Schläfenbrille
Die Schläfenbrille war Anfang bis Mitte des 18. Jahrhunderts der Übergang vom Nasenklemmer (Nietbrille) hin zur späteren Gattung der Ohrenbrillen.
Die Schläfenbrille war die erste Brille mit seitlich angesetzten Bügeln, die zur damaligen Zeit noch im deutschen Sprachraum als Seitenarme, Stangen oder Federn bezeichnet wurden. Diese Bügel waren von Anfang an durch ein Scharnier einklappbar. Die Besonderheit war, dass diese Seitenarme nicht bis auf oder hinter das Ohr reichten, sondern nur bis zur Schläfe gingen, gegen die sie drückten. Schläfenbrillen mit längeren Bügelstangen waren als Lesebrillen gedacht und wurden entsprechend weiter vorne auf der Nase getragen.
Unterschiedliche Varianten der Schläfenbrille
- Erstmals abgebildet ist die Schläfenbrille auf den Handelskarten von Edward Scarlett in der Zeit von 1714 bis 1727.[1] Diese hatten auffällig große Ösen in Schneckenform am Ende der kurzen Bügelstangen. Diese Schneckenform sollte für einen besonders guten Halt an der Schläfe sorgen. Nur einige Originale dieser Scarlett Typ Spectacles sind erhalten.
- Ein Grabstein, auf dem Friedhof Kirkliston / Edinburgh einer Margaret Shield datiert 1727, zeigt zwei in Stein gemeißelte Köpfe oder Totenschädel, die ganz offenbar Schläfenbrillen mit seitlichen runden Ringen tragen[2][3]. Ob es tatsächlich Köpfe sind, die zudem Brillen tragen, ist allerdings nicht endgültig gesichert. Passt aber zeitlich zu den Handelskarten von Edward Scarlett (s. o.).
- Ab 1746 sind Schläfenbrillenbügel mit großen geschlossenen kreisrunden Ringen bekannt. Diese weitaus häufigere Variante wird dem französischen Optiker Marc Thomin[4], Paris zugesprochen. Die Ringe wurden in der Folge immer geringer im Durchmesser, bis hin zu kleinen ovalen Ösen. In Verbindung mit dann länger werdenden Bügeln war das dann der fließende Übergang zum Steckbügel (zur Gattung Ohrenbrille gehörend).
- Aufwendig gestaltete Elfenbein- und Silberbrillen mit paddelförmigen Seitenteilen in Seitenschwert-Form früher Segelboote.
Die Brillen mit Schnecken-, Ring- und Ösenbügel waren aus Eisen und drückten mit hoher Kraft auf die Schläfen. Das Tragen von Schläfenbrillen war dadurch, in gewissem Maße, unangenehm und schmerzhaft. So wurden die Endstücke gerne, für ein angenehmeres Tragen, mit Seidentuch überzogen. Ebenso dienten die runden Enden zur Befestigung von Bändern, um die Brille hinter dem Kopf festzuziehen.
Nach dem Aufkommen der Ohrenbrille verschwand die Schläfenbrille bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder.
Allgemeines
Aus heutiger Sicht etwas unverständlich, warum man damals, nachdem man nach etwa 400 Jahren Brille endlich auf die Idee mit dem Bügel kam, diesen nicht bis zum Ohr führte. Wenn man manch einen Brille tragenden Gelehrten ausklammert, war den Menschen damals das Benutzen einer Brille oft peinlich. Brillenträger galten als behindert bzw. alt. Zudem sind Fehlsichtigkeiten teilweise vererbbar und so waren Brillenträger bei der Partnerwahl weniger gefragt. Goethe war es sogar unangenehm, wenn ihm jemand mit aufgesetzter Brille gegenübertrat[5], ebenso benutzte er seine Kurzsichtigkeits-Fernbrille nur kurzzeitig und sporadisch[6] (aufgrund seiner Kurzsichtigkeit brauchte er im Übrigen keine Lesebrille). Eine damals verbreitete Meinung war, je kleiner die Brille und auch wenig geeignet zum dauerhaften Tragen, umso unbedeutender die Brille. Somit durfte man hoffen, dass das eigene Augenleiden vom persönlichen Umfeld dementsprechend auch nur als gering eingeschätzt wurde. Aufgrund dieser auch im 18. Jahrhundert üblichen Einstellung mussten Brillen möglichst klein sein, um sie vor und nach dem kurzfristigen Benutzen z. B. in der hohlen Hand oder einem kleinen Etui zu verbergen. Somit waren lange Bügel, die zudem umständlich unter Frisuren oder Perücken geschoben werden mussten oder beim Abnehmen in denselben hängen bleiben konnten, nicht gefragt. Passend zu diesem Umstand hatten die dann doch nachfolgenden Ohrenbrillen[7] in sich zu verkürzende Bügelstangen (Schiebestangen, Knickstangen). Sicher auch ein Grund dafür, warum sich bügellose Klemmbrillen (ab etwa 1840 dann Zwicker), Lorgnetten und Monokel noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuten, die erst mit Erfindung der heutigen anatomisch anpassbaren Golfbügel (um 1930) langsam verschwanden.
Schläfenbrillen nannte man
-in England: 'temple spectacles' = Schläfen-Brille. Alle dann folgenden Bügelvarianten werden im englischen Sprachraum allerdings bis Heute ebenfalls als 'temple' bezeichnet!
-in Frankreich: 'Lunettes à tempes permettant de respirer à l’aise' = Brille an der Schläfe, ermöglicht bequemes Atmen (gegenüber den damals üblichen Nasenklemmern).
In Fachbüchern des späten 19Jh. und frühen 20Jh. wird von verschiedenen Autoren Spanien im 17Jh. als möglicher ursprüngliche Entstehungsort der Schläfenbrille benannt. Die Begründungen zu diesen Aussagen sind allerdings nur sehr wage und ohne Nachweise.
Einzelnachweise
- ↑ The Edward Scarlett Trade Card, abgerufen am 22. Mai 2020
- ↑ Headstone to Margaret Shield d. 1727 / Gesamtansicht
- ↑ Headstone to Margaret Shield d. 1727 / Teilansicht
- ↑ Brille im Laufe der Zeit, abgerufen am 22. Mai 2020
- ↑ https://www.projekt-gutenberg.org/eckerman/gesprche/gsp3095.html
- ↑ https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_johann_wolfgang_von_goethe_thema_gesicht_zitat_9905.html
- ↑ Eine Ohrenbrille aus der Zeit um 1800, Schlossmuseum Jever, abgerufen am 22. Mai 2020
Weblinks
- Scarlett Objekt auf 'The College of Optometrists'
- Artikel auf www.college-optometrists.org
- The Edward Scarlett Trade Card auf www.antiquespectacles.com
- Slide Show auf www.antiquespectacles.com
- Die Geschichte der Brille. Von ihren Anfängen als „Lesestein“ bis zum Lifestyle-Objekt Zeiss.de, 22. November 2017
- Grabsteinerwähnung Pfarrkirche Kirkliston