Neorealismus (Kunstströmung)

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Der Neorealismus ist eine sozialrealistische Strömung in der Prosaliteratur, im Film und in der Malerei Italiens, Portugals und Brasiliens um die Mitte des 20. Jahrhunderts (ca. 1930–1965). Charakteristisch sind ein einfacher Sprachstil unter Einbeziehung der Alltagssprache und der Dialekte sowie der Verzicht auf Rhetorik und Konventionen. Im Vordergrund steht die Darstellung des schwierigen Lebens und der emotionalen Konflikte sozial schwacher und bäuerlicher Schichten, die in Abhängigkeit von privilegierten Eliten stehen. Jede Idealisierung wird vermieden. Das Gebot der Objektivität und Neutralität führt zu einer distanziert-dokumentarischen, ungeschönten Darstellungsweise.[1] Filme werden meist nicht im Studio, sondern an teils düsteren Originalschauplätzen gedreht. Sprachliche Innovationen der vorhergehenden Periode des Modernismo werden zwar aufgegriffen, jedoch sind die Akteure im Neorealismus weitaus schlichter gezeichnet als die höchst komplexen Subjekte des Modernismo; ihr Handeln wird oft als von Zwängen und Traditionen determiniert dargestellt.

Deutliche Parallelen zum Neorealismus gibt es im französischen Kino der 1930er Jahre und bei verschiedenen Autoren der Generation der 30er Jahre in Griechenland.

Nach 1945 machten sich verstärkte Einflüsse des Marxismus und der Psychoanalyse vor allem auf den italienischen Neorealismus geltend. Der postfaschistische italienische Film spielte eine wichtige Rolle in dem dann einsetzenden Kulturkampf. Obwohl sich der Neorealismus vom sozialistischen Realismus abgrenzt, bedient er sich doch häufig der Schwarz-Weiß-Malerei und lässt seine didaktischen Absichten bis hin zur Karikatur erkennen.

Dem portugiesischen und brasilianischen literarischen Neorrealismo fehlte der starke Impetus zur kulturellen Erneuerung; dafür rückte in den 1950er und 1960er Jahren die psychische Entwicklung der Figuren in den Vordergrund.[2]

In Skandinavien knüpften Strömungen, die man als neorealistische bezeichnen kann, an die alte realistisch-sozialkritische Tradition der skandinavischen Literatur an. Als Film ragt Ditte Menneskebarn (Ditte Menschenkind) von 1946 heraus, eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Martin Andersen Nexö.

Hintergrund

Die Weltwirtschaftskrise der 1920er/1930er Jahre führte zur Verarmung breiter Schichten. Nicht nur in industriellen, sondern auch in rückständigen ländlichen Regionen wie im Mezzogiorno, in Portugal und im brasilianischen Nordosten verschlechterten sich die Lebensbedingungen. Gleichzeitig erstarkten die Diktaturen in Italien, Portugal und Brasilien; die von ihnen entworfenen ständestaatlichen Konzepte und Arbeitsgesetze zementierten die Privilegien der Eliten und verstärkten die Abhängigkeit der ländlichen Bevölkerung durch politische Repressionsmaßnahmen. Diese Tendenzen wie auch das Scheitern der Volksfront in Frankreich und der Spanische Bürgerkrieg trugen zur Politisierung breiter Schichten, aber auch zu einem Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Fatalismus bei. Dies fand seinen Ausdruck in der Formierung einer neorealistischen Strömung Ende der 1930er Jahre.

Die distanzierte, pessimistische Darstellungsweise der Neorealisten zeigte die ökonomischen, sozialen und psychischen Konflikte und ihre dramatische Zuspitzung im Alltag der kleinen Leute auf. Die frühen Neorealisten boten weder greifbare Lösungen noch ideologische Deutungen an. Gerade deshalb konnten die Autoren und Regisseure die Zensur oft unterlaufen, die in Portugal besonders ausgeprägt war. Der italienische Film des Neorealismo orientierte sich hingegen vordergründig an den Vorgaben der offiziellen Kulturpolitik, wenn er sich von den Formen des traditionellen Unterhaltungsfilms abwendete, und genoss dabei erhebliche Gestaltungsfreiheiten. Einige italienische Autoren wie Elio Vittorini gehörten dem linksintellektuellen Flügel der italienischen Faschisten an.

Italien

Literatur

Vorläufer finden sich im italienischen Verismo; jedoch fehlte diesem das sozialkritische Element und das Engagement für die radikale Erneuerung der Kultur, das im italienischen Neorealismo bzw. Neoverismo spürbar ist. Zu den wichtigen Autoren des italienischen Neorealismo bzw. Neoverismo gehören Cesare Pavese, Elio Vittorini, Carlo Levi, Alberto Moravia, Italo Calvino und Ignazio Silone.

Film

Malerei

In Italien rechnet man Renato Guttuso zum Neorealismo pittorico, jedoch wird er oft auch als Expressionist bezeichnet.

Architektur

Von neorealistischer Architektur spricht man in Bezug auf eine Gruppe italienischer Architekten, die sich gegen den Klassizismus des Faschismus ebenso wie gegen den Rationalismus und Funktionalismus der Internationalen Stils wendete. Vertreter waren u. a. Ludovico Quaroni und Carlo Aymonino sowie Lina Bo Bardi, die 1946 nach Brasilien auswanderte und dort ihr Werk fortsetzte.

Lateinamerika

Argentinischer Nuovo Realismo in Theater und Film

Im Theater und Film wurde die argentinische Strömung des Neorealismus oder Sozialrealismus in den 1950er und 1960er Jahrenvon Carlos Gorostiza und Roberto Cossa begründet. Sie hatte seit 1976 mit der Zensur der Militärdiktatur zu kämpfen.

