Plattformkapitalismus

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Plattformkapitalismus (auch Digitaler Kapitalismus, Plattformökonomie oder Digitale Ökonomie) ist ein sozialwissenschaftlicher Begriff, der einen neuen Typus des Kapitalismus kennzeichnet, in dem Plattform-Unternehmen dominante Wirtschaftsakteure sind. Zu diesen Plattformen werden Google, Facebook, Amazon, Uber oder Airbnb gerechnet.[1] Mit dem Akronym GAFA (auch GAFAM) werden die Tech-Giganten Google, Apple, Facebook, Amazon (und Microsoft) zusammengefasst. Die drei dominierenden chinesischen Plattformen Baidu, Alibaba und Tencent sind entsprechend als BAT bezeichnet worden.[2]

Allgemein

Der Plattformkapitalismus bezeichnet eine neue digitale Wirtschaftsordnung, in der Plattformen als Mittelsmänner („Intermediäre“) Angebot und Nachfrage am Markt zusammenführen. Sie kontrollieren den Zugang zu Gütern und die Prozesse des jeweiligen Geschäftsmodells.

Dem Blogger und Medienberater Sascha Lobo zufolge, der den Begriff des Plattformkapitalismus im deutschsprachigen Raum im Jahr 2014 bekannt gemacht hatte, streben sie nach Macht, um durch Marktbeherrschung „Branchenstandards zu setzen und zu kontrollieren“ und „jede wirtschaftliche Transaktion als Auktion zu inszenieren – auch der Kosten für Arbeit.“[3]

Beim Deutschen Verbrauchertag 2015 wies Harald Welzer in einem Vortrag auf die negativen Folgen des Plattformkapitalismus hin, der soziale Intelligenz und eingeübte soziale Praktiken monetarisiert, selbst aber kaum Arbeitsplätze schafft.[4] Der Begriff fand seinen Weg in das Grundsatzprogramm für die digitale Gesellschaft der SPD im Dezember 2015.[5] Die erste theoretische Beschreibung hatte Nick Srnicek mit Platform Capitalism 2016 vorgelegt.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen betont, dass eine Regulation der sozialen Netzwerke nötig ist, und spricht dabei von einem sogenannten „Plattform-Rat“, der nötig sei; jedoch ohne die Meinungsfreiheit einzuschränken.[6]

Staab

Philipp Staab spricht bei den Plattformen von einer neuen Konzentration ökonomischer Macht und davon, dass diese zu entscheidenden Herrschaftsstrukturen geworden sind.[7] Im Gegensatz zu ihrem gern verbreiteten Eigen-Narrativ vom Garagentüftler sei ihr Aufstieg eng mit der Politik des Staates gegen existierende Informations- und Kommunikationsmonopole, z. B. der Zerschlagung von AT&T, und nach Paul Windolf mit den Finanzquellen des Finanzmarkt-Kapitalismus verknüpft.[8] Nach Staab verwandelt der Plattformkapitalismus den Neoliberalismus in rauchende Trümmer. Für den Neoliberalismus sei der freie neutrale Markt konstitutiv und Kernstück. Die Plattformen hingegen sind proprietäre Märkte, sie sind der Markt selbst.[9] Aus diesem Besitz beziehen sie Renten und ihr Ziel ist nicht maximale Produktion, sondern die Kapitalisierung eigentlich unknapper Güter, sie sind geradezu Instrumente zur künstlichen Verknappung unknapper Güter.[10] In einer ersten Phase bilden die Plattformen lokale Monopole oder besetzen zumindest starke Markpositionen, in einer zweiten Phase betreiben sie die Sicherung und Abschließung ihrer soziotechnischen Ökosysteme. Dazu verwenden sie von Ulrich Dolata beschriebene „Lock-in Strategien“, bei denen „switching necessities“ verringert und „switching costs“ erhöht werden.[11] Mit Cloud Computing, Künstlicher Intelligenz und eigenen Bezahlsystemen binden sie die User an sich.[12] Um sich von den Netzbetreibern unabhängig zu machen, kaufen sie Glasfaserkabel und Unterseekabel.[13] Sie treten jedoch zunehmend in Konkurrenz zueinander, so dass von einer oligopolistischen Marktstruktur gesprochen werden kann.[14] Den Staat betrachtet Staab dabei als großen Verlierer des digitalen Kapitalismus, es gäbe keinen Stamokap 2.0.[15] Den Einwand, dass es sich um „kreative Monopole“ handele, da sie jederzeit durch Disruptive Technologien vom Markt gefegt werden können, lässt Staab nicht gelten, da die „Lock-in-Kosten“ zu hoch sind und gerade dort, wo sich die Wirtschaftstheorie neue Wettbewerber erhofft, in der Start-up-Welt, die Plattformen mit ihrer finanziellen Schlagkraft einwirken.[16]

