Lebensraum

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Der Lebensraum entspricht in den biologischen Wissenschaften den Begriffen Biotop (kleinste Lebensgemeinschaft verschiedener Arten), Biom (Großlebensraum, in erster Linie nach typischen Vegetationsformen unterschieden – etwa „Tundra“, „Wüste“ oder „Laubmischwald“) sowie Habitat/Standort (Lebensraum bestimmter Tier- oder Pflanzenarten in einem Biotop) oder auch Biosphäre (der gesamte Lebensraum aller Lebewesen).

In den Humanwissenschaften bezeichnet der Begriff den (bewohnten oder beanspruchten) Raum einer sozialen Gruppe.[1] Karriere machte der Begriff in der Geopolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus, was seine Verwendung seither erheblich beeinträchtigt.[2]

„Lebensraum“ als politischer Begriff

Hintergrund: der Kolonialismus

Die Diskussion über den Lebensraum von Völkern entwickelte sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem imperialistischen Kolonialismus. Sie erhielt ihre wesentlichen Impulse aus der im 19. Jahrhundert massenhaft werdenden europäischen Auswanderung nach Übersee, vor allem in die USA. Sie war gebunden an den Aufschwung nationalen Selbstbewusstseins in den europäischen Nationalstaaten, deren zwischenstaatliche Grenzen zum ersten Mal ein Gefühl für die territoriale Nationaldimension bildeten. Die Auswanderung ließ die Frage aufkommen, was denn geschehen müsse, damit die fortstrebende Arbeitskraft nicht fremde Volkswirtschaften bereicherte, sondern dem eigenen Land erhalten und verbunden blieb. Der Erwerb von Kolonien galt als Ausweg nach dem Vorbild des Britischen Weltreichs, das sich seit dem Siebenjährigen Krieg konkurrenzlos ausbreitete, nachdem Frankreich besiegt war und seine wichtigsten überseeischen Besitzungen an England abtreten musste.

In Frankreich setzte die Diskussion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, und zwar nach der Eroberung von Algier 1830, worin eine Ausgangsbasis für die Bildung von Siedlungskolonien gesehen wurde. Von ihnen ausgehend sollte Französisch-Algerien auch mit Siedlern aus anderen europäischen Ländern erschlossen und vereinnahmt werden. Nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg waren es jedoch vor allem Bewohner aus Elsaß-Lothringen, die sich weiterhin Frankreich zugehörig fühlten und nach Algerien strebten.

Deutschland nach der Reichsgründung

In Deutschland als spät entstandenem Nationalstaat stand erst nach der Reichsgründung von 1871 die Suche nach einer nationalen Lösung für die demographischen Probleme an, die sich in einer großen Auswanderungswelle in den 1880er Jahren infolge der Gründerkrise zeigen sollten. Als Alternative zur Auswanderung ging es seither auch für Deutschland um den Erwerb von Kolonien. Der Geograph Friedrich Ratzel, Mitglied des Alldeutschen Verbandes, beschäftigte sich mit diesen Fragen und untersuchte sie in seinen Büchern Politische Geographie (1897) und Der Lebensraum (1901), das den Untertitel Eine biogeographische Studie trägt.[3]

Erster Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes war der Reichstagsabgeordnete Ernst Hasse, der in Leipzig den Lehrstuhl für Statistik und Kolonialpolitik innehatte. Hasse schrieb ein 1895 in zweiter Auflage erschienenes Buch mit dem Titel Großdeutschland und Mitteleuropa um das Jahr 1950. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sah er einen deutschen Bundesstaat voraus, der „die staatliche Zusammenfassung des gesamten mitteleuropäischen Deutschtums“ umfassen sollte, und zwar mit Ausdehnung nach Osten und vor allem Südosten bis zum Schwarzen Meer. Denn „nach Südosten und Osten sind der Entwicklung des Deutschtums natürliche Grenzen nicht gesteckt […] Auch in Zukunft wird es nicht anders sein, als dass die Volkskraft der Deutschen dorthin vorwärts drängt.“[4] Dabei sollen die Balkanländer germanisiert werden.

