Otto von Gierke

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Otto von Gierke

Otto Friedrich Gierke, ab 1911 von Gierke (* 11. Januar 1841 in Stettin; † 10. Oktober 1921 in Berlin), war ein deutscher Rechtshistoriker.

Familie

Geboren wurde Otto Gierke als ältestes von fünf Geschwistern.[1] Seine Eltern – Julius, Appellationsgerichtsrat in Bromberg und Therese Gierke geb. Zitelmann – starben 1855 an Cholera. Die verwaisten Kinder wurden von Stettiner Verwandten aufgenommen.

Gierke heiratete 1873 Marie Cäcilie Elise Löning, Tochter des Verlegers Karl Friedrich Loening. Die älteste Tochter Anna von Gierke gilt als Mitbegründerin der modernen Sozialpädagogik. Der Sohn Edgar von Gierke war Pathologe. Der Sohn Julius von Gierke folgte dem Vater als Rechtshistoriker. Die Tochter Hildegard von Gierke engagierte sich ebenfalls in der Sozialpädagogik.

1911 wurde Gierke von Wilhelm II. nobilitiert.

Leben

Otto Gierke studierte ab 1857 Rechtswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Mit einer Doktorarbeit bei dem bedeutenden Rechtshistoriker Carl Gustav Homeyer promovierte er 1860 zum Dr. iur. Seit 1865 Gerichtsassessor, habilitierte er sich 1867 in Berlin mit einer Schrift zum Genossenschaftsgesetz, die später den ersten Band seines Deutschen Genossenschaftsrechts bilden sollte.

Nachdem er einen Ruf der Universität Zürich abgelehnt hatte, wurde er 1871 zunächst außerordentlicher Professor in Berlin. Noch im selben Jahr folgte er dem Ruf der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau. Für das akademische Jahr 1882/83 wurde er zu ihrem Rektor gewählt. In seiner Rektoratsrede am 15. Oktober 1882 befasste er sich mit Naturrecht und Deutschem Recht.[2]

1884 wechselte er an einen Lehrstuhl nach Heidelberg und kam schließlich 1887 an die Berliner Universität zurück. 1902/03 war er auch dort Rektor. Im Oktober 1902 sprach er über das Wesen der menschlichen Verbände. Bei einer Gedächtnisfeier für Friedrich Wilhelm III. (Preußen) im August 1903 setzte er sich mit der Historischen Rechtsschule und den Germanisten auseinander.[3]

Gierke war Mitglied der 1896 erstmals zusammentretenden Gründungskommission des Deutschen Rechtswörterbuchs (DRW). Seit 1903 war er korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1912 wurde er als korrespondierendes Mitglied in die Russische Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg[4] und 1913 in die British Academy[5] aufgenommen. Er war Mitglied der Burschenschaft Allemannia Heidelberg.

Ehrengrab von Otto von Gierke in Berlin-Westend

Otto von Gierke starb 1921 im Alter von achtzig Jahren in Berlin. Beigesetzt wurde er auf dem Friedhof der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Charlottenburg-Westend, wo später auch seine Frau Lili und seine Töchter Anna und Hildegard ihre letzte Ruhestätte finden sollten.[6] Auf Beschluss des Berliner Senats sind die Gräber von Otto von Gierke (Nr. AW-3-1c) und von Anna von Gierke (Nr. AW-3-1a) seit 1965 als Ehrengräber des Landes Berlin gewidmet. Die Widmungen wurden zuletzt im Jahr 2016 um die übliche Frist von zwanzig Jahren verlängert.[7]

Wissenschaft

Genossenschaftsrecht

Gierke entwickelte durch historische Analyse eine Konzeption des Genossenschaftsrechts, die bei seinem Lehrer Georg Beseler ihren Ursprung fand. Er schloss sich, wie Beseler, der germanistischen Ausprägung der Historischen Rechtsschule an. Wegen seiner entscheidenden Beiträge zum Genossenschaftsrecht gilt er als „Vater des Genossenschaftsrechts“.

Er unterschied den genossenschaftlichen Verband (Sippe, Familienbund, im Mittelalter dann Körperschaften) von dem herrschaftlichen Verband (Lehensverbänden, später Anstalten, heute Anstalten öffentlichen Rechts, den Staat); die Genossenschaft bezeichne eine auf freier Vereinigung beruhende Körperschaft. Soziologen wie Franz Oppenheimer bezeichneten demzufolge die Genossenschaft als horizontale Sozialbeziehung.

Durch das römische Recht, in dem das Individuum und seine Freiheit im Vordergrund steht, konnte nach der Zeit des Absolutismus die genossenschaftliche soziale Struktur des deutschen Rechts gebrochen werden. Gierke wurde, indem er den Menschen vornehmlich als soziales Wesen verstand (vgl. Aristoteleszóon politikón), zu einem frühen Kritiker des Individualismus.

Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit

Auf Gierke geht die sog. Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit zurück, nach der zivilrechtliche Gesellschaften als eigenständige Rechtssubjekte im Rechtsverkehr auftreten. Damit setzte sich Gierke in Widerspruch zum römisch-rechtlichen Verständnis der societas als einem reinen Vertragsverhältnis, dessen Rechtssubjektivität lediglich fingiert wird, und legte den Grundstein für die weitere Entwicklung des Gesellschaftsrechts und insbesondere der Gesamthandslehre (§§ 705 ff. BGB).

