Kulturgeographie

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Die Kulturgeographie als ein traditioneller Teil der Geographie beschäftigt sich mit dem Einfluss der menschlichen Geisteshaltung auf die Gestalt des geographischen Raumes. Der Name wird zudem auch als Synonym für Humangeographie bzw. Anthropogeographie gebraucht.

Hintergrund

Dieser Gebrauch leitet sich aus der traditionellen Geographie des 19. Jahrhunderts ab. Kultur wurde dabei als etwas Wesenhaftes gedacht, das identifizierbar und für die Geographie abgrenzbar sei. Dabei stand sie der physischen Geographie (Naturgeographie) gegenüber. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat der Kulturbegriff in der deutschsprachigen Humangeographie gegenüber sozialwissenschaftliche Konzepten im engeren Sinne zunehmend in den Hintergrund – anstelle von Kulturgeographie wurde jetzt eher von Human- oder von Wirtschafts- und Sozialgeographie gesprochen.

Traditionelle Kulturgeographie

Wie im angloamerikanischen Raum weit verbreitet, wird unter dem Begriff Kulturgeographie (cultural geography) traditionell die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Mensch/Gesellschaft und Landschaft/Umwelt im Sinne Carl Ortwin Sauers (1889–1975) gefasst. Dessen Ideen wurden vor allem durch die traditionelle deutschsprachige und französische Geographie (z. B. von Otto Schlüter, Paul Vidal de la Blache) – und kaum durch die britische Geographie, die Sauer ablehnte – geprägt. Zum Teil gibt es dabei Überschneidungen mit Inhalten, die in Europa unter einer Sozialgeographie im Sinne von Hans Bobek oder Wolfgang Hartke verstanden würden.

Poststrukturalistisch orientierte „Neue Kulturgeographie“

Im Kontext der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aufbrüche in den 1960er Jahren gerieten die traditionellen Ansätze der Kulturgeographie in Kritik. Mit dem Bedeutungsgewinn funktionalistischer, quantitativ-messender und gesellschaftskritischer Ansätze in den 1970er Jahren verloren die traditionellen Kulturbegriffe und damit letztlich die Paradigmen der traditionellen Kulturgeographie an Bedeutung. Die „Renaissance“ kulturgeographischer Ansätze seit den 2000er Jahren unter dem Label einer „Neuen Kulturgeographie“ muss daher eher als eine Neubegründung kulturgeographischen Denkens, denn als eine Fortführung der traditionellen Kulturgeographie verstanden werden (Glasze, Miggelbrink, Husseini de Araujo & Michel 2021a).

Im Zuge der Rezeption von poststrukturalistischen Ansätzen und des cultural turn, die darauf hinweisen, dass alle sozialen Kategorien letztlich durch die Gesellschaft gemacht (Konstruktivismus) und damit auch veränderbar sind, erleben Teile der Humangeographie seit den 1990er Jahren eine konzeptionelle Neuorientierung unter dem Begriff der „Neuen Kulturgeographie“. Die „Neue Kulturgeographie“ oder new cultural geography versteht sich dabei weniger als eine Teildisziplin der Humangeographie, sondern in erster Line als Perspektive, die auf die Gemachtheit von Geographien abzielt, sich also dafür interessiert, welche Rolle die Produktion bestimmter Räume in der Produktion bestimmter gesellschaftlicher Wirklichkeiten spielt.

Die Rezeption und Anwendung kulturtheoretischer Überlegungen macht den Kern der „Neuen Kulturgeographie“ aus – hier durchaus vergleichbar mit der Entwicklung der new cultural geography. Die deutschsprachige Neue Kulturgeographie zeichnet sich allerdings durch einige Spezifika aus: So zeigt sich erstens eine große Nähe und ein enger Austausch zwischen kulturgeographischen und „kritisch-machtsensiblen“ Ansätzen, zum Beispiel in der personellen und konzeptionellen Verbindung der Renaissance politisch-geographischer Arbeiten mit der Neuen Kulturgeographie (vgl. Reuber/Wolkersdorfer 2001). Zweitens war und ist die deutschsprachige Diskussion in hohem Maße von Fragen der methodologischen Innovation geprägt worden  (bspw. Sahr 2003) – d. h. den Fragen danach, wie die neue theoretische Orientierung auf die Herstellung von Bedeutungen und von sozialen Wirklichkeiten angemessen methodisch umgesetzt werden kann. Besonders einflussreich waren dabei die Überlegungen zu einer geographischen Diskursforschung (Glasze und Mattissek 2009; Schlottmann und Miggelbrink 2015; Baumann, Tijé-Dra und Winkler 2015). Und drittens sind die Debatten in der Neuen Kulturgeographie spätestens seit Mitte der 2000er Jahre geprägt von einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit körperlichen Praktiken, materiellen Artefakten und Techniken sowie deren Rolle für die Herstellung bestimmter Geographien und bestimmter sozialer Wirklichkeiten. Die Neue Kulturgeographie ist damit auch zu einem Forum geworden, in dem um einen Kulturbegriff gerungen wird, der im Sinne der Debatte um „more than representational geographies“ einen bedeutungsorientierten Kulturbegriff weiterführt (bspw. Strüver 2011). Er fragt danach, wie Körperlichkeit, Affekte, Artefakte und Techniken (bspw. Schurr 2014) in der Konzeption und der Erforschung von Prozessen von Geographien berücksichtigt werden können, ohne dabei in deterministische Argumentationen (zurück) zu fallen.

