Kyros-Zylinder

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Der Kyros-Zylinder im British Museum in London.

Der Kyros-Zylinder, auch Kyros-Erlass oder Kyros-Edikt, enthält die Proklamation des achämenidischen (altpersischen) Königs Kyros des Großen, die er nach 538 v. Chr. auf einem Tonzylinder abfassen ließ, um aus seiner Sicht die Gründe des Sturzes des letzten neubabylonischen Königs Nabonid darzulegen. Der aus dem Kyros-Edikt in jüdischer Überlieferung abgeleitete „Auftrag zum Tempelbau in Jerusalem“ erschien in außerbiblischen Erwähnungen erstmals bei Xenophon in seinem politisch motivierten Werk Die Erziehung des Kyros, das etwa 160 bis 180 Jahre nach dem Kyros-Erlass entstand und Ähnlichkeiten zu den Formulierungen im Alten Testament aufweist.

Forschungsgeschichte

Der Kyros-Zylinder
Kyros-Zylinder, andere Seite
Zeile 15–21 des Kyros-Zylinders

Der Kyros-Zylinder wurde 1879 in Babylon entdeckt. Man vermutet, dass er beim Fund vollständig erhalten war, aber bereits vor dem Abtransport von Babylon in zwei Teile zerbrach. Das größere Teilstück gelangte ins British Museum (Inventarnr. BM 90920) und das kleinere wurde ungefähr 25 Jahre später auf dem Kunstmarkt versteigert und in die Yale Babylonian Collection (Inventarnr. NBC 2504) integriert. Die beiden Teile wurden in den 1970er Jahren zusammengefügt und sind seither im British Museum zu sehen. 2009/2010 entdeckten Wilfred George Lambert und Irving Finkel eine Kopie des Textes auf zwei Fragmenten einer Tontafel aus der Sammlung des British Museum (Inventarnr. BM 47134, BM 47176).[1]

Der Zylinder enthält einen keilschriftlichen Text in akkadischer Sprache. Das Teilstück des British Museum wurde 1880 von Henry Rawlinson veröffentlicht,[2] das Stück der Yale Babylonian Collection 1920 von James B. Nies und Clarence E. Keiser.[3]

Beschreibung

Der Kyros-Zylinder ist ungefähr 22,5 cm lang und hat einen Durchmesser von 10 cm. Der Kern ist aus Ton mit großen grauen Steinschlüssen. Er wurde zuerst als Kegel und danach mit zusätzlichem Ton als Zylinder geformt. Bevor die Schreiber die Keilschriftzeichen auftrugen, wurde nochmals eine feinere Schicht Ton aufgetragen. Zum Schluss wurde der Zylinder im Feuer gehärtet. Seine Datierung wird auf kurz nach 539 v. Chr. festgelegt.[4]

Zylinder wie derjenige von Kyros II. waren in Babylon seit mehr als 2000 Jahren in Gebrauch und wurden in babylonische Bauwerke integriert. Man vermutet, dass der Kyros-Zylinder in der Mauer von Babylon, dem Imgur-Enlil, eingesetzt war. Der Inhalt des Zylinders wurde in babylonischen Archiven und Bibliotheken kopiert und auf andere Objekte wie königliche Statuen und Tafeln übertragen, um ein größeres Publikum zu erreichen. Diese Vermutung wird mit zwei zusätzlichen Tonfragmenten mit dem Inhalt des Kyros Zylinders gestützt.[5]

Inhalt

6 Eine Kultordnung, die sich nicht ziemte, redete er (Nabonid) Tag für Tag und als Bosheit stellte er die festen Opfer ein. 7 Die Verehrung Marduks tilgte er in seinem Gemüt. 8 Seine Untertanen richtete er durch ein Joch ohne Erleichterung zugrunde. 9 Auf ihre Klage ergrimmte der Enlil der Götter. 10 Trotz seines Zornes brachte Nabonid die Götter nach Babylon.

11 Nun wandte sich er (Enlil) den Bewohnern von Sumer und Akkad mit Erbarmen zu. 12 Alle Länder musterte er und suchte nach einem gerechten Herrscher. Kyros berief er deshalb zum Herrscher über das gesamte All. 13 Gutium und die Umman-manda unterwarf er seinen Füßen. 14 Marduk, der große Herr, blickte freudig auf seine guten Taten und sein gerechtes Herz. 15  Er (Marduk) befahl ihm (Kyros), nach Babylon zu gehen. Gleich einem Freunde ging er (Marduk) an seiner Seite. 17 Babylon rettete er (Marduk) aus der Bedrängnis. Nabonid, der ihn nicht verehrte, überantwortete er ihm (Kyros). 19 Der Herr (Kyros), der die wandelnden Toten aus ihrer Not befreite und ihnen Gutes antat, so huldigten sie (das Volk) ihm und verehrten seinen Namen.

