Mirsaid Sultan-Galijew

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Mirsaid Sultan-Galijew

Mirsaid Chaidargalijewitsch Sultan-Galijew (tatarisch Мирсәет Хәйдәргали улы Солтангалиев Mirsäyet Xäydärğäli ulı Soltanğäliev, * 13. Juli 1892 bei Ufa; † 28. Januar 1940 in Moskau) war ein tatarischer Politiker Russlands und zwischenzeitlich der höchstrangige Muslim in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU).

Zunächst ein Anhänger des panturanischen Dschadidismus, schloss sich Galijew 1917 noch vor der Oktoberrevolution der Kommunistischen Partei an, unterstützte die Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg mit eigenen muslimischen Milizen und wurde 1918 Vorsitzender des Muslimischen Militärkollegiums Sowjetrusslands. Die Wolgatataren unterstützten unter seiner Führung die Rote Armee gegen antikommunistische Baschkiren, Kasak-Kirgisen, Aserbaidschaner und Krimtataren. Er gilt als ein Wegbereiter des muslimischen Nationalkommunismus und wurde deswegen nach dem Tode Lenins jahrelang verfolgt.

Leben

Sultan-Galijew wurde als Sohn eines Lehrers geboren, der mit seiner Frau und seinen 12 Kindern in ärmlichen Verhältnissen lebte, die von häufigen Ortswechseln geprägt waren. Er wurde ein lernbegieriger Schüler im Mekteb (islamische Grundschule) seines Vaters, an der nach der „neuen Methode“ von İsmail Gasprinski unterrichtet wurde, und machte sich zudem in der Bücherei seines Vaters mit der russischen Sprache und Literatur vertraut. Nach der Revolution von 1905 zog er nach Baku, wo er Kontakt zu Nəriman Nərimanov aufnahm. Nach einer siebenjährigen Schulzeit konnte er 1907 in die Pädagogische Hochschule in Kasan eintreten, die er 1911 als Lehrer abschloss. Er war ein begeisterter Leser russischer Literatur und übersetzte Werke von Tolstoi und Puschkin in die tatarische Sprache. Seine erste Gattin Rausa Chanyschewa, die er 1913 heiratete, übernahm eine führende Rolle in der Frauenbewegung. 1918 ließ sich das Paar scheiden. Mit seiner zweiten Frau Fatima Jersina, die er 1918 heiratete, hatte er zwei Kinder.

Politische Aktivitäten

Statt des westlich-proletarischen Kommunismus der Bolschewiki setzte sich Galijew für die Einführung eines islamischen Sozialismus bei den muslimisch geprägten Völkern der Sowjetunion ein, der durch eine allmähliche „Entfanatisierung“ und Säkularisierung erreicht werden sollte.[1] Das Modell der Komintern sah er als für Kolonialvölker ungeeignet an. Galijew setzte sich daher für eine separate muslimische KP neben den Bolschewiki und eigene muslimische Divisionen in der Roten Armee ein. Von 1919 bis 1922 arbeitete er im Auftrag Lenins in Moskau im Narkomnaz.

Galijew wurde einer der ersten Befürworter einer proto-dependenzistischen Klassenanalyse, die er unter anderem in seinem Artikel Soziale Revolution und der Osten[2] darstellte. Er beschreibt darin seine Ansicht, dass die Völker des Westens in einer Abhängigkeitsbeziehung zu den Völkern des Ostens stehen.

“If a revolution succeeds in England, the proletariat will continue oppressing the colonies and pursuing the policy of the existing bourgeois government; for it is interested in the exploitation of these colonies. In order to prevent the oppression of the toiler of the East we must unite the Muslim masses in a communist movement that will be our own and autonomous.”

„Wenn eine Revolution in England erfolgreich sein sollte, wird ihr Proletariat weiterhin von der Ausbeutung der Kolonien leben und eine Kolonialpolitik verfolgen, die der der vorhergehenden bourgeoisen Regierung gleich ist, denn es ist natürlich daran interessiert, die Abhängigkeitbeziehung zu den Kolonien zu verlängern. Um die Ausbeutung der Arbeiter des Ostens zu verhindern, müssen wir die muslimischen Massen in einer kommunistischen Bewegung einen, die unsere sein wird und autonom.“

Mirsaid Sultan-Galijew: auf der neunten Konferenz des tatarischen Oblastparteikomitees, 1923[3]

Fernziel war ein nur föderativ mit Sowjetrussland verbundener „sozialistischer Turan“, der das tatarische Wolga-Ural-Gebiet sowie ganz Turkestan umfassen sollte und dem sich später auch weitere orientalische Völker und Staaten anschließen könnten. Als Nahziel strebte Galijew zumindest mit seinem „tatarisch-baschkirischen Komitees“ eine gemeinsame tatarisch-baschkirische Republik anstelle der späteren zwei Teilrepubliken an.

Stalin ließ ihn aber 1920 nur eine Tatarische Sowjetrepublik in Kasan bilden, die zuvor gebildete Baschkirische Sowjetrepublik wurde nicht angeschlossen, Galijew 1923 wegen „bürgerlich-nationalistischer Abweichungen“ aus der KP ausgeschlossen und Tatarstan zur ASSR umgebildet. 1924 wurde auch die ASSR Turkestan in zahlreiche kleinere Sowjetrepubliken bzw. ASSR aufgeteilt. Nach dem Tode Lenins in diesem Jahr verlor Galijew seinen einzigen Beschützer und wurde erstmals verhaftet. Seit 1928 erneut verhaftet, wurde er zunächst zum Tode, dann zu zehnjähriger Lagerhaft verurteilt, aus der er jedoch 1934 befreit wurde und anschließend eine Aufenthaltsgenehmigung in der Oblast Saratow erhielt. 1937, im Zuge der Stalinschen Säuberungen, wurde er vom NKWD abermals verhaftet und zu einem Schuldbekenntnis gezwungen. Seine Ziele wurden als „Sultangalijewismus“ verunglimpft und gebannt. Nachdem er im Dezember 1939 zum Tode verurteilt worden war, erfolgte seine Hinrichtung im Januar 1940.

Literatur

  • Halit Kakınç: (Mirseyid) Sultangaliyev. Ankara 2011
  • Gabriele Bucher-Dinc: Die mittlere Wolga im Widerstreit sowjetischer und nationaler Ideologien – Eine Untersuchung anhand autobiographischer und publizistischer Schriften des Wolgatartaren Mirsaid Sultan-Galiev. Wiesbaden 1997
  • Erhard Stölting: Eine Weltmacht zerbricht – Nationalitäten und Religionen der UdSSR. Frankfurt 1990

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Maxime Rodinson: Sultan Galiev - a forgotten precursor
  2. I.G. Gissatullin & D.R. Scharafutdinow (Hrsg.), Мирсаид Султан-Галиев: избранные трдуы. S. 198ff. (russisch)
  3. Zitiert von S.I. Gimranow auf der neunten Konferenz des tatarischen Oblastparteikomitees, 1923, aus dem Стенографический отчет IX областной конференции Татарской организации РКП(б) (Kasan, 1930), in: A.A. Bennigsen & S.E. Wimbush, Muslim National Communism in the Soviet Union. Chicago & London: The University of Chicago Press. S. 231