Recht auf digitale Unversehrtheit
Als digitale Unversehrtheit, auch bekannt als digitale Integrität, wird die ungestörte Existenz der Person in der digitalen Welt bezeichnet. Digitale Unversehrtheit ist ein Teil der körperlichen Unversehrtheit, gleichwertig neben der physischen und psychischen Unversehrtheit des Menschen. Gegenwärtig werden unter dem Recht auf körperliche Unversehrtheit im deutschen Grundgesetz und in der EU-Charta für Menschenrechte sowohl die physische als auch die psychische Gesundheit eines Menschen geschützt, nicht jedoch die digitale Unversehrtheit.[1]
Begrifflichkeit
Die digitale Unversehrtheit versteht sich analog zur körperlichen Unversehrtheit als ein grundlegendes Persönlichkeitsrecht. Sie umfasst sowohl die Privatsphäre als auch die digitale Identität. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei der digitale Fußabdruck, den eine Person hinterlässt, also Daten, die über eine Person in digitaler Form vorliegen und beispielsweise durch Unternehmen verfügbar gemacht werden. Dieser kann massive Auswirkungen auf die persönliche Freiheit des Einzelnen haben sowie zu negativen physischen und psychischen Konsequenzen führen. Das Recht auf Vergessenwerden ist hier als Teilantwort zu verstehen.[2]
Die genauen Anforderungen zur Aufrechterhaltung der digitalen Unversehrtheit können sich dabei mit wechselndem Kontext stark wandeln. Wichtigster Mechanismus zum Erreichen dieses Ziels ist jedoch die informative Selbstbestimmung. Die digitale Unversehrtheit wird analog der körperlichen Unversehrtheit als ein grundlegendes Persönlichkeitsrecht betrachtet. Sie umfasst sowohl die Privatsphäre als auch die digitale Identität.
Grundsatz
Jeder Mensch hat das Recht auf seelische und körperliche Unversehrtheit. Mit der digitalen Revolution ist auch der Begriff des digitalen Lebens entstanden. „Wenn der Mensch eine digitale Existenz hat, gibt es Grund zur Annahme, dass sich seine Unversehrtheit auch auf diese [digitale] Dimension erweitert.“[3] Laut der Französischsprachigen Vereinigung der Datenschutzbehörden (AFAPDP) sind „personenbezogene Daten grundlegende Elemente der natürlichen Person. Die Person selbst hat damit die alleinigen Rechte an diesen Daten, jedoch sind jene unveräusserlich.“ Das bedeutet, dass personenbezogene Daten eines Menschen nicht verkäuflich sind, und die Rechte an ihnen, über die ein Mensch verfügt, können von ihm nicht abgegeben werden. Diese Position wird von der AFAPDP in einem von der CNIL vorgeschlagenen Beschluss verteidigt.[4]
Das im Recht auf Leben enthaltene Recht auf digitale Integrität wird als Rechtfertigung für alle digitalen Rechte vorgeschlagen. Die Aufnahme des Rechts auf digitale Unversehrtheit in die Grundrechte ermöglicht es, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf Verfassungsebene einzufordern.
Bedrohungen
Im Kontext des so genannten Cybermobbings kommt der digitalen Unversehrtheit eine besondere Bedeutung zu: Wohingegen körperliche Versehrungen sichtbar und physisch durch die betroffene Personen erfahrbar sind, verhält sich dies im digitalen (und seelischen) Bereich etwas anders. Hier ist es schwierig, diese digitalen Verletzungen entsprechend zu erkennen und sie vor allem erfassbar zu machen. Häufig sind die Opfer viele Jahre unbemerkt digitalem Missbrauch ausgesetzt. Im Kontext des Cybermobbings wird häufig über den Identitätsdiebstahl und -missbrauch enormer Schaden angerichtet.[5]
Deutschland
Die Piratenpartei Deutschland hat das Recht auf digitale Integrität in ihr politisches Programm für die Bundestagswahl am 26. September 2021 aufgenommen. Die Piratenpartei schlägt die Änderung des Artikels 2 Absatz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vor. Der vorgeschlagene Text lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche und digitale Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“[6]
Frankreich
In seiner Rede am 15. Juni 2017 erwähnte der Präsident der Französischen Republik, Emmanuel Macron, den Begriff der digitalen Integrität im Sicherheitskontext der digitalen Gesellschaft: „Cyberkriminalität, Cyberattacken sind Teil unseres täglichen Lebens und in diesem Bereich muss Frankreich nach Exzellenz streben. Indem wir den Schutz persönlicher Daten und digitaler Integrität gewährleisten. Indem wir das tägliche Leben unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger schützen.“[7]
Der französische Parlamentarier Bruno Bonnel schlug am 7. Februar 2018 einen Änderungsantrag zum Abgleich von Daten mit einem vermögensrechtlichen und moralischen Wert vor, so dass jede Person die Kontrolle über ihre digitale Integrität besitzt, welche aber nicht akzeptiert wird.[8]
Schweiz
Politik
Die Piratenpartei Schweiz verurteilt regelmäßig Angriffe auf die digitale Integrität.[9] Andererseits hat die Sozialdemokratische Partei (SP) der Schweiz den Begriff der digitalen Integrität in ihre Politik bezüglich des Internets aufgenommen: «Die SP setzt sich für die Anerkennung und den Schutz der digitalen Integrität der Bürgerinnen und Bürger ein. Die Gewährleistung der digitalen Integrität ist der wichtigste Hebel für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.»[10]
Die «Auswertung des Digitalisierungsmonitors» von Swico hat am 25. September 2019 die Ergebnisse einer Umfrage unter den Kandidaten für die Eidgenössischen Wahlen 2019 veröffentlicht.[11] Auf die Frage «Soll die Schweiz ein Grundrecht auf digitale Integrität in der Verfassung verankern, das das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf digitales Vergessen einschliesst?» sprachen sich Kandidaten aller Parteien voll oder eher für ein solches Grundrecht aus – 99 % der Teilnehmer von den Grünen und 55 % der Kandidaten der Schweizerischen Volkspartei (SVP).[12]
Rechtslehre
Die Rechtsfakultät der Universität Neuenburg/ Neuchâtel (Schweiz) hat ein Kolloquium zum Thema «Das Recht auf digitale Integrität: echte Innovation oder einfache Evolution des Rechts?» organisiert.[13] Die Akten des Kolloquiums wurden veröffentlicht.[14]
Gesetz
Die Kommission 2 des Verfassungsrates über die Grundrechte des Kantons Wallis schlägt die Einführung eines Paragraphen in die zukünftige Verfassung vor, der besagt: «Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Integrität.»[15]
Ein Entwurf für eine Volksinitiative[16] zielt darauf ab, Artikel 10[17] der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft um das Recht auf digitale Integrität zu ergänzen.