20 Ich bin Kyros – der König des Weltreichs, der große und mächtige König, der König von Babylonien, der König von Sumer und Akkad, der König der vier Weltsektoren, 21 Sohn des Kambyses, des großen Königs von Anschan, Enkel des Kyros I., Nachkomme des Teispes – dessen Regierung Bel und Nabu liebgewannen. Die (jenseits des Tigris) wohnenden Götter brachte ich zurück. Alle ihre Leute versammelte ich und brachte sie zurück zu ihren Wohnorten. 23 Unter Jubel und Freude schlug ich im Palast des Herrschers in Babylon meinen Königssitz auf. Tag für Tag kümmerte ich mich um die Verehrung von Marduk. 24 Ich ließ dem ganzen Land Sumer und Akkad keinen Störenfried aufkommen. 25 Die Stadt Babylon und alle ihre Kultstätten hütete ich in Wohlergehen. Die Einwohner, die gegen den Willen der dortigen Götter ein nicht ziemendes Joch trugen, 26 ließ ich in ihrer Erschöpfung zur Ruhe kommen. 27 Mich, Kyros, und Kambyses, meinen leiblichen Sohn, sowie alle meine Truppen segnete Marduk, der große Herr.

30 Auf seinen (Marduk) Befehl brachten mir 28 alle Könige, die auf Thronen sitzen, 29 aus allen Weltsektoren, vom oberen Meer bis zum unteren Meer, welche ferne Distrikte bewohnen, alle Könige vom Amurru, die in Zelten wohnen, 30 ihren schweren Tribut, und sie - die 31 Herrscher von Ninive, Aššur, Susa, Akkad, Eschnunna, Der, Zamban und Meturnu bis zum Gebiet von Gutium, der Städte jenseits des Tigris - 30 küssten in Babylon meine Füße.

33 Und die Götter von Sumer und Akkad, die Nabonid zum Zorn der Götter nach Babylon brachte, ließ ich auf Befehl Marduks in ihren Heiligtümern einen Wohnsitz der Herzensfreude beziehen, 34 mögen diese Götter, die ich in ihre Städte zurückbrachte, 35 Tag für Tag vor Bel und Nabu die Verlängerung meiner Lebenszeit befürworten. 37 Eine Gans, zwei Enten und zehn Wildtauben über die Gans lieferte ich reichlich. 38 Die Mauer Imgur Enlil, die große Mauer von Babylon, sie zu verstärken, darum kümmerte ich mich. 39 Die Kaimauer am Ufer des Grabens, die ein früherer König gebaut hatte, ohne die Arbeiten daran abzuschließen, 40 befestigte ich nach außen. Was kein früherer König getan hatte, 41 den Tempel von [...] baute ich neu und schloss die Arbeit daran ab. 42 […] mit Bronzeverkleidung, Türschwellen und Türzapfen […] in ihren Toren. 43 Einen Temennu mit dem Namen Assurbanipals erblickte ich.“

Auszüge aus dem Kyros-Zylinder[6]
Zusammenfassung

Nabonidus, der König von Babylon, ist ein lästernder Tyrann und hat Marduk und die Götter vor den Kopf geschlagen, die Schreine vernachlässigt und das Volk unterjocht. Der barmherzige Marduk wählt Kyros II. als Retter vor der Tyrannei von Nabonidus. Ohne Kampf fällt die heilige Stadt Babylon mit der Unterstützung von Marduk in die Hände von Kyros II. Nabonidus wird gefangen genommen. Kyros II. stellt sich selbst als König mit königlichen Vorfahren vor. Er wird König von Babylon und empfängt die Tribute der Welt in Babylon. Er setzt die Götter von verschiedenen östlichen Regionen in ihren Tempeln wieder ein, die babylonische Könige weggebracht hatten. Das gleiche macht er mit den babylonischen Göttern, die von Nabonidus in die Hauptstadt gebracht wurden. Kyros II. erhöht die Opfergaben für Marduk und stellt die Mauer von Babylon wieder her.[7]

