Omar Kingsley

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„Miss Ella“. Das Bild befindet sich im Musée des Civilisations de l'Europe et de la Méditerranée in Marseille

Omar oder Olmer oder Olmar Kingsley (* 1840 in St. Louis; † 3. April 1879 in Indien oder im 19. Jahrhundert in Cincinnati[1]) war ein US-amerikanischer Kunstreiter, der jahrelang sein wahres Geschlecht geheim hielt und als Frau auftrat.

Karriere

Kingsley schloss sich in jungen Jahren[2] dem Unternehmer Spencer Q. Stokes an, der in Philadelphia einen Zirkus besaß. Über seine Herkunft wurden verschiedene Gerüchte in Umlauf gesetzt, unter anderem wurde die Version lanciert, er sei ein Zigeunerkind und der einzige Überlebende nach einem Schiffsuntergang vor Mexiko gewesen. Eine andere Version lautete, er sei ein Indianermädchen und habe seine Reitkünste bei den Apachen erworben, wieder eine andere ließ ihn als uneheliche Tochter eines reichen Türken in Mexiko landen, wo er als Sklavin verkauft worden sein sollte.

Stokes bildete ihn zum Kunstreiter aus und ließ ihn unter dem Künstlernamen Ella Zoyora oder Zoyara, oft auch nur als „Miss Ella“, auftreten; das wahre Geschlecht Kingsleys wurde verschwiegen. Kingsley begleitete Stokes nach Europa – seinen ersten Auftritt in Berlin hatte er 1854 – und auch nach Moskau. Mehrere Konkurrentinnen wie Kätchen Renz, Louise Loisset und Irma Monfroid traten in Wettstreit mit „Miss Ella“, deren Sprungserien durch Ballons oder papierbespannte Reifen aber nicht zu schlagen waren.

Rezeption

Mit „Miss Ella“ wurde zeitweise ein regelrechter Kult getrieben: „Wer hat nicht von jenem „Miss“ Ella-Rummel gehört, deren klangvoller Name Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Europa durchbrauste, von dem Tamtam jener geheimnisvollen Ella Zoraya, die plötzlich als blutjunge, doch furiose Reiterin vor dem Publikum stand, die [...] geradezu einen Taumel der Begeisterung entfachte. Könige und Arbeiter huldigten ihr“, war 1910 in Das Artistentum und seine Geschichte zu lesen,[3] und Stephanie Haerdle berichtet: „Es entsteht eine regelrechte Miß-Ella-Mode. Miß Ellas Frisur wird imitiert, ihre Art die Locken zu legen übernommen. Man trägt die Taille mit einem Posamenten-Besatz verziert als »Ella Taille«, kauft »Ella-Kämme«, »Ella-Fächer«, »Ella-Taschen« und »Ella-Bijouterieschmuck«.“[4]

Es gab aber auch kritischere Stimmen: „Seit Barnum hat der Humbug unendliche Fortschritte gemacht. Man kann ihn jetzt schon in Rubriken theilen und seine einzelnen Abarten unterscheiden“, schrieb der Autor der Theater-Plaudereien, Band 1, im Jahr 1860 gallenbitter und führte dann unter der Kategorie „Kunst-Humbug“, direkt nach Kätchen Renz, die eine Entführung inszeniert habe, um auf sich aufmerksam zu machen, auch deren Konkurrenz auf: „Mr. Olmer Stokes, der als Miß Ella alle Welt entzückte, und dann plötzlich ein starkknochiger Junge geworden ist“.[5]

In der Regel wurden die Auftritte Kingsleys aber offenbar enthusiastisch gefeiert: Mehrfach verliebten sich einflussreiche Persönlichkeiten in die vermeintliche junge Frau; aus Moskau mussten Kingsley und Stokes überstürzt abreisen, weil ein abgewiesener Liebhaber mit Mord drohte. Angeblich gehörte auch Vittorio Emanuele zu den Verehrern der falschen „Miss Ella“. Er überließ Kingsley einen prachtvollen Hengst für seine Vorführungen. Dieses Pferd verkaufte Kingsley später in Spanien weiter, als er sich in Geldnot befand.[6]

Aufdeckung

Zu Beginn der 1860er Jahre traten aufgrund der sich abzeichnenden männlichen Merkmale erste Zweifel auf, ob Zoyara überhaupt eine Frau sei. Im April 1860, anlässlich der Auftritte an einem Broadway-Theater namens „Niblo’s Garden“ (das Theater bestand von 1823 bis 1895), erschien sein wahrer Name zusammen mit seinem weiblichen Künstlernamen auf den Plakaten. Als er sechs Monate später mit einer Zirkusmitarbeiterin namens Sally Stickney durchbrannte, verschwand auch Zoyara aus den Ankündigungen. Dies nährte die Zweifel. Nach seiner Hochzeit mit Stickney trat er dann – nunmehr getrennt von Stokes – abwechselnd in Frauen- und Männerkleidung auf und schlug aus den Gerüchten um sein wahres Geschlecht, wie auch der Anziehungskraft, die diese Frage mit sich brachte, noch ein oder zwei Jahre lang Kapital.[7][8][9]

Er bereiste auch Australien und Asien.

