Humanistische Lebenskunde

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Humanistische Lebenskunde ist ein fakultativer Weltanschauungsunterricht in Verantwortung des Humanistischen Verbandes Deutschlands, der seit 1982 in (West-)Berliner Schulen und seit 2007 an Brandenburger Schulen angeboten wird. Er wird außerdem seit 2008 an der privaten Humanistischen Grundschule Fürth abgehalten.

Inhalte und Ziele

Der Lebenskundeunterricht ist ein bekenntnisorientierter Weltanschauungsunterricht, der eine humanistische Lebensauffassung vertritt, mit der Menschen die alleinige Verantwortung für ihr Denken und Handeln begründen. Der Lebenskundeunterricht ist am weltlichen Humanismus, der Aufklärung und den modernen (Natur-)Wissenschaften orientiert. Die Schüler können im Unterricht des Humanistischen Verbandes lernen, dass es keinen vorgegebenen Sinn des Lebens gibt, dass Menschen ihrem Leben aber einen Sinn geben können. Die Wissenschaften sind dabei ein bedeutendes Hilfsmittel, um Probleme und Konflikte zu lösen.

Der Lebenskundeunterricht soll dazu anleiten, die Bedeutung moralischen Handelns zu verstehen und insbesondere dabei helfen, moralische Positionen für das eigene Leben zu entwickeln. Dazu gehört die Frage, wozu wissenschaftliche Erkenntnisse benutzt werden sollen, wie auch die Bearbeitung existenzieller Erfahrungen, wie Tod, Sterben, Krankheit, Trennung und Vereinigung. Der humanistische Lebenskundeunterricht soll Kindern und Jugendlichen helfen, sich derartigen Fragen zu stellen und sie in ihren Alltag zu integrieren – ohne den Rückgriff auf religiöse Vorstellungen. Der Lebenskundeunterricht versteht sich somit als eine Ergänzung des wissenschaftlichen Unterrichts der Schulen und bietet die Gelegenheit, nach Lebenssinn, universellen Werten wie den Menschenrechten und nach dem Rätsel des Lebens zu fragen.

Der humanistische Unterricht stellt die Würde des einzelnen Menschen ins Zentrum seiner Überlegungen. Er versucht, die Kraft zur Toleranz und zur Solidarität zu stärken, und möchte junge Menschen gleichwohl befähigen, gegen Dogmatismus und Fanatismus bewusst Widerstand zu leisten. Viele dieser Positionen werden heute auch vom Religionsunterricht vertreten. Der Humanismus sieht auch in den Religionen humanistische Wertvorstellungen formuliert – z. B. die Gerechtigkeitsforderung in der hebräischen Bibel. Humanisten versuchen deshalb, Religionen als Versuch der Menschen zu verstehen, ihre realen Konflikte zu bewältigen und haltbare gesellschaftliche Zusammenhänge zu begründen. Im Lebenskundeunterricht werden Religionen als von Menschen entwickelte Systeme analysiert, in ihrer Trost- und Hoffnungsstiftung begriffen und in ihrer kulturbildenden, ethischen Funktion dargestellt. Menschen, die ihr Leben nicht in Glaubensvorstellungen interpretieren wollen, sind nach Ansicht des Lebenskundeunterrichts ebenso in der Lage, moralische und ethische Positionen zu entwickeln. Die Bereitschaft zur Solidarität, auch und gerade mit den Schwächeren, ist möglich mit Einfühlungsvermögen (Empathie) und mittels kritischer Reflexion, die gerade die ethischen Konsequenzen menschlicher Entscheidungen berücksichtigt.

Rahmenlehrplan

Grundlage des Lebenskundeunterrichts ist der „Rahmenlehrplan Lebenskunde“ in seiner 3. Auflage. Zusätzlich existieren eine Praxismappe mit Unterrichtseinheiten und die theoretische Zeitschrift „Theorie und Praxis der humanistischen Erziehung“, in der allgemeine pädagogische und weltanschauliche Fragen diskutiert werden. Lese- und Arbeitsbücher für Schüler liegen vor. Seit 1999 gibt es ein staatlich anerkanntes Ergänzungsstudium am Ausbildungsinstitut Lebenskunde in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Berlin.

