Lineage

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Lineage ([ˈlɪniɪdʒ], f., Plural: Lineages; englisch: „Gruppe einer Abstammungslinie“) oder einlinige Abstammungsgruppe bezeichnet in der Ethnologie (Völkerkunde) eine große Familiengruppe, deren Angehörige ihre gemeinsame Abstammung von einer Stammmutter oder einem Stammvater herleiten, in einliniger Abfolge entweder über die Mütterlinie (Matri-Lineage) oder über die Väterlinie (Patri-Lineage). Solche Abstammungsgruppen finden sich als soziale Einheiten bei vielen der weltweit 1300[1] ethnischen Gruppen und indigenen Völkern, bei ihnen verstehen sich die Lineages als eigenständige Solidaritäts- und Wirtschaftsgemeinschaft, verfügen meist über gemeinsamen Landbesitz und wohnen oft als Siedlungsgruppe zusammen.[2] Während in Kernfamilien zwei Generationen zusammenleben (Eltern mit Kindern) und drei in Großfamilien (mit Großeltern), umfasst eine Lineage weitere noch lebende Generationen (vergleiche den Weltrekord[3] von 7 Generationen in einer Familie). Alle Angehörigen einer Lineage sind blutsverwandt miteinander (leibliche Verwandtschaft), alle stammen ab von der Mutter oder dem Vater (verstorben) der ältesten lebenden Generation. Oft können mehr als 10 Vorfahren-Generationen namentlich benannt werden.[4] Viele Lineages bestehen schon seit Jahrhunderten, fortgeführt von der jüngsten Generation nach den bei ihnen geltenden Abstammungsregeln: In Matri-Lineages können die Söhne ihre Familienzugehörigkeit nicht an ihre eigenen Kinder weitergeben (vergleiche die Khasi in Nordindien), in Patri-Lineages können die Töchter das nicht (vergleiche die Nuer im Südsudan): Kinder gehören immer zur Familie ihrer „Linie“ (siehe dazu auch die matri-/patri-lokale Wohnsitzwahl). Ein Lineage als Ganze enthält folglich nur die Hälfte aller Nachkommen: entweder die ihrer weiblichen oder die ihrer männlichen Angehörigen.

Eine umfangreiche Lineage kann sich in größere und kleinere Teile untergliedern, in einzelne Kern- und Großfamilien, als einzelne Segmente bezeichnet – ganze Lineages können wiederum die Segmente einer gesellschaftlichen Erblinie bilden (siehe dazu auch segmentäre Gesellschaften).[5] In der Regel organisieren sich mehrere zusammengehörende Lineages als eigenständiger Clan, wobei dieser große Verband als Ganzer sich zumeist von einem mythischen oder sagenhaften Urahnen (Stammvater/-mutter) herleitet; bei einigen Völkern beziehen sich die verschiedenen Clans auf symbolische Totemtiere, beispielsweise kann es den Bären-Clan geben gegenüber dem Wolfs-Clan.

Lineage-Angehörige

Zu einer Lineage gehören sämtliche Nachkommen (beiderlei Geschlechts) der ursprünglichen Stammmutter oder des Stammvaters, viele Lineages haben hunderte von Angehörigen. Die Mitgliedschaft in der Lineage wird allerdings nur über ein Elternteil weitergegeben: In Matri-Lineages gehören Kinder zur Abstammungsgruppe der Mutter, in Patri-Lineages zur Gruppe des Vaters. Dieser Aufteilung entspricht zumeist auch die Wahl des gemeinsamen Wohnsitzes nach einer Heirat: matrilokal bei der Ehefrau oder ihrer Mutter, oder patrilokal beim Ehemann oder seinem Vater. Ehepartner gehören nicht zur eigenen Lineage, sondern kommen fast immer aus anderen Abstammungsgruppen (exogame Heiratsregel: außerhalb der eigenen Gruppe). Nach einer Heirat gehört jeder Partner weiterhin seiner eigenen Lineage an, nur wenige Patri-Lineages rechnen eingeheiratete Frauen zur eigenen Gruppe.

Lineages beschränken sich zwar grundsätzlich auf Mitglieder derselben Abstammung, können aber Außenstehenden in besonderen Fällen durch eine Adoption oder eine andere Form der „fiktiven Verwandtschaft“ (etwa Milchverwandtschaft, Blutsbrüderschaft oder Schwurbruderschaft) eine Mitgliedschaft übertragen.[4] Dies kann in Matri-Lineages nur durch eine Frau geschehen, in Patri-Lineages nur durch einen Mann.