Historischer Bezug

Der Kyros-Zylinder gehört zu den Verteidigungsreden, wie sie im Vorderen Orient verbreitet waren. Die Kernaussage der Reden war jeweils, dass der vorherige König nie eine göttliche Unterstützung gehabt oder sie verloren hätte. Diese Argumentation ist bei Nabonidus belegt, als er Lābāši-Marduk bezichtigte, kein angemessenes Verhalten zu zeigen und dieser ohne göttliches Einverständnis den Thron bestiegen hätte. Ebenso argumentierte Sargon II. gegen Salmānu-ašarēd V., der den Herrscher des Universums (Marduk) nicht gefürchtet und sein Volk wie Leibeigene behandelt hätte.[8]

Im Vorderen Orient waren heilige Städte wie Aššur, Nippur oder Babylon privilegiert. Sie mussten keine Steuern zahlen und dem König keine Dienstleistungen erbringen. Durch die Bevorzugung von Sin durch Nabonidus verloren verschiedene Städte und Tempel ihre Privilegien.[9] Nabonidus war in der Folge in einer jahrelangen Pattsituation mit der Priesterschaft von Marduk gefangen. Die babylonische Priesterschaft löste schlussendlich die Situation auf, indem sie die Tore Babylons für Kyros II. öffnete und ihn als Retter vom Tyrannen Nabonidus darstellte. Die Inschrift auf dem Kyros-Zylinder ist eine „brilliante“ Schöpfung der ausgereiften Schreiber von Babylonien im Namen von Kyros II.[10]

Auf Zeile 43 des Kyros Zylinders wird eine Inschrift von Assurbanipal erwähnt, die von Kyros II. während der Restauration der Mauer von Babylon gefunden wurde. Es handelte sich wahrscheinlich um einen von vielen Zylindern, die von Assurbanipal, der die Mauer bereits restauriert hatte, in die Mauer eingelassen wurden. Die Zylinder der Könige Kyros II. und Assurbanipals ähneln sich äußerlich. Beide sind aus massivem Lehm mit Zeilen, die sich über die ganze Breite hinziehen. Zylinder aus der spätbabylonischen Zeit sind dagegen in zwei oder drei Spalten unterteilt. Mit der namentlichen Erwähnung von Assurbanipal im Kyros-Zylinder ist es deshalb naheliegend zu vermuten, dass sich Kyros II. als Nachfolger von assyrischen Königen verstand und nicht von babylonischen.

Die literarischen Modelle des Kyros Zylinders dagegen weisen auf den babylonischen Schöpfungs-Mythos Enūma eliš und die Esagil-Chroniken hin. Marduk als Retter von Babylon, der König als Versorger der Schreine, Marduk, der sein (Kyros II.) gutes Herz und seine guten Taten sah, all diese Aussagen stammen zum Teil wortgetreu abgebildet aus dem Schöpfungs-Mythos.

Die Esagil-Chroniken stammen von der Priesterschaft des Marduk. Ihre Spuren können bis ins späte 3. Jahrtausend v. Chr. bez. frühe 2. Jahrtausend v. Chr. zurückverfolgt werden. Die Chronik soll die babylonischen Könige belehren, welchen Status Marduk hat und wie die Könige ihn angemessen verehren können. Marduk dürfe nicht ignoriert werden und man dürfe sich ihm nicht entgegenstellen. Unter den Sünden eines Königs laufen Vergehen gegen die heilige Stadt von Babylon, sein Volk und das Verweigern von Opfern an Marduk. In einem kurzen Überblick werden vergangene Könige nach ihren Taten gemessen. Gute Könige hätten ein gutes Leben gehabt und die Welt regiert, schlechte dagegen seien abgesetzt oder getötet worden. Von den vierzehn gelisteten Königen werden drei als gut bezeichnet (Gilgamesch von Uruk, Kubaba von Kiš und Šu-Sin von Ur), zwei hatten sich von gut nach schlecht verändert (Sargon von Akkad, Utuḫengal), einer war armselig (Ibbi-Sin) und der Rest war schlecht (Akka, Enmerkar, Puzur-ili, Ur-Zababa, Naram-Sin, die Gutiäer, Šulgi, Amar-Suena). Nach der Charakterisierung der Könige folgten die Bestrafungen in Form von Tod, Lepra, Schlaflosigkeit, Verlust der Herrschaft und fremden Invasionen. Die Chronik mündet in der Katastrophe von Ibbi-Sin, bei dem der zornige Marduk Babylonien verstieß und das Land vom Osten überrannt wurde. Die Götter verließen daraufhin ihre Schreine, gingen ins Exil und überliessen das Land seinen Zerstörern.[11]

