Secretum secretorum

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Seite aus dem Secretum secretorum (Kitâb Sirr al-asrâr)

Das pseudo-aristotelische Kompendium Secretum secretorum (deutsch: Geheimnis der Geheimnisse; arabisch kurz Sirr al-asrar genannt) ist ein angeblich von dem antiken Philosophen Aristoteles verfasstes Sammelwerk. Es enthält eine enzyklopädische Geheimlehre, die aus verschiedenen Quellen kompiliert wurde und in Anlage und Form deutlich orientalische Züge aufweist. Der Text weist Widersprüche und Wiederholungen auf.[1] Die Schrift wurde im 10. Jahrhundert in syrischen, persisch beeinflussten hermetischen Kreisen konzipiert und zusammengestellt.[2] Die arabische Fassung, die als Kitāb as siyāsah fī tadbīri-r-riʿāsati 'l-maʿruf bi-Sirri-l-ʿasrār[3] („Das Buch der Politik zum Regieren, bekannt unter dem Namen Geheimnis der Geheimnisse“) bekannt ist, wurde in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch Philippus Clericus Tripolitanus, der das Werk vermutlich 1234 in Antiochia gefunden hatte[4] vollständig ins Lateinische übersetzt und dem Bischof Guido von Tripolis gewidmet. Eine Teilübersetzung, die (vermutlich von Johannes Hispalensis bzw. Johannes Hispanus[5]) zwischen 1135 und 1142 vorgenommen wurde, kursierte unter dem Namen Epistula ad Alexandrum.[6]

In der Vorrede wird das Secretum als geheime Lehre des Aristoteles an seine engsten Schüler bezeichnet.[7] Da niemand an dieser Autorzuschreibung zweifelte, konnte diese Schrift wie die authentischen Schriften des berühmten Philosophen starken Einfluss auf das Denken im lateinischen Abendland nehmen.[8][9] Nur im Rahmen der allgemeinen Rezeption des aristotelischen Gesamtwerks im Hochmittelalter kann die Bedeutung vor allem der pseudoaristotelischen Diätetik, unter anderem den Zwölfmonatsregeln vergleichbare Vier-Jahres-Regeln[10] enthaltend, für die spätmittelalterliche Fachliteratur begriffen werden.[11]

Übersetzungen, Rezeption

Die Ordensschwester Hiltgard oder Hildegard von Hürnheim (* um 1255 auf Burg Hochhaus bei Hürnheim)[12][13] aus dem Zisterzienser-Kloster Zimmern im Landkreis Nördlingen erarbeitete die vermutlich älteste vollständige Übersetzung aus dem Lateinischen ins Mittelhochdeutsche.[14][15] Diese 1282 beendete Arbeit blieb allerdings von schwacher Wirkung.[16] Die meisten volkssprachigen Secreta aus dem späten Mittelalter, oft moralisch-didaktischen Inhalts wie die Übersetzungen der Documenta Aristotilis ad Alexandrum Magnum[17] im 15. Jahrhundert, orientieren sich – wie zum Beispiel schon die zirka 450-versige poetische Bearbeitung durch einen Michael Gernpaß aus dem bairisch-österreichischen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts[18] – kaum am lateinischen Wortlaut.[19] Darum sind direkte Übernahmen oder Übersetzungen in aller Regel nicht mehr festzustellen. Eine Abhängigkeit vom arabischen Urtext ist häufig gar nicht mehr nachweisbar.[20] Schließlich beginnen sich die Jahreszeitenlehren der Secreta zum Ausgang des Mittelalters gänzlich zu verselbständigen; es existiert eine Überlieferungsgemeinschaft mit den verbreiteten[21] Zwölfmonatsregeln.[22] Die Textgeschichte der Secreta Secretorum ist sowohl für die lateinische, als auch die volkssprachige Tradition außerordentlich verworren.[23][24] Deutsche Druckausgaben wurden beispielsweise von 1530 bis 1533 in Augsburg unter der Redaktion von Johann Lorchner (Rat und mathematicus, d. h. Astrologe, von Kaiser Maximilian I.) herausgegeben, deren Text jedoch eine ältere Übersetzung wiedergibt.[25] Der Textkern der arabischen Urfassung geht zurück auf den um 730 entstandenen Briefroman Rasāʿ il Arisṭāṭālīsa ʿīlā 'l-Iskandar.[26]