Dass Lineages auch Seitenlinien von entsprechenden Geschwisterteilen der Vorfahren umfassen, unterscheidet beispielsweise eine Patri-Lineage von einer adligen Stammlinie des europäischen Kulturraums: Bei ihr bilden nur die jeweils ältesten Erbsöhne die Hauptlinie – jüngere Brüder können eigenständige Nebenlinien bilden, Schwestern dagegen gehören nach einer Heirat zur Linie ihres Ehemannes, wie auch ihre Kinder (begründet im römischen Agnationsrecht).

Siedlungsräume

Langhaus der nordamerikanischen Irokesen (1885)

Die Mitglieder einer Lineage können alle unter einem Dach wohnen. So bot ein Langhaus der matrilinearen Irokesen in Nordamerika Unterkunft für bis zu 500 Personen derselben Lineage. Viele Lineages wohnen in kleinen Siedlungen zusammen, als Weiler bezeichnet, oder verteilt über mehrere naheliegenden Ortschaften. Bei den matrilinearen Tolai in Papua-Neuguinea wohnen die Mitglieder einer Lineage auch weit verteilt voneinander, verstehen sich aber weiterhin als Angehörige derselben Familie und verfügen über den gemeinsamen Landbesitz.

Funktionen einer Lineage

Eine Lineage bildet oft eine stabile Solidaritäts- und Wirtschaftsgemeinschaft,[6] sie übernimmt rechtliche, religiöse und politische Aufgaben für ihre Mitglieder und vertritt diese korporativ nach außen, in der Art einer Körperschaft.[4][7]

Mehrere Lineages können Clans (gemeinsamer Abstammung), Allianzen,[8] einen Stamm oder eine ganze Gesellschaft bilden. Die soziale Organisation vieler der weltweit 1300[1] Ethnien und indigenen Völker wird von Lineages bestimmt. Bei Völkern mit zwei unterschiedlichen Erblinien (Moiety-System) untergliedern sich diese oft in Lineages als örtliche Untergruppen (Segmente). Bestehen die zwei Erblinien aus einer Mütterlinie und einer Väterlinie, finden sich sowohl Matri- wie auch Patri-Lineages.

In Gesellschaften, die ohne Zentralgewalt (segmentär) und ohne Oberhaupt (akephal) organisiert sind, übernehmen die Lineages auch politische Funktionen. Die gesellschaftliche Ordnung bildet sich dabei durch das Zusammenspiel von Lineages, die als gleichartige und gleichrangige Segmente (Teile) aufgefasst werden. Die Lineages kooperieren durch einstimmige Konsensfindung. Ein gutes Beispiel liefert die umfassend erforschte Konföderation der matrilinearen Irokesen in Nordamerika.

Erforschung

Die britischen Anthropologen Meyer Fortes und Edward E. Evans-Pritchard beschrieben in den 1940ern die „Lineage-Theorie“ (Deszendenztheorie), nach der ein Lineage-System als Grundlage der politischen Struktur von „segmentären Gesellschaften“ (ohne zentrale Institution) zu verstehen ist.[9] In den letzten Jahrzehnten wird in der Ethnosoziologie an dieser Theorie kritisiert, dass sie der Abstammung im Allgemeinen eine zu große Bedeutung für die soziale Organisation einer Gesellschaft zuschreibe.[10]

Lineages werden mit Clans, Phratrien (Clan-Verbänden) und Moiety-Erblinien übergeordnet als „einlinige Abstammung­sgruppen“ zusammengefasst (unilineal descent groups). Sie sind nicht deckungsgleich mit Verwandtschaftsgruppen (Kindreds), diese bestehen aus dem persönlichen Netzwerk einer einzelnen Person zu Verwandten beider Elternteile.

Siehe auch

Literatur

  • Walter Hirschberg (Hrsg.): Wörterbuch der Völkerkunde. 2. Auflage. Reimer, Berlin 2005, ISBN 3-496-00876-8, S. ??.
  • Adam Kuper: Lineage Theory. A Critical Restrospect. In: Annual Review of Anthropology. Band 11, Oktober 1982, S. 71–95 (englisch; doi:10.1146/annurev.an.11.100182.000443).
  • Pierre Bonté: Pastoral Production, Territorial Organisation and Kinship in Segmentary Lineage Societies. In: Philip C. Burnham, Ray Frank Ellen (Hrsg.): Social and Ecological Systems. Academic Press, London/New York 1979, ISBN 0-12-146050-9, S. 203–234 (englisch).
  • Meyer Fortes, Edward E. Evans-Pritchard (Hrsg.): African Political Systems. Oxford University Press, London 1940 (englisch; 4. Auflage von 1950 online bei archive.org).