„Lebensraum“ bedeutete also von Anfang an Gebietsanspruch und diente als Rechtfertigungsargument für territoriale europäische Expansion, die sich in der völkischen Bewegung noch vor dem Ersten Weltkrieg ausdrücklicher als Forderung nach „Lebensraum im Osten“ niederschlug. Der entscheidende Impuls für diesen enger geführten Begriff ergab sich aus den engeren Grenzziehungen und vor allem aus der östlichen Verkleinerung des Deutschen Reiches einschließlich des Untergangs der Habsburgermonarchie infolge des Ersten Weltkriegs.

1926 verstärkte der zum Schlagwort gewordene Romantitel Volk ohne Raum von Hans Grimm die Vorstellungen von einem zu erwerbenden Lebensraum. Dieser sollte durch die Erweiterung des deutschen Siedlungsgebietes in Grenzkolonisation oder in neu zu erwerbenden überseeischen Kolonien verwirklicht werden.

In der Weimarer Republik stellte Wilhelm Ziegler die zu lösenden Aufgaben deutscher Politik wie folgt dar:

„Der Verlust der Rheinmündung, die Nichtbesiedelung der mittleren Weichsel, die Verzettelung der Siedelung an der mittleren Donau – das sind drei schwere Versäumnisse unserer Vergangenheit. […] Die Weichselniederung bildet den polnischen Korridor, dessen Aufhebung ohne Zweifel die nächste Aufgabe der deutschen Zukunft ist. […] Aber in eigentümlicher Kurzsichtigkeit ist schon damals (12. Jhd.) zwischen Oder und Weichsel eine Lücke im deutschen Siedlungsblock entstanden, die auch später nie mehr durch Nachschub völlig ausgefüllt worden ist. […] auch die moderne deutsche Politik hat lieber Millionen deutscher Bauernsöhne ins Ausland sich verkrümeln lassen, als diese Lücke zwischen zwei Zimmern des eigenen Hauses auszufüllen.“[5]

Diskussion in Frankreich

Der Begriff „Lebensraum“ ist zwar eine deutsche Prägung, wird aber als espace vital vom französischen Lehrer für politische Philosophie Olivier Le Cour Grandmaison in einer 2005 erschienenen Untersuchung auch für die Geschichte der Dritten Republik, insbesondere der Kolonisierung Algeriens, übernommen.[6] Die Lebensraumidee habe noch ohne genaue Begrifflichkeit in Frankreich die Sichtweise von drei einflussreichen Wortführern bestimmt: die des algerienerfahrenen Arztes Eugène Bodichon (1810–1885), des Juristen Arthur Girault (1865–1931) und des von der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften ausgezeichneten Paul Leroy-Beaulieu (1843–1916).

Der Jurist Arthur Girault äußerte sich zum Beispiel folgendermaßen:

„Die Kolonisation ist eine Bedingung zur inneren Friedenssicherung. Wenn die Kunst des Regierens hauptsächlich darin besteht, jedem seinen Platz zuzuweisen, dann besteht die feinfühligste Aufgabe der Regierung sicher darin, für die abenteuerlichen, unzufriedenen und undisziplinierten Geister eine Verwendung zu finden. Wie viele aktive und intelligente Menschen werden zu gefährlichen Deklassierten, die in einem anderen Umfeld als dem ihren, das von strengen Sitten und rigorosen Reglementierungen bestimmt ist, sich unendlich hätten nützlich machen können! Die Kolonien bieten ihnen ein kostbares Feld zur Entfaltung.“

Paul Leroy-Beaulieu:

„Ein Volk, das kolonisiert, schafft die Grundlagen seiner Größe und seiner künftigen Vorherrschaft. Alle Lebenskräfte der kolonisierenden Nation werden vom Überfließen seiner strotzenden Aktivitäten vermehrt.“

Louis Jacolliot:

„Von einem humanitären Gesichtspunkt aus, auch im sozialen Interesse und gegenüber den ungeheuren Gegenden, die von ihren Bewohnern nicht genutzt werden, hat ein Volk das Recht, sich nach außen auszubreiten, sich neue Wege zu öffnen für den Tag, wo ihm seine Wiege zu eng geworden sein wird. Das ist der wahre und ehrenwerte Lebenskampf.“[7]

Faschistisches Italien

Königreich Italien mit bis 1939 eroberten Ländern und Kolonien (dunkelgrün); eroberten Gebieten während des Zweiten Weltkriegs (grün) und sonstigen Expansionsplänen (hellgrün)

