Räumliche Orientierung

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Räumliche Orientierung (auch: Raumsinn oder Richtungssinn) ist eine Fähigkeit von Menschen und Tieren, die ihnen hilft, sich im Raum und richtungsbezogen zurechtzufinden und angemessen zu bewegen. Zu diesem Zweck wirken mehrere Sinnesorgane zusammen, vor allem Auge, Ohr, Muskel- und Gleichgewichtssinn.

Auch Pflanzen haben gewisse Eigenschaften zur Orientierung. Beispielsweise wenden sie ihre Blätter der hauptsächlichen Richtung des Lichteinfalls zu, und für den an die Lotrichtung angepassten Wuchs der Sprossachsen und Stämme sorgen u. a. die Leitungsbahnen im Phloem bzw. im holzigen Xylem.

Zu räumlichen Orientierungsverfahren in Technik und Vermessung siehe Orientierung (Geodäsie).

Stadtgrundriss in Form eines Mühlebretts: Freudenstadt

Elemente des Orientierungssinns

Einige Grundfähigkeiten zur räumlichen Orientierung sind angeboren, doch kann der Orientierungssinn durch Übung und Gedächtnistraining wesentlich verbessert werden. Zu den Elementen, die dazu wesentlich beitragen, zählen:

Bei vielen Tierarten kommen weitere Orientierungshilfen hinzu, beispielsweise

Beim Menschen ist der Orientierungssinn je nach Lebensweise und Kulturraum sehr verschieden ausgeprägt und stark von Erfahrung und Übung beeinflusst. Auch Alter und Geschlecht spielen eine Rolle.

Erwerb der räumlichen Orientierung

Die räumliche Orientierung wird vor allem durch Bewegung im Raum erlernt. Während die kleinräumige Orientierung in den ersten Lebensjahren eingeübt wird, folgt in den Jahren bis zur Reife das Erlernen der geographischen Orientierung. Diese ist praktisch nur über körperliche Fortbewegung im Raum zu verinnerlichen. Daher ist die Orientierungsfähigkeit besonders bei Menschen nur rudimentär ausgebildet, die in ihrer Kindheit vorwiegend in Fahrzeugen transportiert wurden bzw. wenig Gelegenheit hatten, sich eigenständig fortzubewegen.[3] Durch die geänderten Lebensumstände des modernen Menschen ist daher die Fähigkeit zu räumlicher Orientierung abnehmend.

Verlust der räumlichen Orientierung durch Navigationssysteme

Tunnelblick oder gar Schlüsselloch-Effekt durch Navigationssysteme

In Folge der heute weit verbreiteten elektronischen Routenplaner und Navigationssysteme haben viele Autofahrer keinen Autoatlas und keine Straßenkarten mehr in ihrem Fahrzeug. Die jüngeren unter ihnen können häufig keine Landkarten mehr lesen (siehe: Kartenverständnis und Kartennutzung). Das hatte bereits bisher einen mitunter dramatischen Verlust der räumlichen Orientierung zur Folge. So sind manche jüngere Leute nicht mehr in der Lage, beispielsweise in ihrem Heimatort ohne elektronische Hilfsmittel einem Ortsunkundigen einen Weg zu beschreiben. Eine Frau kam durch eine falsche Urlaubszieleingabe statt auf Rügen in Duisburg an.[4] Auch Art und Ausgestaltung der Navigationssysteme spielen beim drohenden Verlust der räumlichen Orientierung eine Rolle.[5]

Man spricht von Orientierungs-Analphabeten[6]; ein Kabarettist sagte gar: „Ein Navi im Auto ist der erste Schritt zum betreuten Wohnen.“[7]