Laut manchen Presseberichten starb Kingsley 1879 in Ostindien an den Pocken, anderen Berichten zufolge lebte er aber noch vier Jahre länger und starb in Cincinnati.

Kingsley in der Kunst

Der Bildhauer Anton Lußmann schuf im Jahr 1886 eine Büste Kingsleys, die auf der Plinthe den Titel „Miss Ella“ trägt. Das in Bronze gegossene Kunstwerk zeigt Kingsley mit einer Jockeymütze und Lockenfrisur. Am Ausschnitt seines – mutmaßlichen – Kleides trägt er Nachbildungen eines Hufeisens und einer Reitgerte.[10]

Der Künstlername „Miß Ella“ war Vorbild für die „Ella-Polka“ (op. 160, 1855) von Johann Strauss (Sohn).

Ella-Zoyara-Klone

Shauna Vey legt in ihrem Aufsatz The Master and the Mademoiselle dar, dass die Idee der Ella Zoyara in den USA mehrfach kopiert wurde. Neben Omar Kingsley, der von Stokes gemanagt wurde und die Ur-Zoyara gewesen sei, gab es ihren Ausführungen nach noch mindestens vier weitere Darsteller – meist, aber nicht immer, männlichen Geschlechts – dieser Figur. Im Einzelnen, so führt Vey aus, seien diesen Ella Zoyaras unterschiedliche Biographien zugeschrieben worden, immer aber sei ihr Auftreten „problematized around gender“[11] gewesen, habe also mit der Geschlechterrolle zu tun gehabt. Um Kingsleys wahres Geschlecht hätten sich längere Zeit Gerüchte gehalten, ehe der Manager am 28. Januar 1860 den Spekulationen selbst ein Ende gesetzt habe. Die Besonderheit Kingsleys gegenüber anderen männlichen Frauendarstellern sei gewesen, dass er eine atypisch „starke“ Frau verkörpert habe.[12] Einigermaßen abweichend von den Reaktionen der europäischen Rezipienten kommt Vey für das amerikanische Publikum zu dem Schluss: „Zoyara transgressed the limits of audience expectations by violating the perceived conventions of both genre and feminity [...] So, although Zoyara's performances sold tickets, Kingsley and his imitators were never accorded the adulation of the - primarily male - press. Master Eugene [ein Frauendarsteller, der „typisch weiblich“ agiert haben soll] remained the master.“[13]

Geschlechterwechsel im Zirkus und seine Rezeption

Kingsley war also nicht der einzige Zirkusartist, der unter falschem Geschlecht auftrat, wurde aber dadurch offenbar so bekannt, dass im ADB-Artikel über Emile Mario Vacano der Begriff „Miss Ella“-thum für dessen Auftritte als Kunstreiterin verwendet wurde.[14]