Der Kyros-Zylinder ist kein persischer Text, sondern ein babylonischer, geschrieben von und für Babylonier. Anschan war für sie mit zwei Verwüstungen von Babylon verbunden, einmal durch Šutruk-Naḫḫunte II. im 12. Jahrhundert v. Chr. und ein früheres Mal während der Herrschaft von Ibbi-Sin. Es lag an den Schreibern von Babylon, diese Erinnerungen zu tilgen und in ein Wunder, verursacht durch Marduk, zu verwandeln. Basierend auf den babylonischen Schriften von Enūma eliš und den Esagil-Chroniken hatten sich "vor den Augen der Babylonier ihre heiligen Schriften erfüllt."[12]

Der „Kyros-Erlass“ im Alten Testament

Nach Darstellungen im Buch Esra soll Kyros bereits im 1. Regierungsjahr den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels angeordnet haben. Da keilschriftliche Texte fehlen und den Beschluss nicht bestätigen können, bezweifeln Historiker die Existenz einer derartigen Anweisung. Dies umso mehr, als für die Erledigung derartiger Verwaltungsfälle die königlichen Kommissare für Zentralangelegenheiten zuständig waren.

Über den Inhalt des „Kyros-Erlasses“ liegen im Buch Esra zwei Fassungen (hebräisch und aramäisch) vor, die stark voneinander abweichen. Die aramäische Fassung bezieht sich als Abschrift unter anderem auf einen authentischen Bericht, der im Archiv der persischen Stadtverwaltung in Ekbatana gefunden wurde; er entstammt einem Schriftwechsel, den der Statthalter Tattenai um 518 v. Chr. mit der Kanzlei des Dareios I. in Susa führte. Ein Bezug zum inzwischen verstorbenen Perserkönig und der vermeintlichen „Rückkehrerlaubnis“ aus 539 v. Chr. liegt jedoch nicht vor.

Die aramäische Originalfassung

3 Im 1. Jahr des Königs Kyros[A 1] ordnete König Kyros an: In Sachen Gotteshaus zu Jerusalem: Das Haus ist als eine Stätte, wo man Opfer darbringt, wiederaufzubauen und die Fundamente sollen beibehalten werden. Seine Höhe 30 Ellen, seine Länge 60 Ellen, seine Breite 20 Ellen. 4 Drei Lagen von Quadersteinen und eine Lage Holz. Und die Kosten hat der königliche Fiskus zu tragen. 5 Außerdem sind die goldenen und silbernen Geräte des Gotteshauses, die Nebukadnezar II. dem Tempel in Jerusalem fortnahm und nach Babel brachte, zurückzugeben, damit alles im Tempel zu Jerusalem an seinen Ort kommt und im Gotteshaus seine Stätte findet.“

Aramäische Originalfassung, Esra 6,3-5[13]

Die hebräische Proklamation

1 Im 1. Jahr des Kyros,[A 1] Königs von Persien, – damit sich das Wort JHWHs durch Jeremia erfülle – erweckte JHWH den Geist des Kyros, … das er in seinem ganzen Reiche … durch Edikt (bekanntmachen) ließ: 2 Also hat Kyros … gesprochen: Alle Reiche der Welt hat mir der Himmelsgott JHWH gegeben, und er selbst hat mich beauftragt, ihm zu Jerusalem ein Haus zu bauen. 3 Wer immer von euch zu seinem Volk (gehört), … ziehe nach Jerusalem in Juda (Jehuda) hinauf und baue das Haus JHWHs – das ist der Gott von Jerusalem –. 4 Jeden Übriggebliebenen von jedem Ort … sollen die Leute seines Ortes mit Silber, Gold, Habe und Vieh unterstützen, ferner mit freiwilligen Gaben für das Gotteshaus in Jerusalem.“

Hebräische Proklamation, Esra 1,1-4[13]