Schlüsselloch-Effekt

„Prof. Dirk Burghardt von der TU Dresden spricht von einem ‚Schlüsselloch-Effekt‘ bei den Navi-Nutzern: Auf den kleinen Displays an der Autoscheibe oder im Armaturenbrett sehen sie während der Fahrt lediglich einen kleinen Ausschnitt ihrer Umgebung, sie fahren zwar, aber erfahren nichts mehr über die Gegend, die sie gerade passieren. Und das hat Folgen. Wissenschaftler von der Uni Salzburg schickten zwanzig Autofahrer auf eine zehn Kilometer lange Teststrecke, die eine Hälfte ausgestattet mit einem Navi, die andere mit einer Landkarte. Den Rückweg galt es anschließend ohne Hilfsmittel zu finden. Das Ergebnis: Die Kartennutzer waren schneller zurück und verfuhren sich seltener. Offenbar hatten sie sich während der Hinfahrt aktiv mit ihrer Umgebung auseinandergesetzt, selbstständig Entscheidungen getroffen. So war in ihrem Kopf eine mentale Landkarte entstanden, auf die sie sich später stützen konnten. Ganz anders die Navi-Nutzer. Als passive ‚Befehlsempfänger‘ hatten sie sich vergleichsweise gedankenlos auf die jeweilige Anweisung verlassen, ohne sich unterwegs Abzweigungen oder Weggabelungen einzuprägen. Sie brauchten für die Rückfahrt durchschnittlich zehn Minuten länger, verfuhren sich fast dreimal so oft.“[4]

Raumlage-Orientierung (Nahbereich)

Die Basis des Orientierungsvermögens ist ein enges Zusammenspiel von Sehen, Gleichgewichts- und Muskelsinn, dessen Steuerung v. a. im Stamm- oder Kleinhirn erfolgt. Es äußert sich u. a. in sehr zielgerichteten Reflexen, z. B. bei Sturz oder Stolpern. Würden diese Schutzreflexe nicht über das Rückenmark, sondern das Großhirn erfolgen, wären sie zu langsam. Ist das Zusammenspiel der Sinne gestört, tritt Verwirrung und Desorientierung (Vertigo) auf, die oft Schwindelgefühl oder Übelkeit auslöst.

Im Regelfall ist die eigene Raumlage kaum bewusst, sondern erst bei unüblichen oder widersprüchlichen Sinnesmeldungen (z. B. bei raschen Drehungen oder beim Tanz). Wie vieles hier unbewusst abläuft, ist etwa bei den Augenmuskeln festzustellen. Sie drehen die Augen bei jeder Kopfbewegung „automatisch“ nach, wodurch erst die Umgebung scharf gesehen werden kann.

An ungewöhnliche Raumbewegungen – wie Fliegen oder Tauchen – können sich Gesichts- und Gleichgewichtssinn nicht immer glatt einstellen, so dass es einigen Trainings bedarf, etwa Schulung im Instrumentenflug, Sehübungen oder Taucherschule. Beim Fliegen sind meist Drehbewegungen das Problem, die unbemerkt beginnen, bis ihr Anwachsen Auge und Raumgefühl überrascht. Beim Tauchen ist es u. a. die veränderte Körperlage und Wahrnehmung (Winkel und Distanzen erscheinen im Wasser um etwa 1 Drittel verzerrt), und in anderen ungewohnten Situationen z. B. Angst, Dunkelheit, veränderte Luft oder Kälte.

Großräumliche Orientierung

Im Gegensatz zur Raumlage-Orientierung, die größerenteils unbewusst geregelt ist, ist die Orientierung nach Landschafts- oder Himmelsrichtungen, im Straßenverkehr, unbekannten Gebäuden u. ä. stärker durch Denken, Vorstellungen und Erfahrung geprägt. Bei der natürlichen Fortbewegung (Fußgängernavigation) und beim langsamen Fahren kann man sich z. B. den zurückgelegten Weg durch Richtung und Entfernung einprägen, nach leitenden Linienstrukturen suchen (Wege, Grenzen, Gewässer, Böschungen, Gebäude …) oder sich an ihnen durch markante Punkte (Wegmarken, Wegweiser, visuelle Reize, Geräusche, Gerüche usw.) leiten lassen.

