Paul Schiemann

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Paul Schiemann (1876–1944), Karikatur aus der Rigaschen Rundschau 1932 von Michael Perts[1]

Carl Christian Theodor Paul Schiemann (lettisch Pauls Šīmanis; * 17. Märzjul. / 29. März 1876greg. in Mitau; † 23. Juni 1944 in Riga) war ein deutschbaltischer Politiker und Publizist.

Jugendjahre

Paul Schiemann wurde als Sohn des Juristen Julius Schiemann und Neffe Theodor Schiemanns 1876 in einer deutschbaltischen Familie geboren. Nach dem Schulbesuch in Deutschland nahm er das Studium an der Universität Dorpat auf, setzte dieses aber nach der Russifizierung des akademischen Lebens in Deutschland fort. Nach dem Abschluss seiner Rechtsstudien und Promotion 1902 in Greifswald kehrte er ins Baltikum zurück, um in Reval Theaterkritiker zu werden, bevor sich 1907 die Chance bot, als Kritiker bei der Rigaschen Rundschau zu arbeiten. Dort stieg er schnell auf Grund seines Talents auf, das er dazu nutzte, sich gegen die konservativen Stände (v. a. die Ritterschaften) zu wenden. So war seine Hoffnung bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dass keine Macht triumphieren möge. Nur in der Demokratisierung sah er eine Option für die Zukunft. Allerdings warnte er – wegen der Vorgänge in Russland – 1917 vor einer proletarischen Revolution, die nur zu Anarchie führen würde. Zur selben Zeit schloss er sich der Deutschbaltischen Demokratischen Partei an.

Minderheitenpolitiker

Gegen Ende des Kriegs befand sich Schiemann in Berlin, wo er die Bekanntschaft mit einer Reihe von Persönlichkeiten des liberalen Bürgertums wie Max Weber, Friedrich Naumann, Theodor Heuss oder Hans Delbrück machte. Seinen Aufenthalt nutzte er dazu, sich bei der deutschen Regierung für die Unterstützung der Demokratie in Lettland und Estland einzusetzen. Wieder in Lettland beteiligte er sich am Nationalkomitee unter Kārlis Ulmanis, was letztlich seinen Eintritt in die nationale Politik bedeutete. Neben seiner Tätigkeit bei der Rigaschen Rundschau, als deren Chefredakteur er von 1919 bis 1933 fungierte, engagierte er sich nun immer stärker im politischen Deutschbaltentum.[2][3] So stand er einer Liste vor, mit der die deutschbaltischen Parteien gemeinsam zu Wahlen antraten. Schiemann war Mitbegründer und Präsidiumsmitglied des Verbandes der deutschen Minderheiten in Europa und ab 1925 Vize-Präsident des Europäischen Nationalitätenkongresses (ENK). 1923 initiierte Schiemann eine – letztlich erfolglose – Volksabstimmung gegen die Übertragung der lutherischen Kirche St. Jakob in Riga an die katholische Kirche.[4]