Historische Bezüge

Die hebräische Proklamation verbindet die Anweisung zum Tempelbau mit der Erlaubnis zur Rückkehr der babylonischen Exilanten, die weder im Erlass auf dem Kyros-Zylinder[A 2] noch in der aramäischen Originalfassung erwähnt wird. Während im aramäischen Edikt die Finanzierungsfrage des Tempelaufbaus eindeutig geregelt ist, beantwortet die hebräische Version diese wichtige Frage in einer merkwürdigen widersprüchlichen Art und Weise: Die Babylonier sollen die zurückkehrenden Exulanten mit dem Notwendigsten versehen und Spenden für den Jerusalemer Tempel stiften.[13]

Weitere Einzelheiten des Wortschatzes sprechen gegen eine Abfassung zur Zeit des Perserkönigs: Die Titulatur „König von Persien“ ist erst seit Dareios I. bekannt; die Aussage „in seinem ganzen Reiche“ widerspricht der Tatsache, dass der Text an die Exulanten – die zudem aramäisch sprachen – und an die Babylonier gerichtet ist. Hinter der Redewendung „Jerusalem, das in Jehuda liegt“ steht die persische Bezeichnung von Provinzen, die aber erst ab 486 v. Chr. eingeführt wurden. Die Formeln „JHWHs Volk“ und „Übriggebliebene“ sind eindeutig „biblisch-theologisch“ geprägt und kommen im persischen Sprachgebrauch nicht vor. Der Chronist verlegte anachronistisch die Rückkehr der Exulanten auf 538 v. Chr., obwohl diese nachweislich später stattfand.[14]

Auffällig ist der Umstand, dass bei Beginn des Wiederaufbaus keine Verwaltungsdokumente vorlagen, obwohl bei jedem Rechtsakt mehrere Duplikate einer schriftlich getroffenen Entscheidung an die beteiligten Personen ausgehändigt werden.[15] 518 v. Chr. wird im Schriftwechsel der Statthalter Tattenai der babylonische „Kommissar“ Šamaš-aba-usur von den jüdischen Exulanten als Zeuge für einen angeblich in 538 v. Chr. von Kyros II. verfügten Erlass benannt, in welchem die Rückgabe der Tempelgeräte[A 3] vom zerstörten Jerusalemer Heiligtum angeordnet sein soll. Tattenai reiste deshalb eigens nach Jerusalem, um „vor Ort“ besagtes Dokument zu sichten[A 4] sowie die aufkommenden Spannungen zwischen den Samaritanern und den jüdischen Rückkehrern zu schlichten. Da niemand ein Duplikat der Verwaltungsurkunde vorlegen konnte, entsprach Tattenai nicht der mündlichen Bitte, den Tempelschatz auszuhändigen und trat unverrichteter Dinge wieder den Heimweg an. Der Chronist des Buches Esra lässt Dareios I. „in den Archiven forschen, bis er das Dokument fand“. Ein Beweis für die Existenz der Urkunde konnte bis heute nicht beigebracht werden.

Die erwähnte finanzielle Hilfe von Kyros, die der Perserkönig dem Wiederaufbau des Jerusalemer Heiligtums zukommen lassen haben soll sowie die Steuerbefreiung der Priester stehen in krassem Widerspruch zu den verfügten Einschränkungen gegenüber den Tempeln anderer Religionen in benachbarten Ländern.[16]

In der aramäischen Originalfassung, später in Jerusalem kopiert und mit anderen Verwaltungsdokumenten des Tempelwiederaufbaus zur „aramäischen Chronik von Jerusalem“ vereinigt, treten Älteste als verantwortliche politische Vertreter Judas auf. Die Texte zeigen mehrere Anhaltspunkte, die eine endgültige Abfassung in hellenistischer Zeit sehr wahrscheinlich machen, da ein Ältestengremium in den beschriebenen Positionen erst in der hellenistischen Epoche nachweisbar ist.

Den historischen Bezug der hebräischen Proklamation im Kapitel 1 vom Buch Esra bewerten die Historiker als „nicht gegeben“. Die entsprechenden hebräischen Passagen formulierte der Chronist völlig neu, wobei er die ihm zugrunde liegende aramäische Originalfassung Esra 6,3-5 als theologische Interpretation ausschmückte.[17]

Theologische Hintergründe

Zweifelsfrei wurde das durch Nebukadnezar II. herbeigeführte babylonische Exil der Juden theologisch als „JHWHs Strafe für das vorherige sündige Leben der Israeliten“ begründet. Im Deuterojesaja („zweiter Jesaja“) wird das Wirken eines anonymen Propheten geschildert, der zwischen 550 v. Chr. und 539 v. Chr. auftrat und während des babylonischen Exils die Worte verkündete, die in Jes 40,1ff. EU niedergeschrieben sind: „Tröstet mein Volk. Mit dem Exil hat das Volk seine Schuld abgebüßt. Nun wird JHWH kommen und es durch die Wüste ins Land Israel zurückführen“.

