Radikaldemokratie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Der Begriff Radikaldemokratie oder Radikale Demokratie (von lat. radix = die Wurzel betreffend und Demokratie) bezeichnet Demokratiemodelle oder Demokratietheorien, die als Basis ausschließlich die Volkssouveränität anerkennen und sowohl naturrechtliche Setzungen wie Einflüsse Dritter durch wirtschaftliche Macht bzw. eigenmächtig handelnde Institutionen wie z. B. die Finanzmärkte als auch die Alternativlosigkeit ablehnen.

Als Gegenbegriffe können Systeme der Oligarchie, der Plutokratie und der Technokratie gelten.

Zentrale Ideengeber der Vorstellung einer Radikalen Demokratie sind u. a. der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau und sein Werk Contrat Social, die deutsch-amerikanische politische Theoretikerin Hannah Arendt, der griechisch-französische Philosoph Cornelius Castoriadis, der argentinische politische Theoretiker Ernesto Laclau sowie die belgische Politologin Chantal Mouffe.

Die genaue Form der politischen Strukturen unterscheidet sich je nach radikaldemokratischem Modell stark: Das Spektrum reicht von der „Herrschaft der Gesetze und nicht mehr der Personen“[1] über direkt- und rätedemokratische Ansätze bis zu einer Abschaffung aller „Institutionen, die nicht demokratisierbar sind“.[2] Seit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise ab 2007 hat der Begriff wieder eine stärkere Rezeption innerhalb der Sozialwissenschaften und im Diskurs des Postmarxismus und des Politischen erfahren.[3] „Als wesentliches Anliegen des Diskurses der radikalen Demokratie könnte man eine Verteidigung ‘des Politischen’, verstanden als Kraft der kollektiven Selbstinstituierung einer Gesellschaft, gegenüber ‘der Politik’, verstanden als Verwaltung des Gemeinwesens innerhalb etablierter Parameter, begreifen.“[4]

Umfassende Demokratisierung

In der Idee der Radikaldemokratie geht es vor allem um die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, d. h. um die Überwindung autoritärer und hierarchischer Strukturen, die Voraussetzung für eine selbstbestimmte Gestaltung aller Lebensverhältnisse eines jeden Einzelnen sind. Weil entscheidende Bereiche demokratischer Kontrolle entzogen (wie z. B. in der Wirtschaft) oder autoritär organisiert sind (wie z. B. das Bildungssystem), kritisieren Radikaldemokraten den undemokratischen Charakter dieser Gesellschaft und treten für ihre Veränderung ein. Es geht hierbei vor allem um die Emanzipation des Einzelnen und gesellschaftliche Verhältnisse, die Selbstbestimmung umfassend ermöglichen. Befreiung des Einzelnen von Herrschaft und Unterdrückung und die Schaffung einer emanzipatorischen Gesellschaft sind in der Radikaldemokratie untrennbar miteinander verbunden.

Freiheit und Partizipation

Ausgangspunkt der Radikaldemokratie ist die positive Bezugnahme auf Freiheit. Freiheit kann allerdings nicht nur als formale Freiheit verstanden werden. Freiheit umfasst mehr als nur gesetzlich zugestandene Möglichkeiten, Rechte wahrzunehmen. Freiheit bedeutet, „frei sein“ von allen herrschaftlichen Zwängen und Gewaltverhältnissen.

Radikaldemokratie ist eine Herrschaftsform, egal wie es gewendet wird. Radikaldemokratie ist daher zu begreifen als ein Verfahren, das versucht, den unterschiedlichen Interessen der Menschen eine Form zu geben, worin sie ihre Konflikte, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Interessen notwendigerweise entstehen, austragen. Radikale Demokratie unterscheidet sich allerdings in vielerlei Hinsicht von bürgerlichen Demokratievorstellungen. Radikaldemokratische Verfahren implizieren, dass im Gegensatz zur bürgerlichen Demokratie nicht nur jeder formal gleiche Partizipationsmöglichkeiten hat („one man, one vote“), sondern auch die gleichen Möglichkeiten, sich in Entscheidungsprozesse einzubringen. Kapitalistische Verhältnisse, in denen ökonomische Macht zur politischen Macht wird, stehen daher im Widerspruch zu radikaldemokratischen Vorstellungen.

Soziale Bedingungen

Radikaldemokratie ist also zunächst ein politisches System, in dem Menschen ihre Interessenkonflikte demokratisch austragen können und dabei die gleichen Möglichkeiten haben, sich in Entscheidungsprozesse einzubringen. Darin unterscheidet sich ein radikaldemokratisches Verfahren von einem bürgerlich-demokratischen Verfahren.