Trotz seiner Kritik am Kommunismus, lehnte er sich in der Frage der Nationalitätenpolitik an den Ideen österreichischer Marxisten wie Karl Renner und Otto Bauer an. Zugleich fand er in diesem Bereich ein Betätigungsfeld, das für ihn in den folgenden Jahren zur Passion werden sollte. Die Nachkriegszeit warf eine Reihe von Problemen auf, von denen das Zusammenleben der Nationen in den neu geschaffenen Staaten eines war. Darin sah auch Schiemann eine Gefährdung für die Zukunft und entwickelte daraus seine Theorie der „anationalen Staaten“. Er forderte die Überwindung der Nationalstaaten und die Etablierung von Nationalitätenstaaten, eben jenen „anationalen Staaten“. Diese Idee stellte er auf dem Europäischen Nationalitätenkongress vor. Angeregt durch die Verträge von Locarno und die Friedenspolitik Stresemanns sah Schiemann eine Möglichkeit, Interessen der Minderheiten durchzusetzen. Doch währte diese Zuversicht nicht lange, nachdem sich in Europa immer mehr autoritäre Systeme durchsetzten. Bereits 1924 hatte Schiemann vor einem Sieg der völkischen Bewegung in Deutschland gewarnt, der das Ende des Deutschtums im Baltikum bedeuten würde; eine Voraussage, die nach Hitlers Machtergreifung eintrat. Schiemann widersetzte sich als Chefredakteur der Rigaschen Rundschau Anfang 1933 dem Druck des auf die Linie der Nationalsozialisten eingeschwenkten Reichstreuhänders der Aktienmehrheit an der Rigaschen Rundschau, den nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler eingetretenen neuen Verhältnissen „in größtem Umfang“ Rechnung zu tragen, und erklärte, es wäre untragbar, wenn die Rigasche Rundschau plötzlich nationalsozialistische Ideen aufnehmen wollte. Im März 1933 erkrankte Schiemann und begab sich nach Wien, wo sich der Hauptsitz des ENK befand; er legte am 30. Juni 1933 sein Amt als Chefredakteur nieder. Seine Krankheit war das Vehikel, seine Entlassung nach mehr als 25 Jahren Tätigkeit für die Rigasche Rundschau zu bemänteln.[5] Im September 1935 trat er aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt als Vize-Präsident des Europäischen Nationalitätenkongresses zurück.[6]

Lebensabend

Am 29. März 1936 dankten die Mitarbeiter der Rigaschen Rundschau auf der Titelseite der Zeitung ihrem ehemaligen Chefredakteur für seine Verdienste verbunden mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 60. Geburtstag.[7] Gezeichnet von Krankheit vermied er eine direkte Konfrontation mit den Nationalsozialisten, und entkam 1938 nach dem „Anschluss“ und dem deutschen Einmarsch in Österreich nach Lettland, „quasi in ein Exil in der Heimat“.[8] Als ab Dezember 1939 auf Grundlage des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 die im vertraulichen Protokoll vom 28. September 1939 zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vereinbarte "Übersiedlung"[9] der deutschen Volksgruppe im Baltikum begann, weigerte er sich, seine Heimat zu verlassen. Während der deutschen Besatzung zeigte er Zivilcourage und versteckte eine Jüdin, die spätere Filmsoziologin Valentīna Freimane.[10][11] Der Minderheitenpolitiker starb 1944 kurz vor dem erneuten Einmarsch der Roten Armee in Riga.

Ehrungen

Zum 50. Todestag im Jahr 1994 wurden in Riga in Würdigung seiner Verdienste als Abgeordneter in allen vier Parlamenten und Gegner des Totalitarismus jeder Art an seiner ehemaligen Wirkungsstätte, dem Haus der Rigaschen Rundschau, am Herderplatz (Herdera laukums) gegenüber dem Eingang zum Dom zwei Gedenktafeln in Lettisch und Deutsch angebracht. 2000 ehrte ihn die Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel Gerechter unter den Völkern.[12][13]