Nach Ansicht der italienischen Faschisten war das Recht, Lebensraum (spazio vitale) zu erobern, wenigen auserwählten Nationen vorbehalten. Mussolini sprach schon 1922 davon, aus dem Mittelmeer einen “italienischen See” zu machen. 1934 kündigte er einen Marsch zum Atlantik durch Französisch-Nordafrika und zum Indischen Ozean von Italienisch-Libyen über den Sudan nach Italienisch-Ostafrika an.[8] Dabei stützte man sich auf die Romanità-Bewegung. Das neue Italien sollte wieder Kultur und Fortschritt wie zu Zeiten des römischen Reiches verbreiten. Geplant war ein piccolo spazio nur von Italienern bewohnt und ein grande spazio von anderen Nationen bewohnt aber unter italienischer Kontrolle.[9] Dieses italienische imperiale Projekt mit seiner Mission der Zivilisation unterschied sich vom deutschen Modell des Lebensraums, weil es den dauerhaften Fortbestand der dominierten Ethnien vorsah. Im Gegensatz zu den englischen und französischen Kolonialreichen sollte das italienische auch weiße europäische Christen rassisch unterordnen.[10]

Der Begriff des spazio vitale wurde zu einer Metapher für Überlegenheit und Vitalität und verband die abstrakten faschistischen Ideen von der italienischen Elite, einem gewaltbereiten Aktionismus und historischem Sendungsbewusstsein mit einem historischen und geopolitischen Expansionsziel.[11] Der Versuch der Umsetzung in den besetzten Gebieten scheiterte, weil sich die Okkupationsrealität mit ihrer Abhängigkeit vom deutschen Reich sehr deutlich von den faschistischen Projektionen und deren Ambitionen unterschied.[12]

NS-Deutschland

Geplante Ausdehnung des Großdeutschen Reiches im Zuge des Generalplan Ost

Stichwortgeber für die Zeit des Nationalsozialismus waren hauptsächlich Adolf Hitler, der seine Lebensraumvorstellungen in Anlehnung an Friedrich Ratzel schon in Mein Kampf niedergelegt hatte, der NS-Ideologe Alfred Rosenberg mit seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts, in dem „Lebensraum“ als Schlüsselbegriff neben dem der „Rasse“ steht, der Geograph Karl Haushofer,[13] aber auch der Staatsrechtler Carl Schmitt mit seiner sogenannten Großraumtheorie.[14]

Rosenberg schrieb beispielsweise: „Eine weitere Erkenntnis liegt in der Feststellung, dass die mit Händen nicht fassbare Idee der Volksehre doch ihre Verwurzelung in allerfestester, stofflicher Wirklichkeit ausweist: im Ackerboden einer Nation, d. h. in ihrem Lebensraum.“[15] Hjalmar Schacht als wichtiger Wegbereiter des Nationalsozialismus forderte in einer Rede in München am 7. Dezember 1930: „Gebt dem deutschen Volk wieder Lebensraum in der Welt.“[16]

Der bis 1942 in etlichen Varianten vorliegende Generalplan Ost sah eine „Germanisierung“ des osteuropäischen Raumes bis zum Ural und ans Schwarze Meer bis zum Kaukasus vor. Ansatzweise verwirklicht wurden die Lebensraumvorstellungen zunächst beim Überfall auf Polen und dem Unternehmen Barbarossa mit dem anschließenden Deutsch-Sowjetischen Krieg. Die letzte Version des Plans umfasste auch Siedlungsregelungen für das Protektorat Böhmen und Mähren, das frühere Reichsland Elsaß-Lothringen, die Untersteiermark und Oberkrain.

Weltraumforschung

In der Weltraumforschung wird der Lebensraum – für das bisher bekannte Leben – auch „Goldlöckchenzone“ oder bewohnbare Zone genannt.

Siehe auch

Literatur

  • Hans-Adolf Jacobsen: Kampf um Lebensraum. Zur Rolle des Geopolitikers Karl Haushofer im Dritten Reich. In: German Studies Review 4, 1981, Nr. 1, ISSN 0149-7952, S. 79–104.
  • Birgit Kletzin: Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung. 2. Auflage. Lit, Münster u. a. 2002, ISBN 3-8258-4993-7 (Region – Nation – Europa 2).
  • Olivier Le Cour Grandmaison: Coloniser. Exterminer. Sur la guerre et l’État colonial. Fayard, Paris 2005, ISBN 2-213-62316-3.
  • Ahlrich Meyer: Großraumpolitik und Kollaboration im Westen. Werner Best, die Zeitschrift „Reich, Volksordnung, Lebensraum“ und die deutsche Militärverwaltung in Frankreich. In Götz Aly u. a. (Hrsg.): Modelle für ein deutsches Europa. Ökonomie und Herrschaft im Großwirtschaftsraum. Rotbuch-Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-88022-959-7 (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 10).
  • Peter Jahn/Florian Wieler/Daniel Ziemer (Hrsg.): Der deutsche Krieg um «Lebensraum im Osten» 1939–1945. Metropol, Berlin 2017, ISBN 978-3-86331-359-3.

