Sekundenstil
Sekundenstil ist die Bezeichnung für eine in der epischen Dichtung des Naturalismus erstmals entwickelte Technik, deren Ziel die volle Deckungsgleichheit von Erzählzeit und erzählter Zeit war. Dabei wurden Sinneswahrnehmungen, Bewegungen oder Bildfolgen „sekundengenau“ erzählend registriert. Der Literaturhistoriker Adalbert von Hanstein prägte den Begriff erstmals Bezug nehmend auf die Studie Papa Hamlet von Arno Holz und Johannes Schlaf.
Die Entwicklung des Sekundenstils kann im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von Fonografie (Tonaufnahme) und Fotografie im ausgehenden 19. Jahrhundert gesehen werden. In erzählender Weise werden kleinste Bewegungen, Geräusche und optische Eindrücke zeitgetreu (sekundenweise) dargestellt. Jedes noch so banale Detail wird geradezu protokollarisch festgehalten, um beispielsweise dem natürlichen Sprechen möglichst nahezukommen: Stottern, Stammeln, Dialekt, Ausrufe, unvollständige Sätze, Atempausen, Nebengeräusche… So entsteht eine starke Annäherung zwischen der äußeren und der inneren Wirklichkeit und das Erzählte wirkt unmittelbarer und authentischer. Der Sekundenstil ist somit ein Schreibstil, der eine filmisch-dokumentarische Atmosphäre erzeugt und sich z. B. für die Darstellung eines Milieus besonders eignet.
Beispiel
Das folgende Beispiel ist der wohl berühmtesten Erzählung des Naturalismus, Bahnwärter Thiel, entnommen. Dabei entspricht die Erzählzeit der erzählten Zeit: die wiedergegebene Passage ist in etwa 20 Sekunden zu lesen und beschreibt einen Vorgang, der etwa 20 Sekunden dauert.
„Der Zug wurde sichtbar – er kam näher – in unzählbar sich überhastenden Stößen fauchte der Dampf aus dem schwarzen Maschinenschlote. Da: ein – zwei – drei milchweiße Dampfstrahlen quollen kerzengerade empor, und gleich darauf brachte die Luft den Pfiff der Maschine getragen. Dreimal hintereinander, kurz, grell, beängstigend. Sie bremsen, dachte Thiel, warum nur? Und wieder gellten die Notpfiffe schreiend, den Widerhall weckend, diesmal in langer, ununterbrochener Reihe.“
Einzelnachweise
- ↑ Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 6617, Reclam-Verlag, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-006617-1, S. 31.