Verbreitung

Träger des Lebenskundeunterrichts ist der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), eine Weltanschauungsgemeinschaft, die nach dem Grundgesetz (Artikel 140 in Verbindung mit Artikel 137 WRV) mit den Kirchen gleichbehandelt wird. In vier Bundesländern besitzen die Landesverbände den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Der Verband plädiert für ein freiwilliges, pluralistisches Angebot der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften an Schulen.[1]

Bayern

Seit dem Schuljahr 2008/2009 wird Humanistische Lebenskunde an der Humanistischen Grundschule Fürth[2], einer staatlich genehmigten Schule in freier Trägerschaft der Humanistischen Vereinigung, unterrichtet. Lebenskunde ist in Bayern als ordentliches Lehrfach zugelassen und tritt an die Stelle des Religionsunterrichts.[3]

Berlin und Brandenburg

In Berlin und Brandenburg nahmen im Schuljahr 2017/2018 insgesamt 63.493 Schüler am Lebenskundeunterricht teil.[4]

Nordrhein-Westfalen

In Nordrhein-Westfalen lief ein Gerichtsverfahren am Oberverwaltungsgericht Münster, mit dem nach der Ablehnung eines Antrags auf Genehmigung durch das Schulministerium im Juli 2007 eine Zulassung des Schulfachs erreicht werden sollte, bis die Klage vom Verband aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten 2014 zurückgezogen wurde.[5]

Geschichte der Lebenskunde

Der Begriff Lebenskunde ist älter als das Schulfach. Bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die Debatte darüber begonnen, ob der dogmatisch-konfessionell geprägte Religionsunterricht noch zeitgemäß sei und als Fach an die öffentlichen Schulen gehöre. Im Zusammenhang dieser Diskussion um eine Alternative zu dem Religionsunterricht entstand der Begriff Lebenskunde im Sinne einer nicht-religiösen ethisch-moralischen Unterweisung.[6]

Anfänge

Die Geschichte der Lebenskunde als Schulfach begann im Jahr 1920. Die weltliche Schulbewegung forderte einen kirchenfreien Unterricht und leitete so die Trennung von Schule und Kirche in Deutschland ein. Mit Beginn des neuen Schuljahres wurde auf Beschluss der Selbstverwaltungsgremien einiger Berliner Vorortgemeinden in den dortigen Schulen ein neues, freiwilliges Unterrichtsfach eingeführt. Dieses Fach hatte zunächst verschiedene Namen. Begriffe wie weltlicher Moralunterricht, Sittenlehre, Religionskunde und auch Lebenskunde wurden dafür verwendet. Als einheitliche Bezeichnung setzte sich der Begriff Lebenskunde im Verlauf des folgenden Jahres durch. Das Fach richtete sich an Kinder, die am Religionsunterricht nicht teilnehmen und hatte das Ziel, ethisch-moralische Grundsätze und religionsgeschichtliche Zusammenhänge zu vermitteln. Vor allem die drei Parteien der Arbeiterbewegung, SPD, USPD und KPD, setzten sich für den Lebenskundeunterricht ein. Dies war die Reaktion darauf, dass es nicht gelungen war, die alte Forderung der Arbeiterbewegung nach der Weltlichkeit des Schulwesens in der Weimarer Verfassung zu verankern.

Die laizistisch orientierten und die meisten der sozialistisch orientierten Schulpolitiker, auch viele Eltern und Lehrer, betrachteten die Einführung von Lebenskunde als eigenes Fach nur als Notlösung. Ihre eigentliche Vorstellung zielte darauf, dass die von ihnen angestrebte weltliche Einheitsschule einen Lebenskundeunterricht überflüssig machen würde, da in einer solchen Schule Lebenskunde dann allgemeines Unterrichtsprinzip wäre. Nachdem es an einigen Orten gelungen war, die Zusammenfassung der vom Religionsunterricht befreiten Kinder in eigenen Schulen zu erreichen, begann eine heftige Diskussion, ob an solchen Schulen Lebenskunde als Fach notwendig sei.

Das preußische Kultusministerium ermöglichte es, die am Religionsunterricht nicht teilnehmenden Kinder in eigenen Schulen, teilweise auch in Klassen, zusammenzufassen. Diese Einrichtungen hießen offiziell Sammelschulen und -klassen. Da es sich um eine neuartige Einrichtung handelte, wurde für deren Gestaltung größtmögliche Freiheit gewährt. Deshalb gewann der Lebenskundeunterricht, wie er schließlich als Schulfach benannt wurde, große Bedeutung für Lehrer und Schüler. Da die anderen Wege, an Inhalten und Methoden der Schule etwas zu verändern, verstellt waren, wurde der Lebenskundeunterricht zum Brennpunkt für reformpädagogische Ansätze. Gleiches galt für die Simultanschulen in Ländern wie Hessen, Sachsen und Thüringen, wo Lebenskunde mehr oder minder gleichberechtigt neben den jeweiligen konfessionellen Religionsunterricht trat.