Literatur

  • Regula Forster: Das Geheimnis der Geheimnisse: Die arabischen und deutschen Fassungen des pseudo-aristotelischen Sirr al-asrar / Secretum Secretorum. Reichert, Wiesbaden 2006. ISBN 3-89500-495-2
  • Kurt Gärtner: Documenta Aristotilis ad Alexandrum Magnum. In: Burghart Wachinger u. a. (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Bd 2 . (Comitis, Gerhard – Gerstenberg, Wigand). De Gruyter, Berlin/ New York 1980. Sp. 182 f. ISBN 3-11-007264-5
  • Mario Grignaschi: Remarques sur la formation et l'interprétation du „Sirr al-'arâr“. In: W. F. Ryan, Charles B. Schmitt (Hrsg.): Pseudo-Aristotle The Secret of Secrets. Sources and influences. London 1982. S. 3–33.(The Warburg Institute Surveys and Texts'. 9.)
  • Bernhard D. Haage, Wolfgang Wegner: ‚Secretum secretorum‘. In: Werner E. Gerabek [u. a.] (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005. S. 1314. ISBN 3-11-015714-4
  • Wolfgang Hirth: Studien zu den Gesundheitslehren des sogenannten „Secretum secretorum“. Unter besonderer Berücksichtigung der Prosaüberlieferungen. Philosophische Dissertation Heidelberg 1969; Heidelberg 1971.
  • Wolfgang Hirth: Zu den deutschen Bearbeitungen der Secreta Secretorum. In: Leuvense Bijdragen. Band 55, 1966. S. 40–70.
  • Wolfgang Hirth: Überlieferungen der pseudo-aristotelischen „Secretum-secretorum“-Diätetik mit abweichenden Verfasserangaben. In: Actas, XXVII Congresso Internacional de Historia de la Medicina 31. agosto – 6 septiembre 1980. Barcelona 1981, S. 259–263.
  • Gundolf Keil: Secretum secretorum. In: Verfasserlexikon. 2. Auflage. Band 8, Sp. 993–1013.
  • Mahmoud A. Manzalaoui (Hrsg.): Secretum Secretorum: Nine English Versions. Oxford u. a.1977 (= Early English Text Society. Band 276).
  • Reinhold Möller (Hrsg.): Hiltgart von Hürnheim, Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des ‚Secretum secretorum‘. Berlin 1963. (Deutsche Texte des Mittelalters. 56.)
  • Pseudo-Aristoteles: Secretum secretorum cum glossis et notulis. Tractatus brevis et utilis ad declarandum quaedam obscure dicta Fratri Rogeri nunc primum edidit Robert Steele. Clarendon Press, Oxford 1920 (Opera hactenus inedita Rogeri Baconi. 5.) S. 25–172: online.
  • William Francis Ryan, Charles B. Schmitt (Hrsg.): Pseudo-Aristotle The Secret of Secrets. Sources and influences. London 1982. (The Warburg Institute Surveys and Texts. 9.)
  • Yela Schauwecker: Die Diätetik nach dem "Secretum secretorum" in der Version von Jofroi de Waterford: Teiledition und lexikalische Untersuchung.(Würzburger medizinhistorische Forschungen. 92.) Königshausen & Neumann, Würzburg 2007.
  • Heinrich Schipperges: Die Assimilation der arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter. Wiesbaden 1964. (Sudhoffs Archiv. Beihefte. 3.)
  • Joachim Telle: Aristoteles an Alexander über den philosophischen Stein. Die alchemischen Lehren des pseudo-aristotelischen ‚Secretum secretorum‘ in einer deutschen Versübersetzung des 15. Jahrhunderts. In: Josef Domes [u. a.] (Hrsg.): Licht der Natur. Medizin in Fachliteratur und Dichtung. Festschrift für Gundolf Keil zum 60. Geburtstag. S. 455–483. Kümmerle, Göppingen 1994. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 585.) ISBN 3-87452-829-4
  • Steven J. Williams: The Secret of Secrets: The Scholarly Career of a Pseudo-Aristotelian Text in the Latin Middle Ages. University of Michigan Press, Ann Arbor 2003 (online)
  • Mauro Zonta: Pseudo-Aristote, Secretum secretorum. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Supplément. CNRS Editions, Paris 2003. S. 648–651. ISBN 2-271-06175-X