In anderer Hinsicht klingt Gierkes Ansatz noch heute im BGB nach. § 26 I 2 Hs. 2 BGB spricht davon, der Vereinsvorstand habe die „Stellung eines gesetzlichen Vertreters“. Der Gesetzgeber wollte dadurch eine Entscheidung vermeiden zwischen der aus Gierkes Verständnis heraus zwingenden Einsicht, dass Gesellschaften selbst durch Organe handeln (Organtheorie), und der auf das römisch-rechtliche Verständnis insbesondere v. Savignys aufbauenden Ansicht, dass dem Gesellschafterverband lediglich das Handeln der Gesellschafter zugerechnet werde (Vertretertheorie).

Wirken

Gierke hat die deutschen Rechtswissenschaften durch seine Forschungen geprägt. Gierke gilt als bedeutender Verfechter des deutsch-rechtlichen Eigentumsbegriffs (gegenüber dem römisch-rechtlichen), womit er vor allem die Geschichte des Genossenschaftsrechtes erschloss. Dieser Blick auf das Recht findet sich noch im Grundgesetz („Eigentum verpflichtet“).

Der Begriff des Sozialrechts geht auf Gierke zurück. Er meinte damit allerdings – im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch – weder das Sozialversicherungsrecht noch das Sozialhilferecht, sondern das Innenrecht der Verbände/Genossenschaften (vgl. lateinisch socius, der „Bundesgenosse“).[8]

Gierke war Anhänger der organischen Staatstheorie, was auch auf seinen Schüler Hugo Preuß abfärbte.[9]

Sonstiges

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs pries Gierke 1914 den Krieg als „göttliches Gnadengeschenk“ für die deutsche Kultur.[10]

Schriften

  • Das deutsche Genossenschaftsrecht. 4 Bände. Berlin 1868, 1873, 1881, 1913 (unvollendet).
  • Der Humor im deutschen Recht. Berlin 1871 (Digitalisat).
  • Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie. Berlin 1880.
  • Naturrecht und Deutsches Recht. Frankfurt 1883.
  • Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung. Berlin 1887.
  • Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Berlin 1889.
  • Deutsches Privatrecht. 3 Bände. Leipzig 1895. (Digitalisat)
  • Die Steinsche Städteordnung. Berlin 1909.
  • Der germanische Staatsgedanke. Berlin 1919.

Literatur

  • Karl Siegfried BaderGierke, Otto von. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 6, Duncker & Humblot, Berlin 1964, ISBN 3-428-00187-7, S. 374 f. (Digitalisat).
  • Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (= Schriften zur Verfassungsgeschichte. Bd. 1). Duncker & Humblot, Berlin 1961, 2. Auflage 1995.
  • Hans Boldt: Otto von Gierke. In: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Deutsche Historiker. Band VIII, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1982, S. 7–23.
  • Gerhard Dilcher: Die Germanisten und die Historische Rechtsschule. Bürgerliche Wissenschaft zwischen Romantik, Realismus und Rationalisierung (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Bd. 301). Klostermann, Frankfurt am Main 2017, darin zu Gierke: Abschnitt IV und V (S. 301 ff; S. 415 ff).
  • Yasuhiro Endo: Die Bundesstaatslehre Otto von Gierkes. In: Detlef Lehnert (Hrsg.): Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870–1970 (= Historische Demokratieforschung. Bd. 11). Metropol, Berlin 2017, S. 63–75.
  • Andrea Nunweiler: Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit und seine Aktualisierung im „Dritten Reich“. Nomos, Baden-Baden 1996, ISBN 3-7890-4241-2 (zugleich: Dissertation, Universität Hannover, 1993/94), S. 29, 179, 348–357, 410.
  • Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Lang, Frankfurt am Main 2007, darin: Otto von Gierke, S. 613–628.
  • Erik Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 4. Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 1963, ISBN 3-16-627812-5, S. 669–712.

Weblinks

Wikisource: Otto von Gierke – Quellen und Volltexte
Commons: Otto von Gierke – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Zur Familiengenealogie: http://www.von-gierke.com/?page_id=2.
  2. Rektoratsrede Breslau.
  3. Rektoratsreden Berlin.
  4. Ausländische Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften seit 1724. Otto von Gierke. Russische Akademie der Wissenschaften, abgerufen am 19. August 2015 (russisch).
  5. Fellows: Otto von Gierke. British Academy, abgerufen am 15. August 2020.
  6. Hans-Jürgen Mende: Lexikon Berliner Begräbnisstätten. Pharus-Plan, Berlin 2018, ISBN 978-3-86514-206-1, S. 473.
  7. Ehrengrabstätten des Landes Berlin (Stand: November 2018). (PDF, 413 kB) Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, S. 25; abgerufen am 19. März 2019. Anerkennung und weitere Erhaltung von Grabstätten als Ehrengrabstätten des Landes Berlin. (PDF, 205 kB). Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 17/3105 vom 13. Juli 2016, S. 1 und Anlage 2, S. 4; abgerufen am 19. März 2019.
  8. Hans Boldt: Otto von Gierke. In: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Historiker. Band VIII, Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1982, S. 7–23.
  9. Walter Jellinek: Insbesondere: Entstehung und Ausbau der Weimarer Reichsverfassung. In: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hrsg.): Handbuch des Deutschen Staatsrechts. Band I. Tübingen 1930, S. 128.
  10. Erster geistiger Waffenplatz Deutschlands. In: Der Tagesspiegel, 4. Juni 2014, S. 21.