Siehe auch

Literatur

  • Neue Kulturgeographie. Themenheft PGM, Petermanns Geographische Mitteilungen, Heft 2/2003, ISSN 0031-6229, Klett, Stuttgart 2003, ISBN 3-623-08102-7.
  • Baumann, Christoph; Tijé-Dra, Andreas & Jan Winkler (2015): Geographien zwischen Diskurs und Praxis – Mit Wittgenstein Anknüpfungspunkte von Diskurs- und Praxistheorie denken. In: Geogr. Helv. 70(3), 225–237 doi:10.5194/gh-70-225-2015
  • Berndt, Christian & Robert Pütz (Hrsg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Transcript, Bielefeld 2007, ISBN 978-3-89942-724-0 (= Kultur und soziale Praxis).
  • Gebhardt, Hans (Hrsg.): Kulturgeographie. Spektrum, Heidelberg / Berlin 2003, ISBN 3-8274-1393-1.
  • Glasze Georg & Annika Mattissek (Hrsg. 2009): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung. Bielefeld: Transcript. 1. Auflage DOI: 10.14361/9783839411551-001 (3. ergänzte und aktualisierte Neuauflage 2021).
  • Glasze, Georg & Miggelbrink, Judith, Husseini de Araujo, Shadia & Michel, Boris. (2021a): Einleitung – Kulturgeographien. In: Schneider-Sliwa, Rita; Braun, Boris; Helbrecht, Ilse & Rainer Wehrhahn (Hrsg.): Humangeographie. Westermann: 296-302 ISBN 978-3-14-160361-3
  • Glasze, Georg & Miggelbrink, Judith, Husseini de Araujo, Shadia & Michel, Boris. (2021b): Kultur in den Ansätzen einer Neuen Kulturgeographie. In: Schneider-Sliwa, Rita; Braun, Boris; Helbrecht, Ilse & Rainer Wehrhahn (Hrsg.): Humangeographie. Westermann: 303-310 ISBN 978-3-14-160361-3
  • Reuber, Paul & Wolkersdorfer, Günter (2001): Die neuen Geographien des Politischen und die neue Politische Geographie. Eine Einführung. In: Reuber, P. (Hrsg.): Politische Geographie. Handlungsorientierte Ansätze und Critical Geopolitics. – Heidelberger Geographische Arbeiten 112. Heidelberg: Selbstverl. des Geograph. Inst. der Univ. Heidelberg, 1–16.
  • Sahr, Wolf-Dieter (2003): Zeichen und RaumWELTEN – zur Geographie des Kulturellen. In: Petermanns Geographische Mitteilungen 147 (2), S. 18–27
  • Schlottmann, Antje & Judith Miggelbrink (Hrsg. (2015): Visuelle Geographien. Zur Produktion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern. Bielefeld: transcript (Sozial- und Kulturgeographie, Bd. 2).
  • Schurr, Carolin (2014): Emotionen, Affekte und mehr-als-repräsentationale Geographien. In: Geographische Zeitschrift 102(3), 148–161.
  • Strüver, Anke (2011): Der Konstruktivismus lernt laufen – "Doing more-than-representational geography". In: Social Geography (6), 1–13.

Weblinks

Wiktionary: Kulturgeographie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  • Tagungsreihe „Neue Kulturgeographie“ – seit 2004 jeweils Ende Januar stattfindende Tagungsreihe. Die Internetseite dokumentiert über eine Tagungschronik die inhaltliche Entwicklung der deutschsprachigen „Neuen Kulturgeographie“ in den letzten Jahren.