Literatur

  • Valentīna Freimane: Kapitel Paul Schiemann in: Adieu, Atlantis, Wallstein, Göttingen 2015, S. 301–319.
  • Michael GarleffSchiemann, Carl Christian Theodor Paul. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 22, Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 3-428-11203-2, S. 743 f. (Digitalisat).
  • Michael Garleff: Zur Rezeptionsgeschichte Paul Schiemanns in Deutsch-Baltisches Jahrbuch, Band 62 (2014), herausgegeben von der Carl-Schirren-Gesellschaft, Lüneburg 2014, ISBN 978-3-923149-75-9.
  • Carola L. Gottzmann / Petra Hörner: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. 3 Bände; Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11019338-1, Band 3, S. 1129–1132.
  • John Hiden: Defender of minorities. Paul Schiemann 1876–1944. Verlag Hurst, London 2004, ISBN 1-85065-751-3 (Rezensionen auf history.ac.uk und in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas).
  • Paul Schiemann: Die Kulturautonomie als Lösung des Minderheitenproblems. In: Halbmonatsschrift des Arbeitsausschusses deutscher Verbände. Zeitschrift für Außenpolitik, Band 6 (1926), S. 120–124. Nachdruck in Deutsch-Baltisches Jahrbuch, Band 62 (2014), herausgegeben von der Carl-Schirren-Gesellschaft, Lüneburg 2014, ISBN 978-3-923149-75-9.
  • Bastiaan Schot: Exil in der Diaspora. Paul Schiemann und die Nationalitätenfrage der Zwischenkriegszeit. In: Sjaak Onderdelinden (Hrsg.): Interbellum und Exil. Rodopi, Amsterdam 1991, ISBN 90-5183-232-X, S. 55–71.
  • Helēna Šimkuva (Hrsg.): Paul Schiemann, Veröffentlichungen 1933-1940. (Hrsg. anlässlich einer Paul Schiemann gewidmeten internationalen Konferenz am 26. September 2000 in Riga.) Verlag Loeber, Hamburg 2000, ISBN 3-9805082-1-8.
  • Wolfgang Wachtsmuth: Von deutscher Arbeit in Lettland 1918-1934. Ein Tätigkeitsbericht. Materialien zur Geschichte des baltischen Deutschtums. 3 Bände; Verlag Comel, Köln 1953, Band 3, S. 427–430.
  • Fritz Wertheimer: Von deutschen Parteien und Parteiführern im Ausland. 2. Auflage. Zentral-Verlag, Berlin 1930, S. 73.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rigasche Rundschau vom 8. August 1932, Seite 2
  2. Helga Wermuth: Max Winkler – Ein Gehilfe staatlicher Pressepolitik in der Weimarer Republik. Dissertation. München 1975. S. 95.
  3. Schiemann, Carl Christian Theodor Paul Deutsche Biografie online, abgerufen am 28. Oktober 2017
  4. John Hiden: Defender of minorities. Paul Schiemann, 1876–1944. Hurst, London 2004, ISBN 1-85065-751-3, S. 92.
  5. Helmut Kause: Der publizistische Widerstand Paul Schiemanns gegen den Nationalsozialismus in den deutschen Volksgruppen. In: Michael Garleff (Hrsg.): Deutsch-Balten, Weimarer Republik und Drittes Reich. Band 1. Böhlau Verlag, Köln Weimar und Wien 2008, ISBN 978-3-412-12199-0, S. 204, 205, 206.
  6. Dan Diner: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur: Band 2: Co – Ha. Springer-Verlag, 2016. S. 288–289.
  7. Rigasche Rundschau: Paul Schiemanns Porträt zum 60. Geburtstag.
  8. Helmut Kause: Der publizistische Widerstand Paul Schiemanns gegen den Nationalsozialismus in den deutschen Volksgruppen. In: Michael Garleff (Hrsg.): Deutsch-Balten, Weimarer Republik und Drittes Reich. Band 1. Böhlau Verlag, Köln, Weimar und Wien 2008, ISBN 978-3-412-12199-0, S. 209.
  9. Dietrich A. Loeber: Diktierte Option. Karl Wachholtz Verlag, Neumünster 1972, ISBN 3-529-06142-5, S. 16,46.
  10. John Hiden: Defender of minorities. Paul Schiemann 1876–1944. Hurst, London 2004, ISBN 1-85065-751-3, S. 244f.
  11. Valentīna Freimane: Ardievu, Atlantīda! Atēna, Riga 2010, ISBN 978-9984-34-410-2, S. 343–362
  12. http://www.history.ac.uk/reviews/review/451
  13. Paul Schiemann auf der Website von Yad Vashem (englisch)