Im September 2020 wurde im Kanton Genf von der Genfer Sektion der Liberalen Partei (FDP) eine Volksinitiative zur kantonalen Verfassung lanciert,[18] die darauf abzielt, Artikel 21 der Verfassung der Republik und des Kantons Genf um einen Absatz zu ergänzen, der «das Recht auf den Schutz seiner [ persönlichen] digitalen Integrität» einbaut.[19] Im November 2020 wurde die Initiative zu Gunsten einer Verfassungsrevision aufgegeben.[20] Der Entwurf des Verfassungsgesetzes wurde am 28. April 2021 eingereicht und sah die Hinzufügung eines neuen Paragraphen vor, der mit dem Entwurf der Initiative identisch ist.[21]
Bibliographie
- Le droit à l’intégrité numérique. Réelle innovation ou simple évolution du droit? Université de Neuchâtel, Verlag Helbing Lichtenhahn, 2020, ISBN 978-3-7190-4456-5.
- Alexis Roussel, Grégoire Barbey: Notre si précieuse intégrité numérique : Plaidoyer pour une révolution humaniste. Éditions Slatkine, 2021, ISBN 978-2-8321-1052-2.
Weblinks
- Les enjeux de l'intégrité numérique Léman bleu, 18. Januar 2021
- Digital integrity of the human person, a new fundamental right 2020 update, von Alexis Roussel (auf Englisch) rC3, 28. Dezember 2020
Einzelnachweise
- ↑ Digitale Unversehrtheit als Grundrecht abgerufen am 4. Juli 2021
- ↑ Programm des Kolloquiums Das Recht auf digitale Integrität. Echte Innovation oder einfache Evolution des Rechts? 21. Februar 2020 (online).
- ↑ Grégoire Barbey: Il est temps de reconnaître l’intégrité numérique des individus. Le Temps, 25. Januar 2019, ISSN 1423-3967 (online [archive], abgerufen am 4. Juli 2021).
- ↑ Résolution sur la propriété des données [archive] von der AFAPDP verabschiedet am 18. Oktober 2018.
- ↑ Schweizerische Kriminalprävention, Cybermobiing, abgerufen am 6. Juli 2021.
- ↑ Digitale Unversehrtheit als Grundrecht abgerufen am 4. Juli 2021.
- ↑ Rede des Staatspräsidenten im Salon VivaTech 2017, 15. Juni 2017 (online [archive]).
- ↑ xavier@nextinpact.com, « L’Assemblée termine l’examen du projet de loi RGPD : on fait le point » [archive], auf www.nextinpact.com, 2. August 2018.
- ↑ Webseite der Piratenpartei
- ↑ «Internetpolitik» – Positionspapier, das von der Delegiertenversammlung am 5. Dezember 2015 in St. Gallen verabschiedet wurde (online).
- ↑ Auswertung des Digitalisierungsmonitors, Swico (abgerufen am 6. Juli 2021).
- ↑ «Analyse du baromètre du numérique en amont des élections fédérales de 2019», Swico (online).
- ↑ Programm des Kolloquiums Das Recht auf digitale Integrität. Echte Innovation oder einfache Evolution des Rechts? vom 21. Februar 2020 (online).
- ↑ Le droit à l’intégrité numérique. Réelle innovation ou simple évolution du droit? Université de Neuchâtel, Verlag Helbing Lichtenhahn, 2020, ISBN 978-3-7190-4456-5.
- ↑ Bericht der Sitzung vom 11. Oktober 2019 der Kommission 2 des Verfassungsrates des Kantons Wallis, (online).
- ↑ «Nous devons protéger notre intégrité numérique», Tribune de Genève, 5. Januar 2018, ISSN 1010-2248 (online, abgerufen am 4. Juli 2021).
- ↑ Artikel 10 der Eidgenössischen Bundesverfassung https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/fr#a10
- ↑ Canton de Genève – Le PLR veut renforcer la protection de l’intégrité numérique. Tribune de Genève, 25. Juni 2020.
- ↑ Le PLR veut garantir l’intégrité numérique. [archive], Le Courrier, 15. September 2020.
- ↑ Ihu, Genève: Pas d’initiative sur l’intégrité numérique pour le PLR. 20 Minutes, 8. November 2020.
- ↑ Projet de loi constitutionnelle modifiant la constitution de la République et canton de Genève (Cst-GE) (A 2 00) (Pour une protection forte de l’individu dans l’espace numérique; Quelle nicht mehr online verfügbar).