Rätische Schrift

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Rätische Schrift in einem um 800 wohl in Chur geschriebenen Codex (Augustinus, In Iohannem tractatus). Chur, Staatsarchiv Graubünden A I 2b/Nr. 1
Rätische Schrift in einem Sakramentar des 8./9. Jahrhunderts. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Codex 350, fol. 3r

Die rätische Schrift ist eine frühmittelalterliche Minuskel, die als Regionalschrift in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts in Churrätien verwendet wurde. Sie ähnelt der karolingischen Minuskel.

Die rätische Schrift gehört zu der Schriftengruppe, die als „vorkarolingische Minuskel“ (praecarolina) bezeichnet wird. Sie gilt als Fortentwicklung der oberitalienischen Minuskel. Ab dem späten 8. Jahrhundert wurde sie als Buchschrift verwendet. Schon wenige Jahrzehnte später wurde sie von der karolingischen Minuskel verdrängt. Ihr Verbreitungsgebiet schloss sich südlich an das der alemannischen Minuskel an. Sein Zentrum war das bischöfliche Skriptorium von Chur. Dort wurde die rätische Schrift unter Bischof Remedius von Chur gepflegt. Ein für ihn um 800 geschriebenes Sakramentar[1] gilt als Höhepunkt der rätischen Schriftkunst.[2]

Die Bezeichnung „rätische Schrift“ wurde 1898 von Ludwig Traube eingeführt. Einen großen Beitrag zur Erforschung des rätischen Regionalstils leistete Albert Bruckner, der zwischen einer älteren und einer jüngeren rätischen Schrift unterschied. Diese Unterscheidung wird allerdings von der neueren Forschung nicht akzeptiert, da es sich bei der vermeintlichen älteren Variante um die Schrift einer oberitalienischen Handschriftengruppe handle (so Bernhard Bischoff[3] und Pascal Ladner[4]).

Die rätische Schrift ist gerade aufgerichtet, rund und eher hoch als breit. Sie zeigt eine betonte Brechung. Das Schriftbild ist schlicht. Auffällig ist das t mit geteiltem Deckbalken, der links oft so weit herabgebogen ist, dass er den Schaft berührt und eine Öse bildet. Häufig ist ein a, das aus zwei aufeinanderfolgenden runden c gebildet wird („cc-a“). Ligaturen sind relativ selten, aber häufiger als in der karolingischen Minuskel.[5]

Literatur

  • Ursus Brunold: Neu entdeckte Handschriftenfragmente in rätischer Minuskel. In: Helmut Maurer (Hrsg.): Churrätisches und st. gallisches Mittelalter. Thorbecke, Sigmaringen 1984, ISBN 3-7995-7028-4, S. 7–21
  • Heidi Eisenhut u. a. (Hrsg.): Schrift, Schriftgebrauch und Textsorten im frühmittelalterlichen Churrätien. Schwabe, Basel 2008, ISBN 978-3-7965-2437-0
  • Hans Foerster, Thomas Frenz: Abriss der lateinischen Paläographie. 3., überarbeitete Auflage, Hiersemann, Stuttgart 2004, ISBN 3-7772-0410-2, S. 162 f., 166 f.

Anmerkungen

  1. Sankt Gallen, Stiftsbibliothek, Ms. 348.
  2. Hans Foerster, Thomas Frenz: Abriss der lateinischen Paläographie, 3., überarbeitete Auflage, Stuttgart 2004, S. 162 f.; Bernhard Bischoff: Mittelalterliche Studien, Bd. 3, Stuttgart 1981, S. 22 f.
  3. Bernhard Bischoff: Mittelalterliche Studien, Bd. 3, Stuttgart 1981, S. 22 Anm. 83.
  4. Pascal Ladner: Rätische Schrift. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1995, Sp. 461.
  5. Ursus Brunold: Neu entdeckte Handschriftenfragmente in rätischer Minuskel. In: Helmut Maurer (Hrsg.): Churrätisches und st. gallisches Mittelalter, Sigmaringen 1984, S. 7–21, hier: 7; Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters, 4. Auflage, Berlin 2009, S. 154; Bernhard Bischoff: Mittelalterliche Studien, Bd. 3, Stuttgart 1981, S. 23; Hans Foerster, Thomas Frenz: Abriss der lateinischen Paläographie, 3., überarbeitete Auflage, Stuttgart 2004, S. 162.