Der Radikaldemokratiebegriff impliziert mehr als nur die Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustands, in dem der Mensch Herr über seine Verhältnisse geworden ist, die Entfremdung der Arbeit überwunden hat, er also nicht mehr Objekt, sondern Subjekt seiner Geschichte ist. Der Begriff der Radikaldemokratie beinhaltet auch eine Strategie, wie dieser Zustand erreicht werden kann.[5]

Diese Strategie umfasst – abgeleitet aus dem Ziel der Freiheit der Individuen und dem sich daraus notwendig ergebenden radikaldemokratischen Verfahren –, dass Radikaldemokratie die Freiheit des Individuums nicht nur beschränkt, sondern auch dessen notwendige Voraussetzung ist. Wer die Freiheit des Individuums anstrebt, will also alle Bereiche, in denen gegenwärtig herrschaftliche Verhältnisse vorzufinden sind, zurückdrängen. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit, alle Bereiche, die bisher demokratischen Prozessen entzogen sind, radikal zu demokratisieren, also die Notwendigkeit, Lohnarbeiter und Benachteiligte jeder Art zu unterstützen, herrschaftliche Machtstrukturen aufzuheben, in denen sich die Verantwortung und die Macht des Einzelnen zum Leidwesen der Mehrheit „undemokratisch“ konzentriert.

Ideengeschichtliche Herkunft

Ideengeschichtlich nimmt die Radikaldemokratie die Elemente verschiedener bestehender politischer Anschauungen und Utopien auf, insbesondere aus jenen Teilen des politischen Spektrums, die in der Tradition der Aufklärung stehen. Radikaldemokratische Ideen finden sich traditionell einerseits in vielen Spielarten linker Politik, insbesondere im Sozialismus, Kommunismus (hierbei insbesondere im Rätekommunismus) sowie im Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus. Aber auch die bürgerliche Traditionslinie ist im Freiheitsgedanken der Radikaldemokratie aufgenommen, insbesondere der Liberalismus, der an die bürgerliche Idee eines mündigen und autonomen politischen Subjekts anknüpft, wie es etwa bei Immanuel Kant oder Jean-Jacques Rousseau philosophisch-politisch entworfen wurde. Der Gedanke der demokratischen Selbstverwaltung reicht dabei zurück bis in die griechische Polis.

In der Gegenwart steht außer den genannten politischen Strömungen auch der Kommunitarismus der Radikaldemokratie nahe. Aspekte einer radikalen Demokratisierung finden sich auch in verwandten Konzepten wie der direkten Demokratie, der Basisdemokratie, der Rätedemokratie oder der Partizipatorischen Demokratie.

Kritik

Bei Anhängern der Repräsentativen Demokratie gilt die Radikaldemokratie als eine zu extreme Interpretation des Demokratiegedankens, die zugunsten eines am Konzept der Masse orientierten Allgemeinwillens potentiell zu einer Verletzung oder gar Aufhebung der Individualrechte des Einzelnen führen könnte. Sie halten eine Herrschaft allein oder hauptsächlich durch Volksabstimmungen für gefährlich, weil diese ihrer Meinung nach zu Populismus und im schlimmsten Fall zu einer diktatorischen „Herrschaft des Pöbels“ (Ochlokratie) oder von ihm ermächtigter charismatischer Volksführer hinführen könnte, zumindest aber zu einer Einschränkung der privaten Sphäre zugunsten der öffentlichen. Anstelle eines radikaldemokratischen Identitätsmodells von Herrschaft bevorzugen sie im Prinzip ein Delegationsmodell (etwa nach Joseph Schumpeter), das nicht in der Ausübung von politischer Macht durch Wenige das Hauptproblem sieht, sondern in ihrer Kontrolle durch Abwahlmöglichkeit und Gerichte.

Damit zeigen sie nach Ansicht von Vertretern der Radikaldemokratie antidemokratisches Denken auf, da sie die Menschen für unfähig hielten, vernünftige Entscheidungen zu treffen, und somit jeden emanzipatorischen Ansatz von vornherein untergrüben und ihre gewählten Eliten für unfehlbar hielten. Radikaldemokraten halten Populismus in diesem Zusammenhang auch in der Repräsentativen Demokratie für möglich („Herrschaft der Repräsentanten“); Anhänger der repräsentativen Demokratie widersprechen dem nicht, halten ihn aber für unwahrscheinlicher und in seinen Möglichkeiten für beschränkter.

Liberale Gegner kritisieren an der Radikaldemokratie, die – wie weiter oben erwähnt – oft auch eine „Demokratisierung“ nicht-politischer Gesellschaftsbereiche (Kultur, Wirtschaft, Schule etc.) fordert, dass eine Art von Herrschaft nicht dadurch weniger Herrschaft ist, wenn sie von vielen gegenüber wenigen ausgeübt wird; die Radikaldemokratie sei insofern gefährlich, als sie Herrschaft in vorher herrschaftsfreie oder zumindest partikulare Räume einführe, die dem Privatbereich der Bürger zuzuordnen seien, und so deren individuelle Handlungsfreiheit(en) aufhebe. Dahinter steckt die Frage, ob eine Demokratie nur dann wirklich demokratisch ist, wenn alle Lebensbereiche Sache der Öffentlichkeit sind, oder ob nicht gerade die Möglichkeit, jenseits von der politischen „demokratischen“ Öffentlichkeit privat oder gesellschaftlich zu handeln, Grundlage für eine Demokratie sein soll.