Verbot nach der NS-Machtergreifung

Diese Entwicklungen endeten mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Schon im Februar 1933 wurde die Erteilung von Lebenskundeunterricht verboten, wenig später auch in den ehemals weltlichen Schulen wieder der Religionsunterricht eingeführt. Zudem wurden die weltlichen Schulen sukzessive im Verlauf eines Jahres aufgelöst.[7]

Die in der Zeit des Nationalsozialismus gebrauchte Bezeichnung Lebenskunde (etwa im um 1940[8] verfassten Lehrbuch Lebenskunde für Mittelschulen[9]) bezieht sich auf den lebenskundlichen (biologischen) Unterricht.[10]

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Religionslehre ist das einzige Fach, das im Grundgesetz (Art. 7 Absatz 3) ausdrücklich als ordentliches Lehrfach genannt und daher für die Länder verbindlich ist. Art. 141 GG lässt Ausnahmen zu in Ländern, in denen am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung galt. In Bremen und Berlin gibt es – basierend auf diesem GG-Artikel – keinen Religionsunterricht als Pflichtfach. In den ostdeutschen Ländern wäre die gleiche Ausnahme möglich; nur Brandenburg verzichtete auf die Einführung des konfessionellen Religionsunterrichts und bietet stattdessen ein für alle Schüler verbindliches Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) an. Teilnehmer des (ebenfalls zugelassenen) Religionsunterrichts dürfen sich vom Fach LER abmelden.[11]

Siehe auch

Literatur

  • Humanistischer Verband Deutschlands (Hrsg.): Rahmenlehrplan für den Humanistischen Lebenskundeunterricht Berlin 2012
  • Lexikon der Religionspädagogik Norbert Mette (Hrsg.): Stichwort Lebenskunde
  • Horst Groschopp / Michael Schmidt: Lebenskunde – Die vernachlässigte Alternative Humanitas Dortmund 1995
  • Peter Adloff / Bettina Alavi (Hrsg.): Genau wie Schule, nur ganz anders HVD-Eigenverlag Berlin 2001
  • Martin Ganguly: Ganz normal anders – lesbisch, schwul bi Lebenskundesonderheft o. O., o. J.
  • Schwerpunktthema Lebenskunde in: "Humanismus aktuell", Heft 8, 2001
  • Gerald Warnke: Lebenskundeunterricht – Geschichte und Perspektive des humanistischen Unterrichts in der Schule Humanitas, Dortmund 1997
  • Peter Adloff: Nach Sinn fragen: Eine fachdidaktische Studie für die Humanistische Lebenskunde und den Ethikunterricht Berlin 2010

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rechtspolitische Grundlagen des HVD (2008) (PDF; 43 kB)
  2. Homepage: Humanistische Grundschule Fürth
  3. Website zum Humanistischen Unterricht für Bayern, abgerufen am 29. Januar 2019
  4. Religions- und Weltanschauungsunterricht: Lebenskundeunterricht wächst weiter, abgerufen am 29. Januar 2019.
  5. Humanistische Lebenskunde: Kein Lebenskunde-Urteil in Nordrhein-Westfalen, diesseits.de, abgerufen am 24. November 2017
  6. Die Geschichte des Lebenskundeunterrichts auf lebenskunde.de, abgerufen am 27. Januar 2013.
  7. Humanisten im Fokus - Zerstörte Vielfalt: Die Auflösung der weltlichen Schulen, Ausstellung im Rahmen des Themenjahres Zerstörte Vielfalt, Berlin 1933-1938-1945
  8. Erich Meyer, Karl Zimmerman: Lebenskunde. Lehrbuch der Biologie für Höhere Schulen. Erfurt 1939 ff.; Adolf Gscheidle: Lebenskunde für Mittelschulen. I. Esslingen 1940; Ernst Kruse, Paul Wiedow: Lebenskunde für Mittelschulen. Leipzig/Berlin 1942.
  9. Karl Otto Sauerbeck: Fachdidaktik im Dritten Reich am Beispiel des Biologie-Lehrbuchs von Steche-Stengel-Wagner. In: Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen. Band 8/9, 2012/2013 (2014), S. 391–412, hier: S. 391.
  10. Humanismus aktuell: PDF (2001).
  11. Gerhard Rampp: Ratgeber für konfessionslose Eltern, Schüler (Stand: Mai 2005)