Kissinger, Schmidt, Huttenlocher

Henry Kissinger, Eric Schmidt und Daniel P. Huttenlocher schreiben in ihrem 2021 erschienenen Buch The Age of AI and our Human Future, dass die KI-gestützten Netzwerk-Plattformen („AI-enabled network platforms“), deren Nutzerbasen die Bevölkerung der meisten Nationen oder sogar von Kontinenten übertreffen, einen gewaltigen Einfluss auf das tägliche Leben, den politischen Diskurs, den Konsum, die Wirtschaftsorganisation und Regierungsmaßnahmen eines Landes haben. Vor allem die KI, von der keiner genau weiß, warum sie diese Nachricht, dieses Produkt oder diese Route vorschlägt, hat einen riesigen sozialen, ökonomischen, politischen und geopolitischen Einfluss. Nutzer vertrauen den Plattformen Informationen an, bei denen sie zögern würden, sie einem Freund oder der Regierung anzuvertrauen. Entwickelt von praktisch denkenden Ingenieuren, sind diese Plattformen plötzlich in der Lage, Regeln, Parameter und Grenzen festlegen zu müssen. Community-Standards würden dadurch so einflussreich wie nationale Gesetze. Die Plattformen sind geopolitisch signifikante Akteure geworden, die die politischen Konflikte zwischen Regierungen und die internationale Diplomatie berühren und einen gewaltigen Einfluss auf eine konkurrierende Gesellschaft oder Ökonomie bieten, indem diese industriell, politisch und kulturell in ihrer Entwicklung beeinflusst werden kann. Plattformen können zu Waffen in Krisen gemacht werden, indem ihr Dienst eingestellt wird. Aus alledem ergibt sich daher, dass dringend neue Formen der Verständigung und Regeln zwischen Regionen, Regierungen und den Betreibern der Plattformen gefunden werden müssen.[17]

Rechtsstatus von Nutzern

Gerichte in verschiedenen Staaten, u. a. das Bundesarbeitsgericht im Jahr 2021,[18] haben Personen, die Aufträge über Plattformen beziehen, als Arbeitnehmer eingestuft. Sie seien damit nicht, wie von den Plattformbetreibern interpretiert, als Selbstständige anzusehen, an die lediglich Aufträge vermittelt würden.[19] Auf nationaler Ebene gibt es vereinzelt Bestrebungen, die Plattformökonomie in Bezug auf das Arbeitsrecht zu regulieren.[20]