Im Zusammenhang mit dem seit 586 v. Chr. andauernden Exil nahm der Chronist an, dass nach so langer Zeit in Jerusalem und Jehuda keine geeigneten Personen mit entsprechendem Traditionsbewusstsein mehr leben würden. Zusätzlich musste sich der Chronist an die „biblische Vorgabe“ des Deuterojesaja halten, die das „eigentliche traditionsbewusste Israel“ nicht mehr in der alten Heimat, sondern in Babylonien ansiedelte. Aufgrund dieser „theologischen Gegebenheiten“ konnte nur das „auswärtige exilierte Israel“ als „Heimkehrer“ für das große Projekt des Tempelwiederaufbaus gelten; jedwede andere Schilderung hätte im Widerspruch zur eigenen religiösen Lehre gestanden.[18] Die biblische Überlieferung berichtet daher aus rückblickender Sicht zu einem Zeitpunkt,[A 5] als der Tempelaufbau und andere Maßnahmen schon längst beendet waren.[19]

Rezeption

Ende der 1960er Jahren erlangte der Kyros-Zylinder einen neuen Bekanntheitsgrad, als der letzte Schah von Persien, Mohammad Reza Pahlavi, zum 2500. Geburtstag der iranischen Monarchie behauptete, der Kyros-Zylinder sei weltweit die erste Erklärung der Menschenrechte, dessen Geburtsort der Iran gewesen sei. Unter dem Schah wurde der Zylinder zum Wahlspruch seiner neu geschaffenen nationalen Identität.[20] Seine damalige Werbekampagne war so erfolgreich, dass Kyros II. es sogar schaffte, in deutschen Schulbüchern als Pionier für Menschenrechte bezeichnet zu werden.[21]

Literatur

  • Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, Folge 2, Bd. 4/2. 3. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-51680-0.
  • Irving Finkel (Hrsg.): The Cyrus Cylinder: The King of Persia’s Proclamation from Ancient Babylon. London 2013. ISBN 978-1-7807-6063-6.
  • Reinhard Gregor Kratz: Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels. Forschungen zum Alten Testament. Bd. 42. Mohr-Siebeck, Tübingen 2006, ISBN 3-16-148835-0.
  • Hanspeter Schaudig: Die Inschriften Nabonids von Babylon und Kyros’ des Großen, samt den in ihrem Umfeld entstandenen Tendenzschriften. Ugarit-Verlag, Münster 2001, ISBN 3-927120-75-8.
  • Josef Wiesehöfer: Das antike Persien von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr. Patmos, Düsseldorf 2005, ISBN 3-491-96151-3.
  • Weitere umfangreiche Literatur zum Kyros-Erlass: siehe unter Kyros II.

Weblinks

Commons: Kyros-Zylinder – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen

  1. a b Mit dem „1. Jahr des Kyros“ ist das 1. Regierungsjahr als König von Babylonien gemeint, das im Monat Nisannu 538 v. Chr. begann.
  2. Es wird nur eine allgemeine Erlaubnis für alle Bewohner Babyloniens erteilt: „Ihre alten Orte östlich des Tigris sollen wieder besiedelt werden“.
  3. Zur Bedeutung der Tempelgeräte für die Theologie des Chronisten vgl. Peter-Runham Ackroyd: The Temple Vessels – A continuity Theme. In: Septuaginta Vetus Testamentum (SVT) 23 (1972), S. 166–181.
  4. Tattenai verfügte selbst über keine entsprechende Verwaltungsurkunde, weshalb er den langen Reiseweg zur Einsichtnahme antrat.
  5. Die Historiker setzen als Entstehungszeitraum für Nehemia und Buch Esra Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. bis Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. an.