Kritiker halten Radikaldemokratie außerdem in anonymen modernen Massengesellschaften für praktisch kaum durchführbar, anders als in griechischen Stadtstaaten oder kleinen Schweizer Kantonen. Radikaldemokraten weisen allerdings darauf hin, dass die Radikaldemokratie in modernen Nationalstaaten bislang noch nicht erprobt wurde.

Literatur

  • Aristotelis Agridopoulos und Paul Sörensen (Hrsg.): Imagination – Autonomie – Radikale Demokratie: Cornelius Castoriadis' politisches Denken (Schwerpunktheft), in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie, Nr. 71, 02/2016.
  • Alain Badiou: Ist Politik denkbar? Merve, Berlin 2010, ISBN 978-3-88396-265-8.
  • Thomas Bedorf und Kurt Röttgers (Hrsg.): Das Politische und die Politik. Suhrkamp, Berlin 2010, ISBN 978-3-518-29557-1.
  • Ulf Bohmann und Barbara Muraca: Demokratische Transformation als Transformation der Demokratie: Postwachstum und radikale Demokratie. In: AK Postwachstum (Hrsg.): Wachstum – Krise und Kritik. Campus, Frankfurt 2016, ISBN 978-3-593-43471-1, S. 289–311.
  • Martin Breaugh, Christopher Holman, Rachel Magnusson et al. (Hrsg.): Thinking Radical Democracy: The Return to Politics in Post-War France. University of Toronto Press, Toronto 2015, ISBN 978-1442650046.
  • Ulrich Bröckling und Robert Feustel (Hrsg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen. Transcript, Bielefeld, 2010, ISBN 978-3-8376-1160-1.
  • Cornelius Castoriadis: Demokratie als Verfahren und Demokratie als System sowie ders.: Welche Demokratie?, in ders.: Autonomie oder Barbarei, Lich/Hessen: Edition AV 2006, ISBN 3-936049-67-X.
  • Dagmar Comtesse, Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen und Martin Nonhoff (Hrsg.): Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch. Suhrkamp, Berlin 2019. ISBN 978-3-518-29848-0.
  • Oliver Flügel-Martinsen: Befragungen des Politischen. Subjektkonstitution – Gesellschaftsordnung – Radikale Demokratie. Springer VS,: Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-658-13733-5.
  • Oliver Flügel-Martinsen: Radikale Demokratietheorie zur Einführung. Junius, Hamburg 2020, ISBN 978-3-96060-314-6.
  • Oliver Flügel, Reinhard Heil und Andreas Hetzel (Hrsg.): Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, 2004. ISBN 3-534-17435-6.
  • Takis Fotopoulos: Umfassende Demokratie. Die Antwort auf die Wachstums- und Marktwirtschaft, Grafenau: Trotzdem 2003, ISBN 3-931786-23-4.
  • Uwe Hebekus und Jan Völker: Einführung in Neue Philosophien des Politischen. Junius, Hamburg 2012, ISBN 9783885066637.
  • Reinhard Heil, Andreas Hetzel (Hrsg.): Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie. Transcript, Bielefeld 2006, ISBN 978-3-89942-332-7-
  • Michael Hirsch, Rüdiger Voigt: (Hrsg.) Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-515-09308-8.
  • Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus (1985), Wien: Passagen Verlag 2000 (2. Auflage), ISBN 3-85165-453-6.
  • Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz, Wien: Turia + Kant 2002, ISBN 3-85132-244-4.
  • Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Jean-Luc Nancy, Claude Lefort, Alain Badiou, Ernesto Laclau und Giorgio Agamben Suhrkamp, Berlin 2010, ISBN 978-3-518-29556-4.
  • Ingeborg Maus: Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, ISBN 3-518-58130-9.
  • Chantal Mouffe: Über das Politische – Wider die kosmopolitische Illusion. Suhrkamp, Frankfurt 2007, ISBN 978-3-518-12483-3.
  • Martin Nonhoff: Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie: Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Transcript, Bielefeld 2007, ISBN 978-3899424942.
  • Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Suhrkamp, Frankfurt 2002, ISBN 978-3-518-29188-7.
  • Helge Schwiertz: Migration und radikale Demokratie. Politische Selbstorganisierung von migrantischen Jugendlichen in Deutschland und den USA. Transcript, Bielefeld 2019, ISBN 978-3-837-64832-4.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Jens Thudichum, Mit radikaler Demokratietheorie Kritik und Utopie formulieren (Memento des Originals vom 27. März 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.sternezumtanzenbringen.jdjl.org
  2. so die Selbstdarstellung der nordrhein-westfälischen JungdemokratInnen/Junge Linke
  3. Vgl. Breaugh 2015, Bröckling/Feustel 2010, Bedorf/Röttgers 2010, Flügel-Martinsen 2017, Hirsch/Voigt 2009, Marchart 2010.
  4. Heil/Hetzel 2006, S. 9.
  5. Ulf Bohmann, Barbara Muraca: Demokratische Transformation als Transformation der Demokratie: Postwachstum und radikale Demokratie. In: AK Postwachstum (Hrsg.): Wachstum – Krise und Kritik. Campus, Frankfurt 2016, ISBN 978-3-593-43471-1, S. 289–311.