Postmigrantische Gesellschaft

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Die Postmigrantische Gesellschaft (von lateinisch post ‚hinter‘, ‚nach‘) bezeichnet eine Gesellschaftsordnung, die durch die Erfahrung der Migration geprägt ist. Der Begriff verweist auf die politischen, kulturellen und sozialen Veränderungen in der Gesellschaft, die aus dem demografischen Wandel durch Einwanderung hervorgehen. In dieser Perspektive wird die Migration als ein Prozess aufgefasst, der wesentlich zur Gestaltung der Gesellschaft beiträgt.

Im Zuge der gesellschaftlichen Debatte um die Migrations-, Flüchtlings- und Integrationspolitik forderte Naika Foroutan Anfang 2018 „eine eindeutig postmigrantische Perspektive, bei der sich die Bundesregierung nicht mehr nur auf Migranten konzentriert, sondern auch auf jene Gruppen, die schwach sind und sich von Staat und Demokratie entfremden, weil ihnen alle Aufstiegschancen fehlen.“[1]

Nach Foroutan haben postmigrantische Gesellschaften fünf Merkmale:[2]

  1. Die politische Anerkennung, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein.
  2. Soziale, kulturelle, strukturelle und emotionale Aushandlungsprozesse über Rechte, Zugehörigkeit und Teilhabe von Migranten und Nicht-Migranten sowie daraus resultierende Gesetze und Gesetzesänderungen.
  3. Ambivalente Bewertung der Zuwanderung: Befürwortung und Ablehnung.
  4. Verflechtung von Personen und Organisationen mit und ohne Migrationsbezug.
  5. Polarisierung über Fragen der Zugehörigkeit und der nationalen Identität.

Kijan Espahangizi entwickelt diesen Ansatz durch eine geschichtswissenschaftliche Perspektive weiter und geht hierzu der Frage nach, ab wann Gesellschaften als postmigrantisch bezeichnet werden können. Postmigrantische Gesellschaften sind für Espahangizi nicht einfach alle Gesellschaften, die durch Migrationserfahrungen geprägt sind, sondern nur solche, in denen das Streiten um Migration und Integration zu einem "zentralen Modus der Vergesellschaftung" aufgestiegen ist.[3] Damit rückt auch die Geschichte neuer Migrations- und Integrationsdiskurse bzw. gesellschaftlicher "Migration-Integration-Komplexe" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker in den Blick.[4]

Begriff

Die Bezeichnung postmigrantisch wurde in Deutschland durch die Berliner Theater-Intendantin Şermin Langhoff bekannt, indem sie ihrem Theater Ballhaus Naunynstraße den Namen „Postmigrantisches Theater“ gab.[5][6] Langhoff ging es um die Geschichten und Perspektiven derer, „die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen“.[5]

Im deutschsprachigen Raum hat sich der Begriff seither in öffentlichen Debatten als „Einspruch gegen die hegemoniale Migrations- und Integrationsdebatte“ etabliert und er wird in jüngster Zeit auch in der Migrationsforschung diskutiert.[7][8] Das Präfix » post « macht deutlich, dass man eine gesellschaftlich etablierte und zunehmend defizitär konstruierte Unterscheidungskategorie – nämlich das Migrantische – zur Erklärung von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen hinter sich lassen will.[9]

Der Begriff des Postmigrantischen wurde u. a. auch in der Schweiz aufgenommen und weiterentwickelt. Das Postmigrantische wird hier "weniger als ein in sich geschlossener Erklärungsansatz" verstanden, sondern "als ein Tisch, an dem verschiedene Ansätze zusammenkommen" können, etwa auch postkoloniale Perspektiven.[10]

Siehe auch

Portal: Migration und Integration – Artikel, Kategorien und mehr zu Migration und Flucht, Interkulturellem Dialog und Integration

Literatur

  • Archiv der Jugendkulturen (Hg.): KanakCultures: Kultur und Kreativität junger MigrantInnen. Archiv der Jugendkulturen Verlag, 2010
  • Kijan Espahangizi: Das #Postmigrantische ist kein Kind der Akademie. In: Geschichte der Gegenwart, Januar 2016 (online).
  • Naika Foroutan: Postimigrantische Gesellschaft. In: Heinz-Ulrich Brinkmann / Martina Sauer (Hg.): Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Wiesbaden: Springer, 2016, S. 227–254.
  • Naika Foroutan: Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. transcript, Bielefeld 2019, ISBN 978-3-8376-4263-6.
  • Naika Foroutan / Juliane Karakayali / Riem Spielhaus (Hg.): Postmigrantische Perspektiven – Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt am Main: Campus, 2018.
  • Erol Yildiz, Marc Hill: Nach der Migration: Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. transcript, 2014
  • Erol Yildiz, Marc Hill (Hg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. transcript, Bielefeld 2018, ISBN 978-3-8376-3916-2 (Open Access)
  • Katrin Huxel, Juliane Karakayali, Ewa Palenga-Möllenbeck, Marianne Schmidbaur, Kyoko Shinozaki, Tina Spies, Linda Supik, Elisabeth Tuider (Hg.): Postmigrantisch gelesen. Transnationalität, Gender, Care. transcript, Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-4728-0.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. „Deutschland steht unter erheblicher Spannung“. In: Süddeutsche Zeitung. 27. Januar 2018, abgerufen am 27. Januar 2018.
  2. Naika Foroutan: Postmigrantische Gesellschaft. In: Heinz-Ulrich Brinkmann / Martina Sauer (Hrsg.): Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Springer, Wiesbaden 2016, S. 239–247.
  3. Kijan Espahangizi: Ab wann sind Gesellschaften postmigrantisch? In: Naika Foroutan / Juliane Karakayali / Riem Spielhaus (Hrsg.): (Hg.): Postmigrantische Perspektiven – Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Campus, Frankfurt am Main, S. 49.
  4. Kijan Espahangizi: Der Schweizer Migration-Integration-Komplex. Postmigrantische Perspektiven. In: Beat Ringger & Pascal Zwicky (Hrsg.): Reclam Democracy. Die Demokratie stärken und weiterentwickeln. Denknetz / Edition8, Zürich, S. 149–155 (denknetz.ch [PDF]).
  5. a b Shermin Langhoff: Die Herkunft spielt keine Rolle – „Postmigrantisches“ Theater im Ballhaus Naunynstraße. Bundeszentrale für politische Bildung, 10. März 2011, abgerufen am 27. Januar 2018.
  6. Migration: „Das ist das neue Deutschland“. In: berliner-zeitung.de. 12. Dezember 2014, abgerufen am 27. Januar 2018.
  7. Postmigratisches Europa. Postkoloniale Welt (Memento vom 23. Juni 2015 im Internet Archive), ETH Zürich, Universität Zürich.
  8. Kijan Espahangizi: Das #Postmigrantische ist kein Kind der Akademie. In: Geschichte der Gegenwart. Januar 2016.
  9. Naika Foroutan: Postmigrantische Gesellschaften. In: Heinz-Ulrich Brinkmann / Martina Sauer (Hrsg.): Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Springer, Wiesbaden 2016, S. 231.
  10. Kijan Espahangizi: Postmigrantische Perspektiven. In: Neue Wege. Nr. 4, 2019, S. 22.