Einzelnachweise

  1. Hanspeter Schaudig: The Text of the Cyrus Cylinder. In: M. Rahim Shayegan: Cyrus the Great. Life and Lore. Cambridge; Massachusetts, London 2018. S. 16.
  2. Henry Creswicke Rawlinson (Hrsg.): The cuneiform inscriptions of Western Asia. Band 5: H. C. Rawlinson, T. G. Pinches: A selection from the miscellaneous inscriptions of Assyria and Babylonia. London 1880. S. 35. (Digitalisat)
  3. James B. Nies, Clarence E. Keiser: Historical, Religious and Economic Texts and Antiquities. Babylonian Inscriptions in the Collection of James B. Nies. Band 2. New Haven 1920. Plate 21, Nr. 32. (Digitalisat)
  4. Datenbank des British Museum. Abgerufen am 3. Januar 2022.
  5. Hanspeter Schaudig: The Magnanimous Heart of Cyrus: The Cyrus Cylinder and its Literary Models. In: M. Rahim Shayegan (Hrsg.): Cyrus the Great: Life and Lore. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London 2018, S. 69.
  6. Vgl. die vollständige Fassung von Rykle Borger: Der Kyros-Zylinder. In: Otto Kaiser (Hrsg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Band 1: Alte Folge. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1985, S. 407–410 sowie den Originaltext und die englische Übersetzung bei Livius.org.
  7. Hanspeter Schaudig: The Magnanimous Heart of Cyrus: The Cyrus Cylinder and its Literary Models. In: M. Rahim Shayegan (Hrsg.): Cyrus the Great: Life and Lore. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London 2018. S. 70.
  8. Hanspeter Schaudig: The Magnanimous Heart of Cyrus: The Cyrus Cylinder and its Literary Models. In: M. Rahim Shayegan (Hrsg.): Cyrus the Great: Life and Lore. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London 2018, S. 72–73.
  9. Hanspeter Schaudig: The Magnanimous Heart of Cyrus: The Cyrus Cylinder and its Literary Models. In: M. Rahim Shayegan (Hrsg.): Cyrus the Great: Life and Lore. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London 2018, S. 73–74; Beate Pongratz-Leisten: „Ich bin ein Babylonier“: The Political-Religious Message of the Cyrus Cylinder. In: M. Rahim Shayegan (Hrsg.): Cyrus the Great: Life and Lore. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London 2018, S. 99–100.
  10. Hanspeter Schaudig: The Magnanimous Heart of Cyrus: The Cyrus Cylinder and its Literary Models. In: M. Rahim Shayegan (Hrsg.): Cyrus the Great: Life and Lore. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London 2018, S. 70.
  11. Hanspeter Schaudig: The Magnanimous Heart of Cyrus: The Cyrus Cylinder and its Literary Models. In: M. Rahim Shayegan (Hrsg.): Cyrus the Great: Life and Lore. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London 2018, S. 71–72, 74–78.
  12. Hanspeter Schaudig: The Magnanimous Heart of Cyrus: The Cyrus Cylinder and its Literary Models. In: M. Rahim Shayegan (Hrsg.): Cyrus the Great: Life and Lore. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London 2018, S. 86–88.
  13. a b c Vgl. Kurt Galling: Die Proklamation des Kyros in Esra 1. In: Kurt Galling: Studien zur Geschichte Israels im persischen Zeitalter. 3. Auflage. Mohr, Tübingen 1979, S. 61–77.
  14. Vgl. L. Rost: Erwägungen zum Kyroserlass: In: Arnulf Kuschke: Verbannung und Heimkehr – Beiträge zur Geschichte und Theologie Israels im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. – Wilhelm Rudolph zum 70. Geburtstage; dargebracht von Kollegen, Freunden und Schülern. Mohr, Tübingen 1961, S. 301–307.
  15. Vgl. Rykle Borger: Die Vasallenverträge Asarhaddons mit den medischen Fürsten. In: Otto Kaiser: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Band 1: Alte Folge. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1985, S. 160.
  16. Vgl. Klaas R. Veenhof: Geschichte des Alten Orients bis zur Zeit Alexanders des Großen – Grundrisse zum Alten Testament. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 290.
  17. Vgl. Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 2. Band 4/2. 3. ergänzte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 441.
  18. Vgl. Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 2. Band 4/2. 3. ergänzte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 442.
  19. Vgl. Josef Wiesehöfer: Kyros I. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 6, Metzler, Stuttgart 1999, ISBN 3-476-01476-2, Sp. 1015.
  20. Neil MacGregor: The whole world in our hands. The Guardian, 24. Juli 2004. Neil MacGregor: The whole world in our hands. Abgerufen am 4. Januar 2022.
  21. Matthias Schulz: UN Treasure Honors Persian Despot. Abgerufen am 4. Januar 2022.