Weblinks

Wiktionary: Lebensraum – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  • FFH-Richtlinie vom 21. Mai 1992 im Amtsblatt der EU mit Anhängen (Anhang I – Natürliche Lebensräume von gemeinschaftlichem Interesse, für deren Erhaltung besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen
    Anhang II – Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse, für deren Erhaltung besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen
    Anhang III – Kriterien zur Auswahl der Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bestimmt und als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten
    Anhang IV – Streng zu schützende Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse
    Anhang V – Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse, deren Entnahme aus der Natur und Nutzung Gegenstand von Verwaltungsmaßnahmen sein können)

Einzelnachweise

  1. Vgl. Duden online: Lebensraum
  2. Horst Dreier: Wirtschaftsraum – Großraum – Lebensraum. Facetten eines belasteten Begriffs, in: Horst Dreier/Karl Kreuzer/Hans Forkel (Hrsg.): Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät. Duncker & Humblot: Berlin 2002, S. 47–84.
  3. Friedrich Ratzel: Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie. Sonderausgabe. Unveränderter reprografischer Nachdruck. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1966 (Libelli 146; Originaldruck in: Karl Bücher (Hrsg.): Festgaben für Albert Schäffle zur siebenzigsten Wiederkehr seines Geburtstages am 24. Februar 1901. Laupp, Tübingen 1901).
  4. Vgl. Klaus Thörner: Der ganze Südosten ist unser Hinterland. S. 179.
  5. Wilhelm Ziegler: Einführung in die Politik. 2. Auflage, Berlin 1929, S. 280.
  6. Vgl. „Lebensraum“ in französischer Wikipedia.
  7. Olivier Le Cour Grandmaison: Coloniser. Exterminer. Sur la guerre et l’État colonial. Fayard, Paris 2005, S. 132–136. – Zum „Lebensraum“-Konzept der europäischen Kolonialmächte außerdem neuerdings: Olivier Le Cour Grandmaison: La République impériale. Politique et racisme d'État. Fayard, Paris 2009, S. 329–352.
  8. Rodogno, Davide: Fascism's European Empire: Italian Occupation During the Second World War. Cambridge. Cambridge University Press 2006, ISBN 978-0-521-84515-1, S. 46 f.
  9. Alan Todd: History for the IB Diploma Paper 1 The Move to Global War. Cambridge University Press 2015, ISBN 978-1-107-55628-7, S. 109 ff.
  10. Rodogno, Davide: Fascism's European Empire: Italian Occupation During the Second World War. Cambridge. Cambridge University Press 2006, ISBN 978-0-521-84515-1, S. 415.
  11. Aristotele A. Kallis: Fascist Ideology: Territory and Expansionism in Italy and Germany, 1922–1945. Routledge 2000, ISBN 0-415-21611-7, S. 52.
  12. Rodogno, Davide: Fascism's European Empire: Italian Occupation During the Second World War. Cambridge. Cambridge University Press 2006, ISBN 978-0-521-84515-1, S. 415.
  13. Heike Wolter: ‚Volk ohne Raum‘: Lebensraumvorstellungen im geopolitischen, literarischen und politischen Diskurs der Weimarer Republik. Eine Untersuchung auf der Basis von Fallstudien zu Leben und Werk Karl Haushofers, Hans Grimms und Adolf Hitlers. Lit-Verlag: Münster-Hamburg-London 2003.
  14. Rüdiger Voigt (Hrsg.): Großraum-Denken. Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2008.
  15. Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. 63.–66. Auflage. München 1935. S. 531.
  16. Zitiert in: Kurt Böttcher u. a. (Hrsg.): Geflügelte Worte. Zitate, Sentenzen und Begriffe in ihrem geschichtlichen Zusammenhang. Leipzig 1985, S. 626.