Ochsentour

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Ochsentour ist ein negativ konnotierter Begriff aus der deutschen Politikwissenschaft und Parteienforschung, der für den Verlauf von Karrierewegen in Politikerbiographien gebraucht wird und ein langjähriges Organisationsengagement beschreibt.[1] Ein alternatives Modell beschreibt den eher untypischen Weg der Seiteneinsteiger.[2]

Zur Begrifflichkeit

Die Bezeichnung Ochsentour beschreibt den häufig mühsamen Verlauf einer Politikerkarriere, insbesondere seine Parteilaufbahn – dem Lauf „durch Orts- und Kreisverbände, Gemeinde- und Stadträte.“[3] Diese beginnt auf der lokalen Ebene mit der Übernahme kleinerer Parteiämter – meist in den Jugendorganisationen der Parteien. Diesen schließen sich kommunale Aufgabenbereiche und Posten an. Später kommt es bei Erfolg und Durchhalten zur Vergabe bedeutenderer Positionen in der öffentlichen Verwaltung. Von dieser erweiterten Ausgangslage aus besteht die Möglichkeit, prestigeträchtige Funktionen auf Landes- oder Bundesebene zu übernehmen. Gleichzeitig steigt die Chance, auf Landtags- oder Bundestagsmandate kandidieren zu dürfen. Von hier aus führt der Weg der fachpolitischen Sprecher, die sich in ihren Themengebieten öffentlich profilieren können, überproportional häufig in Regierungspositionen.[4] Dies beschreibt allerdings nur den statistisch signifikant am häufigsten auftretenden Verlauf.

Somit ist die Ochsentour ein Weg der Qualifikation von Politikern, die ihr Handwerk von den unteren kommunalen Verwaltungspositionen an erlernen. Daneben erlernen diese vor allem die Zusammenführung von Mehrheiten und den Verzicht auf private Eitelkeiten und Rivalitäten.[5] Daneben beschreibt sie eine Art Stimmungsmesser: Wie kommt der Politiker in der öffentlichen Meinung an? Die Messlatte spielt hierbei die Parteibasis, die diesen in neue Ämter wählt und dort dann ggf. bestätigt. In dieser Form des Stimmungsbarometers lässt sich der Wert der öffentlichen Zuschreibung von Charisma abschätzen, welches der Politiker letztlich in den bedeutenderen Wahlen benötigt.[6] Innerparteiliche Karrieren sind demnach mit öffentlichen Wahlämtern verknüpft.[7]

Aufhebungsstrategien

Die Ochsentour wird für immer weniger junge Menschen hinsichtlich der politischen Beteiligung und Karriereplanung – oder Personalrekrutierung für die Parteien selbst – ein Weg.[8] Als Ursachen sind hier Politikverdrossenheit und das fehlende Vertrauen in die Parteien zu benennen.

Protektion und Beziehungen

Für Seiteneinsteiger übernehmen Mentoren die wichtige Funktion, ihnen den langjährigen Weg durch die Parteihierarchie zu ersparen. Denn erstens können Externe nicht einfach die Forderung nach hohen Ämtern stellen; hierfür benötigt es einer in der Partei akzeptierten Persönlichkeit aus der Elitenebene, die kraft der ihr zugewiesenen Autorität die Tür öffnet. Zweitens fungiert der Mentor als Rollenvorbild und Lehrmeister für ein Denken und Handeln, welches zum Erfolg führt. Drittens übernimmt diese Person die Protektion, da die Quereinsteiger noch keine politische Machtbasis innerhalb der Partei besitzen. Der Patron teilt hierfür seinen Machtzugriff und Rückhalt. Dies führt in der Anfangszeit zu hoher politischer Abhängigkeit der Seiteneinsteiger.[9]

Parteiexterne Bekanntheit

Zahlreiche verbürgte Fälle zeigen, dass Personen durch öffentlichkeitswirksame Tätigkeit außerhalb von Parteien für diese als Kandidaten interessant werden oder sich selbst ins Gespräch bringen und auf diese Weise über die parteiinternen Wahlverfahren für höhere Ämter aufgestellt werden.[10]