Siehe auch

Literatur

  • Andrew McAfee, Erik Brynsjolfsson: Machine Platform Crowd – Harnessing our Digital Future. W. W. Norton & Company, New York/ London 2017, ISBN 978-0-393-25429-7.
  • Geoffrey G. Parker, Marshall W. Van Alstyne, Sangeet Paul Choudary: Platform Revolution – How Networked Markets Are Transforming the Economy – And How to Make Them Work for You. W. W. Norton & Company, New York/ London 2016, ISBN 978-0-393-35435-5.
  • Stefan Kirchner, Jürgen Beyer: Die Plattformlogik als digitale Marktordnung: Wie die Digitalisierung Kopplungen von Unternehmen löst und Märkte transformiert. In: Zeitschrift für Soziologie (ISSN 0340-1804). Bd. 45, H. 5 (Okt. 2016), S. 324–339 (PDF).
  • Nick Srnicek: Platform Capitalism. Polity Press, Cambridge, Malden 2016, ISBN 978-1-5095-0487-9.
  • Philipp Staab: Digitaler Kapitalismus: Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-518-07515-9.
  • Oliver Nachtwey, Philipp Staab: Das Produktionsmodell des digitalen Kapitalismus. In: Sabine Maasen, Jan-Hendrik Passoth (Hrsg.): Soziologie des Digitalen – Digitale Soziologie? (Soziale Welt. Sonderband; 23) Nomos Verlagsges., Baden-Baden 2020, ISBN 978-3-8487-5323-9, S. 285–306.
  • Timo Daum: Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie. Edition Nautilus, Hamburg 2017, ISBN 978-3-96054-058-8.
  • Ulrich Dolata, Jan-Felix Schrape: Plattform-Architekturen. Strukturation und Koordination von Plattformunternehmen im Internet in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 74, 2022, doi:10.1007/s11577-022-00826-7 (Open Access).

Einzelnachweise

  1. Thomas Beschorner, Caspar Hirschi: Bastion der Demokratie. In: Zeit online. 24. Februar 2018. (zeit.de)
  2. Philipp Staab und Florian Butollo: Digitaler Kapitalismus - Wie China das Silicon Valley herausfordert. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2018. (library.fes.de)
  3. Sascha Lobo: Auf dem Weg in die Dumpinghölle. In: Spiegel Online. 3. September 2014 (spiegel.de [abgerufen am 10. März 2018]).
  4. Heike Jahrberg: Sharing Economy: Fluch oder Segen? In: Der Tagesspiegel. 29. Juni 2015. (tagesspiegel.de)
  5. #DigitalLeben – SPD Grundsatzprogramm für die digitale Gesellschaft. Beschlossen auf dem Ordentlichen Bundesparteitag in Berlin vom 10.–12. Dezember 2015. (spd.de, abgerufen am 10. März 2018)
  6. Jasper Barenberg: Regulation von sozialen Netzwerken - "Wir brauchen eine Art Plattform-Rat". Deutschlandfunk, abgerufen am 20. Januar 2021 (deutsch, Interview).
  7. Staab: Digitaler Kapitalismus. S. 14 und 20 ff.
  8. Staab: Digitaler Kapitalismus. S. 70 ff.
  9. Staab: Digitaler Kapitalismus. S. 30, 41 und 290 ff.
  10. Staab: Digitaler Kapitalismus. S. 47, 208 und 259.
  11. Staab: Digitaler Kapitalismus. S. 185 f.
  12. Staab: Digitaler Kapitalismus. S. 187 f.
  13. Staab: Digitaler Kapitalismus. 191 f.
  14. Staab: Digitaler Kapitalismus. S. 107.
  15. Staab: Digitaler Kapitalismus. 19 f.
  16. Staab: Digitaler Kapitalismus. 105 f und 200.
  17. Henry Kissinger, Eric Schmidt, Daniel P. Huttenlocher: The Age of AI and our Human Future. London 2021, S. 93 ff.
  18. Katharina Peetz: Besserer Schutz für Crowdworker. deutschlandfunkkultur.de, 19. April 2021, abgerufen am 26. Mai 2022.
  19. Alina Leimbach: Am langen Arm der Plattformen. In ver.di Publik 3/2022, Sonderbeilage S. 4.
  20. Mapping der Plattformökonomie. Friedrich-Ebert-Stiftung, 19. Mai 2022, abgerufen am 26. Mai 2022.