Ein Zeitgenosse Kingsleys war „Mademoiselle Lulu“, eine eigentlich männliche Trapezkünstlerin aus der Farini-Truppe.[15] Und die Schlangentänzerin Voodoo wurde eines Tages, wie in der Zeitschrift Der Artist zu lesen war, in ihrer „Eigenschaft als Masculinum zum Militär, Infanterie, ausgehoben“.[16][17] Dass solche Geschlechterwechsel zu Kingsleys Zeiten durchaus an der Tagesordnung waren, weist auch Jennifer Forrest in ihrem Aufsatz Cocteau au cirque nach und beschäftigt sich mit den Nachwirkungen dieser Erscheinung in Kunst und Literatur. Dem Zirkus des 19. Jahrhunderts bescheinigt sie eine „playful tradition“ und weit verbreitetes „toying with race and gender“, wobei sie auch Kingsleys Auftritte als „Miss Ella“ als Beispiele anführt.[18][19]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Es gibt unterschiedliche Angaben über Kingsleys Lebensdaten; die Angabe zur Geburt 1840 in St. Louis und zum Pockentod in Indien ist etwa im Morning Bulletin aus Rockhampton vom 14. August 1879 zu finden (Digitalisat). Haerdle dagegen berichtet, die Vossische Zeitung habe diese Version zwar ebenfalls übernommen, aber vier Jahre später noch einmal einen Nachruf auf Kingsley gebracht, der nach einem erfüllten Artistenleben in Cincinnati gestorben sein sollte.
  2. Laut Magnus Hirschfeld war er zu diesem Zeitpunkt erst acht Jahre alt: Magnus Hirschfeld: Transvestites: The Erotic Drive to Cross Dress. Prometheus Books, 1991, ISBN 978-0-87975-665-9, S. 344. Andere Quellen berichten gar, dass er sein Elternhaus bereits als Sechsjähriger verlassen habe.
  3. Das Artistentum und seine Geschichte. International-Artistischer Literatur Verlag, Willy Backhaus, 1910, S. 61.
  4. Stephanie Haerdle, Keine Angst haben, das ist unser Beruf! Kunstreiterinnen, Dompteusen und andere Zirkusartistinnen, Berlin 2007, ISBN 978-3-932338-29-8, S. 39
  5. Theater-Plaudereien: Die Coulissenwelt ohne Lampenlicht. Reinhold Schlingmann, 1860, S. 24 f..
  6. Das Pferd gehörte 1861 zu den Gegenständen einer Gerichtsverhandlung, der ein Streit zwischen James R. McDonald, Spencer Q. Stokes und anderen zugrunde lag. Eine Beschreibung des Tieres findet sich in dem Bericht The King of Sardinia - Appearances are Sometimes Deceitful in der New York Times vom 30. November 1861 (Digitalisat). Vgl. auch die Wiedergabe eines Berichtes in der Kreuzzeitung in Carl Eduard Rainold: Erinnerungen an merkwürdige Gegenstände und Begebenheiten, verbunden mit erheiternden Erzählungen. Hrsg. von K. E. Rainold. Haase, 1862, S. 62 f..
  7. Gregory Barz, William Cheng: Queering the Field: Sounding Out Ethnomusicology, Oxford University Press 2019 in der Google-Buchsuche
  8. Laut www.familycentral.net ging aus dieser Verbindung eine Tochter hervor. Die Lebensdaten Kingsleys, die hier angegeben werden, weichen von denen anderer Quellen zum Teil etwas ab.
  9. Auf www.picturehistory.com (Memento vom 23. November 2015 im Internet Archive) findet sich eine Fotografie aus der Zeit um 1863, die Kingsley in Männerkleidung zeigt.
  10. Beschreibung der Büste auf lot-tissimo.com
  11. Shauna Vey, The Master and the Mademoiselle. Gender Secrets in Plain Sight in Non-Text Based Antebellum Performance, in: Scott Magelssen, Ann Haugo: Querying Difference in Theatre History. Cambridge Scholars Publishing, 2. Oktober 2009, ISBN 978-1-4438-1499-7, S. 53–60., hier S. 53
  12. Shauna Vey, The Master and the Mademoiselle. Gender Secrets in Plain Sight in Non-Text Based Antebellum Performance, in: Scott Magelssen, Ann Haugo: Querying Difference in Theatre History. Cambridge Scholars Publishing, 2. Oktober 2009, ISBN 978-1-4438-1499-7, S. 53–60., hier S. 59
  13. Shauna Vey, The Master and the Mademoiselle. Gender Secrets in Plain Sight in Non-Text Based Antebellum Performance, in: Scott Magelssen, Ann Haugo: Querying Difference in Theatre History. Cambridge Scholars Publishing, 2. Oktober 2009, ISBN 978-1-4438-1499-7, S. 53–60., hier S. 60
  14. Ludwig Julius Fränkel: Vacano, Emil(e). In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 39, Duncker & Humblot, Leipzig 1895, S. 451–454.
  15. Gillian M. Rodger: Champagne Charlie and Pretty Jemima: Variety Theater in the Nineteenth Century. University of Illinois Press, 2010, ISBN 978-0-252-07734-0, S. 44 f..
  16. Zitiert nach: Stephanie Haerdle, Keine Angst haben, das ist unser Beruf! Kunstreiterinnen, Dompteusen und andere Zirkusartistinnen, Berlin 2007, ISBN 978-3-932338-29-8, S. 41
  17. Vgl. zum Thema Crossdressing im Zirkus auch Peta Tait: Circus Bodies: Cultural Identity in Aerial Performance. Routledge, 16. November 2005, ISBN 978-1-134-33121-5, S. 68 f..
  18. Jennifer Forrest, Cocteau au cirque. The Poetics of Parade and "Le Numéro Barbette", in: Studies in 20th Century Literature 27, 1, 2003, S. 9 ff., hier S. 27. (Digitalisat)
  19. Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass in Theodor Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen, der in den 1870er Jahren in Berlin spielt, eine Zirkusartistin namens Ella erwähnt wird, deren Bravourstück es ist, durch den Reifen zu springen, wie ja auch Kingsley sich durch seine Seriensprünge durch Reifen und Ballons hervortat. Einer der Offiziere im Kasino reagiert auf die Nachricht, diese Ella werde heiraten, mit Bedauern: „Sie kann dann nicht mehr durch den Reifen springen.“ Doch sein Gesprächspartner hält die Befürchtung einer Schwangerschaft für überflüssig – allerdings nicht, weil er annimmt, Ella sei eigentlich ein Mann. Er unterstellt vielmehr den Zirkusartisten grundsätzlich eine besondere Beziehung zum Geschlechtlichen: „Alle diese Zirkusleute sind heimliche Gichtelianer [...]“ Katharina Grätz hat diese Szene untersucht, freilich ohne auf die Wahl des Namens „Ella“ einzugehen. Vgl. Katharina Grätz, „Four o clock tea“ – „pour la canaille“ – „error in calculo“. Polyphonie und Polyglossie in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen, in: Komparatistik Online 2014.2, S. 1–24, hier S. 10 (Download als PDF auf www.komparatistik-online.de).