Beispiel: Sozialdemokratie

Vor allem in der deutschen Sozialdemokratie ist das Beschreiten der Ochsentour ein gängiger Weg zum politischen Aufstieg. Bereits die historische SPD, die in ihrem Aufstieg zur legalen parlamentarischen Massenpartei immer ihren „revolutionären sozialistischen“ Anspruch abwog, besaß eine straffe Parteihierarchie. Vom Parteiapparat wurde diese nach unten weitergegeben. Die Führung hatten die Funktionäre inne, die mit der Partei aufgestiegen sind.[11] Bereits Robert Michels beschrieb die disziplinierende Wirkung der Ochsentour, „die aus einem jungen Radikalen über die Jahre einen fügsamen Parteisoldaten macht, der der alten Elite nicht mehr gefährlich werden kann.“ Bedeutsam sind hier Verbürgerlichungsprozesse innerhalb der sozialdemokratischen Eliten und nicht zuletzt die Inkorporierung gewünschten – positiv sanktionierten – Verhaltens. Hierüber gelänge es, die Parteiränder zu integrieren.[12]

Einzelnachweise

  1. Robert Lorenz / Matthias Micus: Die flüchtige Macht begabter Individualisten, S. 487–503, in: Robert Lorenz und Matthias Micus (Hrsg.): Seiteneinsteiger - Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie, Wiesbaden 2009, S. 503
  2. Robert Lorenz / Matthias Micus: Die flüchtige Macht begabter Individualisten, S. 487–503, in: Robert Lorenz und Matthias Micus (Hrsg.): Seiteneinsteiger - Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie, Wiesbaden 2009, S. 487
  3. Zitiert nach: Ulrich Sarcinelli, Jürgen W. Falter, Gerd Mielke und Bodo Benzner (Hrsg.): Politik in Rheinland-Pfalz: Gesellschaft, Staat und Demokratie, Wiesbaden 2010, S. 278
  4. Andreas K. Gruber: Der Weg nach ganz oben - Karriereverläufe deutscher Spitzenpolitiker, Wiesbaden 2009, S. 246–252
  5. Martin Morlok: Politische Chancengleichheit durch Abschottung? Die Filterwirkung politischer Parteien gegenüber gesellschaftlichen Machtpositionen, S. 19–36, in: David Gehne und Tim Spier (Hrsg.): Krise oder Wandel der Parteiendemokratie?, Wiesbaden 2010, S. 30f
  6. Jasmin Siri: Parteien - Zur Soziologie einer politischen Form, Wiesbaden 2012, S. 163
  7. Andreas K. Gruber: Der Weg nach ganz oben - Karriereverläufe deutscher Spitzenpolitiker, Wiesbaden 2009, S. 123
  8. Ulrich Sarcinelli: Politische Kommunikation in Deutschland. Medien und Politikvermittlung im demokratischen System, Wiesbaden 2011 (2005), S. 236.
  9. Robert Lorenz, Matthias Micus: Die flüchtige Macht begabter Individualisten, S. 487–503, in: Robert Lorenz und Matthias Micus (Hrsg.): Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie, Wiesbaden 2009, S. 487f.
  10. Vgl. z. B. Peter Grupp: Harry Graf Kessler als Diplomat, S. 61–78, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 40. Jahrgang, 1. Halbjahr (Jan. 1992), hier S. 70 (PDF).
  11. Erich Matthias: Der Untergang der alten Sozialdemokratie 1933, S. 250–286, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4. Jahrg., 3. H. (Jul., 1956), S. 282
  12. Dirk Jörke: Eine Phänomenologie der Macht - zur Aktualität von Michels' mikropolitischen Beobachtungen, S. 229–240, in: Harald Bluhm und Skadi Krause (Hrsg.): Robert Michels’ Soziologie des Parteiwesens Oligarchien und Eliten – die Kehrseiten moderner Demokratie, Wiesbaden 2012, S. 233f