choose from more than a dozen different ones, including what is known as Western Civ.“ A Tough Teacher Whose Classes Are a Big Draw. The New York Times, May 27, 1990
  9. Philip Holden: Autobiography and Decolonization, University of Wisconsin Press, 2008, p. 18.
  10. Antje Kley: „Das erlesene Selbst“ in der autobiographischen Schrift, S. 68 ff. Zu einer möglichen Fehldeutung von Dichtung und Wahrheit durch Weintraub siehe auch: Gabriele Blod: Lebensmärchen, S. 14