Geschlechtsspezifische Unterschiede

Nach verschiedenen Untersuchungen können sich Männer meistens die Wege besser merken als Frauen und finden sich auch auf Landkarten etwas leichter zurecht. Teilweise kann dies entwicklungs- und kulturgeschichtlich bedingt sein (Jagd, traditionelle Führungsrollen usw.), doch sind auch Unterschiede in der Gehirn­struktur und in der Strategie die Ursache. Letztere lässt sich z. B. daran untersuchen, wie Männer und Frauen eine Wegbeschreibung aufbauen:

Während sich die meisten Männer auf Himmelsrichtungen und Entfernungen konzentrieren, orientieren sich Frauen vor allem an Wegmarken. Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass beide Geschlechter unterschiedliche Informationen auswerten. Frauen denken stärker in Zusammenhängen und merken sich daher Weg- und Landmarken besser, während Männer optische Hinweise eher als Raumstruktur „verspeichern“.

Nach langen Testreihen zweier Forscherinnen der Royal Society (Jones und Healy) ist die Orientierungsfähigkeit beider Geschlechter etwa gleich, wenn es auf optische Merkmale ankam. Bei vorwiegend räumlichen Informationen schneiden hingegen Männer deutlich besser ab, weil sie diese und visuelle Hinweise gleich gut verwerten können. In geschlossenen Räumen finden sich jedoch Frauen besser zurecht: sie achten mehr auf die hier wichtigeren visuellen Reize, während Männer ihre Aufmerksamkeit zwischen diesen und den hier unwesentlicheren 3D-Informationen teilen. Ob diese zwei Orientierungsarten auf spezifische Vorteile in der frühen Menschheitsgeschichte zurückgehen können, sollen künftige Forschungen zeigen.

Eine Studie mit einer halben Million Teilnehmern aus 57 verschiedenen Ländern zeigte, dass es signifikante Geschlechtsunterschiede vor allem in Ländern gibt, in denen Frauen gesellschaftlich stark benachteiligt sind.[8]

Siehe auch

Literatur

  • J. Hinkelbein, E. Glaser (Hrsg.): Flugmedizin. UniMed-Verlag, Bremen 2007.
  • S. Ruff und H. Strughold: Grundriß der Luftfahrtmedizin. Joh. Ambrosius Barth, München 1957.
  • Teldix GmbH: Taschenbuch der Navigation. Industrie-Verlag Gehlsen, Heidelberg 1967.
  • K. Blawat (Text), S. Neuner (Illustrationen): Sie habe ihr Ziel erreicht. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 265, Wochenendausgabe vom 17./18. November 2018, Rubrik: Wissen, S. 36–37; über die Orientierung bei Mensch, Tieren und Insekten

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rüdiger Wehner: Polarization vision – a uniform sensory capacity? The Journal of Experimental Biology 204, 2001, S. 2589–2596, PMID 11511675.
  2. Harald Wolf: Odometry and insect navigation. Journal of Experimental Biology 214, 2011, S. 1629–1641, PMID 21525309.
  3. Nigel Foreman et al.: Locomotion, active choice, and spatial memory in children. In: The Journal of general psychology, April, 1990, doi:10.1080/00221309.1990.9921139
  4. a b ADAC: Warum Navis wie Krücken sind. (Nicht mehr online verfügbar.) Archiviert vom Original; abgerufen am 13. April 2018.
  5. Sie haben von ihrem Ziel keine Ahnung. In: Zeit-Online. Abgerufen am 13. April 2018.
  6. 3sat: Den Orientierungssinn nicht verkümmern lassen. Durch Navigationssysteme fehlt das Orientierungstraining. Abgerufen am 13. April 2018.
  7. Der Kabarettist Philip Simon in Nightwash (WDR)
  8. Katrin Blawat: Navigation – Wie sich der Orientierungssinn trainieren lässt. In: sueddeutsche.de. 20. November 2018, abgerufen am 7. Dezember 2018.