Weblinks

Anmerkungen

  1. Hirth, Bearbeitungen, S. 41 ff.
  2. Keil, ‚Secretum secretorum‘, Sp. 993.
  3. Bernhard D. Haage, Wolfgang Wegner: ‚Secretum secretorum‘. 2005, S. 1314 (dort: „Kitāb as-Siyāsa fī tadbīr ar-riyasa al-ma’ruf bi-Sirrd-asrār“).
  4. Wolfgang Wegner: Philippus Clericus Tripolitanus. In: Enzyklopädie Medizingeschichte. 2005, S. 1150.
  5. Bernhard D. Haage, Wolfgang Wegner: ‚Secretum secretorum‘. 2005, S. 1314.
  6. Johannes Brinkmann: Die apokryphen Gesundheitsregeln des Aristoteles für Alexander den Großen in der Übersetzung des Johann von Toledo. Medizinische Dissertation, Leipzig 1914.
  7. Hirth, Secretum, S. 16 f.
  8. Hirth, Bearbeitungen, S. 40.
  9. Mario Grignaschi: La diffusion du „Secretum secretorum“ (Sirr-al-'Asrâr) dans l'Europe occidentale. In: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 55, 1980, S. 7–70.
  10. Gundolf Keil: Monatsregeln (Zwölfmonatsregeln, regimina duodecim mensium). In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1003 f.
  11. Vgl. Schipperges, Assimilation, S. 77.
  12. Wolfgang Wegner: Hildehard (Hiltgart) von Hürnheim. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005. S. 594. ISBN 3-11-015714-4.
  13. aus der Line vom Hohen Hause der schwäbischen Familie von Hürnheim
  14. Wolfgang Hirth: Die älteste deutsche „Sirr-al-Asrâr“-Überlieferung. Zur hoch- und spätmittelalterlichen Tradierung arabischer Diätetik. In: Medizinische Monatsschrift. Band 28, 1974, S. 495–501.
  15. Reinhold Möller (Hrsg.): Hiltgart von Hürnheim, Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des 'Secretum secretorum'. Berlin 1963. (Deutsche Texte des Mittelalters. 56).
  16. Gundolf Keil: Hildegard (Hiltgart) von Hürnheim.‘ In: Verfasserlexikon. 2. Auf., Bd. 4, Sp. 1–4, hier Sp. 1–3.
  17. Kurt Gärtner (1980).
  18. Wolfgang Wegner: Gernpaß (Michael). In: Enzyklopädie Medizingeschichte. 2005. S. 482.
  19. Friedrich Wurms: Studien zu den deutschen und den lateinischen Prosafassungen des pseudo-aristotelischen „Secretum secretorum“. Phil. Dissertation, Hamburg 1970. S. 129–133.
  20. Vgl. Hirth, Bearbeitungen, S. 54.
  21. Karin Häfner: Studien zu den mittelniederdeutschen Zwölfmonatsregeln (Medizinische Dissertation). Würzburg 1975 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 3).
  22. Ortrun Riha: Wissensorganisation in medizinischen Sammelhandschriften: Klassifikationskriterien und Kombinationsprinzipien bei Texten ohne Werkcharakter. Habilschrift [Würzburg 1990]. Wiesbaden 1992 (= Wissensliteratur im Mittelalter. Band 9), S. 140 f.
  23. Keil, ‚Secretum secretorum‘, Sp. 998 ff.
  24. Mario Grignaschi: L'Origine et les métamorphoses du „Sirr al-'asrar“. In: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge. Band 51, 1976, S. 7–112.
  25. Wolfgang Wegner: Lorchner, Johann. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 864.
  26. Gundolf Keil: ‚Secretum secretorum‘. Sp. 994.