Rituelle Beleidigung

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Als rituelle Beleidigung oder rituelle Beschimpfung wird in der sprachwissenschaftlichen Gesprächsanalyse eine im Dialog vorkommende ritualisierte Form der Scherzkommunikation zwischen vertrauten Gesprächspartnern bezeichnet. Im Unterschied zur „Beleidigung“ nach deutschem Recht verliert die ausgesprochene Beleidigung jegliche Bedrohlichkeit und bewirkt – je nach Gesprächskonstellation – sogar das Gegenteil. Die Grundlage einer rituellen Beleidigung in einer Gesprächs-Konstellation ist ein besonders hoher Grad an Vertrautheit der Gesprächspartner. Dies ermöglicht die gegenseitige Beleidigung in dem sicheren Wissen, dass sie nicht als solche verstanden wird.

Herkunft

Die rituelle Beleidigung beruht auf dem Prinzip der Scherzkommunikation,[1][2] die laut Wilfried Schütte eine grundlegende „Umdefinition der normalen Regeln“ beschreibt, wodurch Formulierungen und Aussagen „nicht mehr in normaler Weise als Indikatoren für bestimmte Sprechakte genommen werden können“.[2] Der Sprachwissenschafter Klaus Vorderwülbecke merkte 2004 an: „Die Prinzipien der Qualität und der Höflichkeit werden absichtlich verletzt, um Intimität zu dokumentieren.“[3] Die rituelle, imagegefährdende Unterstellung trägt teilweise parodistische Züge und wird entsprechend vom Gesprächspartner nicht ernstgenommen.[4]

Jugendsprache

In der Jugendsprache wird die rituelle Beleidigung als Auswahlmedium genutzt, um innerhalb einer Gruppierung eine Hierarchie festzulegen. Dabei spielt nicht nur die Reaktion des Duellpartners eine Rolle, sondern auch die Reaktionen der anderen Gruppenmitglieder, welche in diesem Fall als eine Art Jury fungieren und somit den Gewinner festlegen.[5]

Die Aussprache sowie die zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion ist demnach ausschlaggebend, ob eine Beleidigung als rituelle Beleidigung oder als Aggression gewertet wird.[5] „Manchmal soll allein die Länge eines Vokals entscheidend dafür sein, ob z. B. [der Ausdruck] Opferknecht tatsächlich beleidigend oder anerkennend gemeint ist“.[6]

Einzelnachweise

  1. Helga Kotthoff (Hrsg.): Scherzkommunikation: Beiträge aus der empirischen Gesprächsforschung Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, ISBN 3-531-12799-3, Vorwort S. 16 (Seitenvorschau in der Google-Buchsuche); Zitat: „Parodien, rituelle Imageverletzungen, Wortspiele und vor allem Running Gags werden als Formen von Scherzkommunikation gesprächsanalytisch bearbeitet.“
  2. a b Wilfried Schütte: Scherzkommunikation unter Orchestermusikern: Interaktionsformen in einer Berufswelt. Institut für Deutsche Sprache, Mannheim 2015, ISBN 978-3-936656-65-7, S. 377.
  3. Klaus Vorderwülbecke: Sprachliche Höflichkeit und Zumutbarkeit. In: Iwona Bartoszewicz, Marek Hałub, Alina Jurasz (Hrsg.): Werte und Wertungen: Sprach-, literatur- und kulturwissenschaftliche Stellungnahmen. Festschrift für Eugeniusz Tomiczek zum 60. Geburtstag (= Beihefte zum Orbis Linguarum. Band 26). Oficyna Wydawnicza ATUT, Wrocław 2004, S. 271–281 (Sprachwissenschaftler; PDF: 6,3 MB, 11 Seiten auf bsz-bw.de).
  4. Caja Thimm, Susanne Augenstein: Lachen und Scherzen in einer Aushandlungssituation oder: Zwei Männer vereinbaren einen Termin In: Helga Kotthoff (Hrsg.): Scherzkommunikation: Beiträge aus der empirischen Gesprächsforschung Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, ISBN 3-531-12799-3, S. 221–254, hier S. 240 (Seitenvorschau in der Google-Buchsuche).
  5. a b Diana Marossek: Kommst du Bahnhof oder hast du Auto? Warum wir reden, wie wir neuerdings reden. Hanser Berlin, München 2016, ISBN 978-3-446-25219-6 (mehrere Zitatansichten in der Google-Buchsuche).
  6. Heiner Böttger, Michaela Sambanis: Sprachen lernen in der Pubertät. Narr, Tübingen 2017, ISBN 978-3-8233-8049-8, S. 33 (PDF: 1,6 MB, 11 Seiten auf content-select.com).