Louis de Marsalle

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Louis de Marsalle (* 1. Januar 1804; † nach 1936, offiziell aber bereits im Januar oder Februar 1933[Anm. 1]) ist ein Pseudonym Ernst Ludwig Kirchners. Er bediente sich dieser fiktiven Person, um über sich selbst zu schreiben, und baute sie zum Zwecke der Kommerzialisierung als Kunstkritiker auf, im heutigen Sinn fast bis hin zu einer Marke.

Wann sich die beiden fiktiv zum ersten Mal begegnet waren, ist nicht genau feststellbar. 1920 veröffentlichte de Marsalle erstmals über Kirchner, der durchblicken liess, dass sie sich bereits 1917/18 kennengelernt hätten, als Kirchner seine Zeit im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee verbrachte, doch reichen gemeinsame Arbeiten wohl noch weiter zurück. Kirchner berichtete, der gebürtige Franzose de Marsalle habe bei ihm ein Aquarell erworben und angekündigt, fortan über die „Kunst des Meisters schreiben zu wollen“. Kirchner schrieb am 21. Januar 1920 an Ernst Gosebruch: „Ich habe hier einen französischen Dichter kennen gelernt. Ich staune und freue mich, wie der ruhig, sachlich, anspruchlos, verständlich über Kunst denkt und schreibt. Er interessiert sich sehr für meine Arbeit und wird über meine Zeichnungen schreiben.“[1]:S. 419 Das Vertrauen zur Existenz de Marsalles in Kunstkreisen rund um Kirchner schwand mit der Zeit mehr und mehr, weil ihn niemand kannte und er bei Ausstellungen nie anwesend war. Kirchner entschuldigte ihn mit dem Hinweis, er sei gerade nach Nordafrika abgereist und käme erst in ein paar Monaten wieder. Um weiteren Fragen zuvorzukommen, so Thorsten Sadowsky, Direktor des Kirchner Museums, liess Ernst Ludwig Kirchner de Marsalle Anfang 1933 sterben.[2]

Leben

De Marsalle ist Sohn des Toussaint Bréda schwarzafrikanischer Abstammung, auch als François-Dominique Toussaint Louverture bekannt, der bereits am 7. April 1803 in den Kerkern von Château de Joux im französischen Teil des Jura-Gebirges an Entkräftung starb. Der Nationalheld Haitis gilt als Opfer Napoleon Bonapartes.

Als Artisten des Berliner Zirkus Schumann, auf einer Tournee in Dresden, skizzierte Kirchner ihn erstmals; später stand er noch öfter Modell für ihn. Nach Meinung de Marsalles sah Kirchner in ihm „den wilden Mann, jemand der mit dem Philosophen Rousseau auf allen Vieren durch die Wälder kroch und nackt in kalten Seen badete. Ich konnte ihm da wenig helfen, aber das Bogenschiessen hat er immerhin von mir gelernt.“[3]: S. 10 1915 gab es ein kurzes Wiedersehen, als Kirchner nach Berlin zog, doch erst 1920 sind sie durch den Besuch de Marsalles bei Kirchners Kur am Bodensee richtig zusammengekommen.

Nach diesem Treffen organisierte de Marsalle in Paris Kontakte zu bedeutenden Künstlern, ohne seinen Auftraggeber zu nennen. In der folgenden Zeit unternahm de Marsalle etliche Reisen ins nördliche Afrika, war aber wiederholt in Davos, um Kirchners neue Werke zu begutachten und darüber zu schreiben. Die letzte Begegnung zwischen den beiden fand 1936 in Chur statt, wo gegen David Frankfurter in der Sache Wilhelm Gustloff verhandelt wurde.[3]: S. 13

Rezeption

Kirchner selbst übersetzte de Marsalles Texte ins Deutsche. Weikop vermutet, dass Kirchners „grösst-durchtriebene List“, die Schaffung dieser Kunstfigur, ihm mit dem Schreiben der Geschichte der Brücke (1913) gekommen sei.[1]: S. 407 Kirchners Abgeschiedenheit in den Schweizer Alpen seit 1917, gepaart mit seiner egozentrischen Betrachtung, dürfte dazu beigetragen haben, das Bedürfnis zu verspüren, sich selbst medial zu vermarkten. Der Maler, der gleichzeitig auch ein begnadeter Schriftsteller war, wie seine umfangreiche Briefehinterlassenschaft zeigt, hatte mithilfe dieses Alter Ego die Unterstützung eines Ausländers, dessen Kritik positiv besetzt war. Nach Meinung Kirchners wurde die französische Künstlerszene zu dieser Zeit als höherstehend beurteilt. Auf den Kunstkritikern lag bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine hohe Verantwortung, kamen die meisten Kunstzeitschriften noch ganz ohne Abbildungen heraus und lag die Imagination des Kunstinteressierten daher vollständig auf der deskriptiven Sprache des Kunstkritikers. „Das wirtschaftliche Sein des Künstlers, seine Möglichkeit des Überlebens, ergab sich also auch aus seinem Selbstbewußtsein, aus seiner Überzeugungskraft beziehungsweise seiner Sprachfähigkeit.“[4]: S. 38

Literatur

  • Über Kirchners Graphik. Genius. Zeitschrift fuer werdende & alte Kunst, Zweites Buch 1921, Kurt Wolff-Verlag
  • Louis de Marsalle. Air de Davos. Ein Lebensbericht. Herausgegeben vom Kirchner Museum, Davos 2016, ISBN 978-3-9524175-3-9.

Quellen

  • Rose-Carol Washton Long et al.: German Expressionism: Documents from the End of the Wilhelmine Empire to the Rise of National Socialism. University of California Press, 2. Auflage 1995, ISBN 978-0-520202-64-1.

Anmerkungen

  1. Im gedruckten Ausstellungskatalog zu Ernst Ludwig Kirchner in der Kunsthalle Bern, die am 5. März 1933 begann, schrieb de Marsalle den Einleitungstext. Hinter seinem Namen war ein Lateinisches Kreuz abgedruckt.

Einzelnachweise

  1. a b Christian Weikop: Ernst Ludwig Kirchner as his own critic: The artist's statements as strategems of self-promotion. Forum for Modern Language Studies, Vol. 48, Nr. 4. Advance Access Publication, 26. September 2012, S. 406–420.
  2. Während einer Museumsführung durch sein Haus am 30. September 2016.
  3. a b Louis de Marsalle. Air de Davos. Ein Lebensbericht. Herausgegeben vom Kirchner Museum, Davos 2016
  4. Roland Scotti: Kunstkritik in Frankreich zwischen 1886 und 1905. IT Verlag, Mannheim 1994, ISBN 3-9803035-1-9.