Weblinks

  • Gabriele Rasuly-Paleczek: ad. Begriff Descent Theory bzw. Lineage Theory / ad. Begriff Lineage. (PDF: 1,8 MB; 58 Seiten) (Nicht mehr online verfügbar.) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 2/5). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 47–63 und 71–78, archiviert vom Original am 21. Oktober 2013; (Unterlagen zu ihrer Vorlesung im Sommersemester 2011).
  • Brian Schwimmer: Segmentary Lineages. In: Kinship and Social Organization. Department of Anthropology, Universität Manitoba, Kanada, 1995; (englisch, maximale und minimale Lineage-Segmente; Teil eines umfassenden Studientutorials zur sozialen Organisation).

Einzelnachweise

  1. a b J. Patrick Gray: Ethnographic Atlas Codebook. In: World Cultures. Band 10, Nr. 1, 1998, S. 86–136, hier S. 104: Tabelle 43 Descent: Major Type (englisch; PDF: 2,4 MB, 52 Seiten ohne Seitenzahlen; eine der wenigen Auswertungen aller damals weltweit 1267 erfassten Ethnien).
    1267 Ethnien = Zitat: “
    584 Patrilineal […] 160 Matrilineal […] 52 Duolateral […] 49 Ambilineal […] 11 Quasi-lineages […] 349 bilateral […] 45 Mixed […] 17 Missing data […].

    Prozente aller 1267 Ethnien weltweit (1998):
    584 = 46,1 % patri-linear: Herkunft vom Vater und seinen Vorvätern
    160 = 12,6 % matri-linear: Herkunft von der Mutter und ihren Vormüttern
    052 = 04,1 % bi-linear, duolateral: Unterschiedliches von Mutter und vom Vater
    049 = 03,9 % ambi-linear: frei auswählbar
    011 = 00,9 % parallel: Quasi-Linien, 2 geschlechtlich getrennte Linien
    349 = 27,6 % bilateral, kognatisch: Herkunft von Mutter und Vater (wie in der westlichen Kultur)
    045 = 03,6 % gemischt  +  17 = 1,6 % fehlende Daten.
    Ende 2012 waren im Ethnographic Atlas weltweit genau 1300 Ethnien erfasst, von denen oft nur Stichproben ausgewertet wurden, beispielsweise im internationalen HRAF-Projekt.

  2. Gabriele Rasuly-Paleczek: ad. Begriff Lineage. (PDF) (PDF-Datei: 1,8 MB, 58 Seiten). (Nicht mehr online verfügbar.) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 2/5). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 71–78, hier S. 71, archiviert vom Original am 21. Oktober 2013; abgerufen am 10. Oktober 2018. Zitat: „ad. Begriff Lineage: Abstammungsgruppen, die auf der Basis der unilinearen Abstammung gebildet werden, werden als Lineages (Linien) bezeichnet. Die Mitglieder der Lineage führen ihre Abstammung entweder auf einen gemeinsamen Ahnherren (bei patrilinearer Deszendenz) bzw. auf eine gemeinsame Ahnfrau (bei matrilinearer Deszendenz) zurück. (vgl. BARGATZKY 1985: S. 55) […] Solche Lineages operieren in zahlreichen Gesellschaften als korporative Einheiten. »Patrilineal or matrilineal descent unambiguously defines who is eligible for membership in a corporate group.« (KEESING 1975: S. 19)“.
  3. 6 Generationen in Kanada 2013 (vergleiche Generationsbezeichnungen): Gerd Braune: Ottawa: In einer kanadischen Familie leben sechs Generationen. In: Badische Zeitung. 19. Juli 2013, abgerufen am 10. Oktober 2018 (mit Foto): „Baby Ethan ist das jüngste Mitglied der Familie Steiner in Mississauga bei Toronto. Es ist vermutlich die einzige Familie Kanadas, in der sechs Generationen leben. […] Doreen Byers, seit dem Wochenende Ur-Ur-Ur-Großmutter, zählt 86 Jahre […] Mutter Priscilla (19), daneben Oma Stephanie (34) und Ur-Oma Steiner (51), im Hintergrund Ur-Ur-Oma Marilyn Cross (68) […]. Anmerkung: Das sind 5 matrilineare Frauengenerationen bis zum männlichen Baby (durchgehende Mütterline).“
    7 Generationen in den USA 1989, der Weltrekord: Guinness-Buch der Rekorde: Most living generations (ever). 2015, abgerufen am 10. Oktober 2018 (englisch). Zitat: “
    The most generations alive in a single family has been seven. […] Augusta Bunge (USA) aged 109 […] her daughter aged 89, her grand-daughter aged 70, her great-grand-daughter aged 52, her great-great grand-daughter aged 33 and her great-great-great grand-daughter aged 15 on the birth of her great-great-great-great grandson on 21 January 1989.
    ” Anmerkung: Das sind 6 matrilineare Frauengenerationen bis zum männlichen Baby (durchgehende Mütterline).

