Matilda-Effekt

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Der Matilda-Effekt beschreibt die systematische Verdrängung und Leugnung des Beitrags von Frauen in der Wissenschaft, deren Arbeit häufig ihren männlichen Kollegen zugerechnet wird. Der Effekt wurde 1993 von der Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter postuliert. Benannt ist er nach der US-amerikanischen Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage, die am Ende des 19. Jahrhunderts dieses Phänomen als Erste allgemein beschrieben hat. Der Matilda-Effekt ist die Kehrseite des Matthäus-Effekts, der die selbstverstärkte Anhäufung von Ansehen beschreibt und von Robert K. Merton postuliert wurde. Zugleich illustriert der Matilda-Effekt die zweite Hälfte des Zitats aus dem Matthäus-Evangelium: „… wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden“ (Matthäus 25,29 EU; aus dem Gleichnis von den anvertrauten Talenten).

Der Matilda-Effekt soll mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit auftreten und so auf eine patriarchal geprägte Wissenschaftsgeschichte hindeuten.

Bekannte Fälle

Altertum

  • Der wohl älteste, bekannte Fall des Matilda-Effekts betrifft die Philosophin und Mathematikerin Theano, die im 6. Jahrhundert vor Christus gelebt hat und die Frau von Pythagoras war. Obwohl sie zu einem Teil seiner Erkenntnisse beigetragen hat, wurde schlussendlich alles als seine Arbeit deklariert. Es wird nicht mehr geklärt werden können, wie hoch auch der Anteil der beiden Töchter Myia und Damo tatsächlich war, denen zumindest einige Schriften zugeordnet werden konnten.[1] Bei der Tradition über Pythagoras und seine Schule ist aber vieles unsicher und spekulativ.
  • Trotula, eine italienische Ärztin aus dem 11. Jahrhundert, schrieb Abhandlungen, die so bedeutend waren, dass sie im Verständnis der Zeitgenossen unmöglich von einer Frau stammen konnten: Schon ein Jahrhundert später erschienen Kopien ihrer Texte unter dem Namen ihres Mannes.[2] Noch im 20. Jahrhundert vertrat der Wissenschaftshistoriker Karl Sudhoff die These, dass Trotula eine Hebamme und keine Ärztin gewesen sei.
  • Die Mathematikerin Pandrosion aus Alexandria, die sogar lange als Mann in der Wissenschaftsgeschichte geführt wurde.

Beispiele aus der Neuzeit

Der Matilda Effect auf einem Poster erklärt

In Resonanz auf Marie Curies Besuch in den USA 1921 schrieb ein Journalist der New York Times, dass es auch in Zukunft mehr Männer als Frauen in der Wissenschaft geben würde, da es letzteren an der Fähigkeit mangele, Fakten abstrakt statt nur relational zu sehen.[3]

Selbst bei der Formulierung des Matthäus-Effekts zeige sich deutlich der Matilda-Effekt: In der zweiten englischsprachigen Auflage (1973, deutsch 1985) seines Textes über den Matthäus-Effekt bemerkt Robert K. Merton, dass er sich so intensiv auf Arbeiten seiner Mitarbeiterin und späteren Frau, der US-Soziologin Harriet Zuckerman gestützt habe, dass der Artikel unter ihrer beider Namen hätte erscheinen müssen.

In der Filmkomödie „Wer ist Mr. Cutty?“, USA 1996, spielt Whoopie Goldberg eine Investmentbankerin, die einen Chef erfindet, um ihre Ideen vermarkten zu können.

Weitere Betroffene:

Mediale Darstellung

Ben Barres (1954–2017), ein als Frau geborener Neurobiologe und Mediziner, veröffentlichte posthum seine Autobiografie „The Autobiography of a Transgender Scientist“, in der er hervorhebt wie schwer es als Frau und Wissenschaftlerin war, neben den männlichen Kollegen zu bestehen. Die letzten 20 Jahre seines Lebens lebte Barres, der sich selbst als transgender bezeichnete, als Mann. Bereits zu Lebzeiten hatte er begonnen sich öffentlich über den Sexismus in der Wissenschaft zu beklagen, u. a. indem er in Fachzeitschriften Artikel zu dem Thema veröffentlichte."[4]

Der wahre Fall der Gehirnforscherin Marian Diamond, die zur Entdeckung der neuronalen Plastizität beigetragen hat, erschien 2017 als vielfach preisgekrönte Dokumentation unter dem Titel "My Love Affair With the Brain".[5]

Literatur

  • Margaret W. Rossiter: The Matthew Matilda Effect in Science. in: Social Studies of Science. Sage Publ., London 23. 1993, S. 325–341. ISSN 0306-3127
    • Margaret W. Rossiter: Der Matilda Effekt in der Wissenschaft. in: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. transcript, Bielefeld 2003, S. 191ff. ISBN 3899421183 (deutsch, online; PDF; 10,6 MB)
  • Robert K. Merton: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Suhrkamp, Frankfurt 1985, ISBN 3518577107
  • Anne E. Lincoln, Stephanie Pincus, Janet Bandows Koster, Phoebe S. Leboy: The Matilda Effect in science: Awards and prizes in the US, 1990s and 2000s. In: Social Studies of Science, Band 42, Nr. 2 (April 2012), S. 307–320

Einzelnachweise

  1. Biographies of Women in Mathematics. Theano c. 6th Century B.C. (engl.) Agnes Scott College, aufgerufen am 22. September 2021
  2. Margaret W. Rossiter: The Matthew Matilda Effect in Science (auf engl.). First Published May 1, 1993 doi: 10.1177/030631293023002004
  3. Margaret Rossiter: Women Scientists in America. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1982, S. 127. Naomi Oreskes: Objectivity or Heroism? On the Invisibility of Women in Science. In: Osiris 11, 2nd Series, Science in the Field (1996), S. 87–113, hier: 103.
  4. Ben Barres: neuroscience pioneer, gender champion (engl.) Nature, aufgerufen am 22. September 2021
  5. My Love Affair With the Brain. The Life and Science of Dr. Marian Diamond (engl.) Luna Productions, aufgerufen am 22. September 2021