Brasilianischer Regionalismo in der Literatur

Als erstes Werk dieser Strömung, die als brasilianische Variante des Neorealismus betrachtet werden kann, gilt der Roman A Bagaceira (1928) von José Américo de Almeida. Weitere Vertreter waren José Lins do Rego (1901–1957), der das Leben auf den Zuckerrohrplantagen schilderte (Menino de engenho, 1932), Graciliano Ramos („Karges Leben“, dt. 2013), Érico Veríssimo und der frühe Jorge Amado.

Brasilianisches Cinema Novo

Fome von Olympio Guilherme (1929) gilt als erster neorealistischer brasilianischer Film. Der Neorealismus lebte im Cinema Novo der 1950er und 1960er Jahre weiter. Ein spätes Werk dieses von Nelson Pereira dos Santos geprägten Stils ist der von Héctor Babenco während der Militärdiktatur 1980 mit Straßenkindern als Laiendarsteller gedrehte Film Pixote („Asphalt-Haie“). Prägend für das Cinema Novo ist ein „Ästhetik des Hungers“.[3] Auch der große Regisseur Anselmo Duarte waren vom (italienischen) Neorealismus beeinflusst.

Neorealistische Malerei

Auch die mexikanische Malerschule des Muralismo um Diego Rivera und José Clemente Orozco und die Arbeiten des brasilianischen Malers Candido Portinari werden als neorealistisch bezeichnet.

Der Maler Antonio Berni wurde in den 1930er Jahren von den Surrealisten und den mexikanischen Muralisten beeinflusst. 1936 veröffentlichte er den programmatischen Text El nuevo realismo.[4] Er wandte sich sozialen Themen zu und erstellte eine Reihe von Gemälden auf Jute, die großes Aufsehen erregten. In den 1950er Jahren erstellte er eine Reihe von Collagen, die sich auf das Alltagsleben eines fiktiven Jungen aus den Slums von Buenos Aires konzentrierten.

Portugiesischer Neorrealismo

Der brasilianische Roman des Nordostens beeinflusste auch die portugiesische Literatur. Diese entwickelte mit gewisser zeitlicher Verzögerung ebenfalls eine neorealistische Strömung in Reaktion auf den ästhetischen Modernismo und nahm dabei auch Anregungen von John Steinbeck und John Dos Passos auf.[5] Wichtige Autoren des portugiesischen Neorrealismo sind Alves Redol, der von der PIDE verfolgt wurde und zeitweise inhaftiert war, Manuel da Fonseca („Saat des Windes“, dt. 1990), Fernando Namora und der Marxist Carlos de Oliveira, der in sprachlicher Hinsicht jedoch an den Modernismo anknüpft. Während Redol recht indifferent gegenüber ästhetischen Fragen ist und nur dokumentieren möchte, knüpft Oliveira an die poetische und symbolische Sprache des Presençismo, also der Modernistengeneration der 1920er Jahre an. In Mosambik zeigte sich der portugiesischstämmige Orlando Mendes in seiner Lyrik vom Neorealismus beeinflusst.

Als erster neorealistischer Film Portugals gilt Aniki Bóbó von Manoel de Oliveira (1942), ein Film über die Kinder des Hafenviertels von Porto. An diese Arbeit, die wegen der Behinderung einer kritisch-realistischen Filmproduktion durch das Regime Salazars lange allein stand, knüpfte in den 1960er Jahren das Novo Cinema an.

Poetischer Realismus im französischen Film

Wichtige Vertreter des Poetischen Realismus, einer nicht sehr einheitlichen Strömung des französischen Films, waren Jean Vigo, Jean Renoir, Marcel Carné und René Clair (À nous la liberté, 1931). Als Schauspieler ist vor allem Jean Gabin zu erwähnen. Zu dieser Strömung gehören die ersten Tonfilme der frühen 1930er Jahre, die die Möglichkeiten des Dialogs voll ausschöpften. Gemeinsam sind vor allem den Filmen der späten 1930er Jahre – der Zeit der Volksfront in Frankreich – die Fokussierung auf einfache, oft randständige Menschen, eine teils fatalistische, teils lyrische Grundstimmung, die subtile Lichtregie mit vielen nächtlichen Szenen sowie dokumentarfilmartige naturalistische Sequenzen.[6]

Siehe auch

Literatur

  • João Pedro de Andrade: Ambições e limites do Neo-Realismo Português. Editora Acontecimento, 2002 (portugiesisch)
  • Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Italienischer Neorealismus. Text+ Kritik 63, München 1979.

Einzelnachweise

  1. Neorealismus, in: Der Literatur Brockhaus, Bd. 2, Mannheim 1988, S. 686.
  2. Francisco Martins: The prostrate hero in the novels of António Alves Redol. City University of New York, New York 1978.
  3. Kathrin Sartingen: Transit Brasil: Transkulturalität und Identität im brasilianischen Film. In: Eva Gugenberger, Kathrin Sartingen (Hrsg.): Hybridität – Transkulturalität – Kreolisierung. Wien, Berlin 2011, S. 101.
  4. Antonio Berni: El nuevo realismo. In: Forma, Buenos Aires, August 1936, H. 8, S. 14.
  5. Harri Meier, Ray-Güde Mertin: Die portugiesische Literatur. In: Kindlers neues Literatur-Lexikon. Bd. 20. München 1996, S. 75.
  6. Vincent Pinel: Ecoles, genres et mouvements au cinéma. Larousse: Paris 2000, S. 184 f.