    Fast 200 Nachkommen wurden 1912 einer lebenden 93-jährigen Ur-Ur-Großmutter in Australien bescheinigt:

    Zeitungsmeldung: The Fifth Generation. In: The Brisbane Courier. Australien, 25. Mai 1912, S. 12 (online auf nla.gov.au), Zitat: “
    Mrs. Elizabeth Ann Crouch, Great-great-grandmother, 93; Mrs. John Negus, Great-grandmother, 64; Mr. John Edward Negus, Grandfather, 45; Mrs. Young, Mother, and her Baby. The total number of Mrs. Crouch’s descendants is nearly 200.
  4. a b c Britannica Online: lineage (sociology). (Nicht mehr online verfügbar.) 2008, archiviert vom Original am 8. Februar 2018; abgerufen am 10. Oktober 2018 (englisch). Zitat: “
    lineage, descent group reckoned through only one parent, either the father (patrilineage) or the mother (matrilineage). All members of a lineage trace their common ancestry to a single person. A lineage may comprise any number of generations but commonly is traced through some 5 or 10. Notionally, lineages are exclusive in their membership. In practice, however, many cultures have methods for bestowing lineage membership on individuals who are not genetically related to the lineage progenitor. The most common of these is adoption, although other forms of fictive kinship are also used. Lineages are normally corporate, meaning that their members exercise rights in common and are subject to obligations collectively.
  5. Brian Schwimmer: Segmentary Lineages. In: Kinship and Social Organization. Department of Anthropology, Universität Manitoba, Kanada, 1995, abgerufen am 10. Oktober 2018 (englisch).
  6. Lexikoneintrag: Lineage. In: Wissen.de. Abgerufen am 10. Oktober 2018: „Lineage ([…] englisch, »Abstammung, Geschlecht«): eine soziale Einheit, die sich aus Personen gleicher Abstammung entweder in väterlicher Linie (Patrilineage) oder mütterlicher Linie (Matrilineage) zusammensetzt und im Allgemeinen exogam ist. Im Unterschied zum Clan können die Mitglieder einer Lineage ihre genealogische Verbindung mit dem Gründer-Ahnen nachweisen. Die Lineage bildet meist eine Wirtschafts- und Solidaritätsgemeinschaft sowie eine Siedlungsgruppe.“
  7. Brian Schwimmer: Descent Group Functions. In: Kinship and Social Organization. Department of Anthropology, Universität Manitoba, Kanada, 1995, abgerufen am 10. Oktober 2018 (englisch).
  8. Helmut Lukas, Vera Schindler, Johann Stockinger: Allianzsystem. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997, abgerufen am 10. Oktober 2018: „Allianzsystem: Ein Beziehungssystem, das mittels über mehrere Generationen wiederholte Heiraten zwischen unilinearen Deszendenzgruppen oder anderen Verwandtschaftsgruppen festgesetzte und dauerhafte Heiratsbeziehungen produziert bzw. durch diese ausgedrückt wird.“
  9. Meyer Fortes, Edward E. Evans-Pritchard (Hrsg.): African Political Systems. Oxford University Press, London 1940, S. 7 (englisch; Seitenansicht aus der 4. Auflage von 1950 bei archive.org).
  10. Gabriele Rasuly-Paleczek: ad. Begriff Descent Theory bzw. Lineage Theory. (PDF) (PDF-Datei: 1,8 MB, 58 Seiten). (Nicht mehr online verfügbar.) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 2/5). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 47–63, hier S. 47, archiviert vom Original am 21. Oktober 2013; abgerufen am 10. Oktober 2018. Zitat: “
    Sie war vor allem in Großbritannien verbreitet und ist unter dem Namen »Deszendenztheorie« oder auch »Lineage Theorie« bekannt geworden. In den letzten beiden Jahrzehnten ist dieser Ansatz jedoch stark kritisiert worden (vgl. z. B. die Arbeit von Adam KUPER: Lineage Theory: A Critical Restrospect. In: Annual Review of Anthropology, Vol. 11, 1982, S. 71–95)
    ”.