Selina (Jean Paul)

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Jean Paul (1763–1825)

Selina ist das letzte Buch von Jean Paul, das der Autor am 27. April 1823 begann und nicht mehr vollenden konnte. Das Fragment gab sein Freund Christian Georg Otto[1] 1827 posthum unter dem Titel Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele heraus.[2] In dieser Fortsetzung der Erzählung Das Kampaner Tal, mit der sich Jean Paul seit 1814 beschäftigt hatte, setzte er die Thematik der Unsterblichkeit der Seele fort.[3]

Als der Dichter am 17. November 1825[4] in Bayreuth feierlich zu Grabe getragen wurde, lag auf seinem Sarg das „Selina“-Manuskript.[5]

Inhalt

Handlung

Die Figuren übernahm Jean Paul aus dem „Kampaner Tal“ aus dem Jahr 1797. Der Ich-Erzähler folgt im Jahr 1822 – also ein Vierteljahrhundert später – der Einladung von zwei guten alten Freunden nach dem Rittergut Falkenberg und dem benachbarten Schloss Wiana in Deutschland. Auf Rittergut Falkenberg lebt Rittmeister Karlson mit seiner Gattin, der Gräfin Josepha und den gemeinsamen, inzwischen erwachsenen Kindern Nantilde und Alexander. Der jüngere Sohn Henrion kämpft in Nauplia als Freiwilliger an der Seite der unterdrückten Griechen gegen die Türken. Selina, die Tochter des Barons Wilhelmi und Henrion sind ein Brautpaar. Beide verbindet ein Bund der Seelen. Henrion glaubt an die Unsterblichkeit der Seelen[6]. Als 14-Jährige hatte Selina ihre Mutter Gione verloren. Das junge Mädchen lebt beim Vater auf Schloss Wiana. Der Baron besitzt mehrere Dörfer und hat dem Rittmeister Karlson das Gut Falkenberg überantwortet. Sie ist eine begabte Malerin und hat auf Wunsch ihres Vaters den Bräutigam porträtiert.

Jean Pauls Argumente für die Unsterblichkeit werden den verschiedenen wissenschaftlichen und philosophischen Betrachtungen seiner Zeit entnommen. So folgt zum Beispiel auf die Frage „Was will... die ganze Schöpfung?“ eine lange Antwort des monologisierenden Fragestellers. Pauls Diskussionsgegner ist der Gesandtschaftsrat Alexander. Seine Variationen der These „Mit dem Tod ist alles aus“ dienen jedoch vorwiegend seinem Kontrahenten als Vorlagen für seine weitschweifigen Ausführungen,[7] die bei den Zuhörern mehrheitlich auf positive Resonanz stoßen. Hintergrund des Gesprächs ist nämlich die Sorge um Henrion und die Hoffnung auf ein Weiterleben seiner Seele nach seinem Tod. Alexanders Vater, der Rittmeister, und auch der Baron möchten Jean Paul als alte Freunde nicht widersprechen. Im Alter wollen sie an irgendein Weiterleben nach dem Tode glauben. Die Gräfin Josepha ist in der Hinsicht reservierter und wägt mehr ab. Der Rittmeister wünscht, Jean Paul möge Alexander im Glauben an die Unsterblichkeit der Seelen bestärken. Dem Gast gelingt das jedoch nicht.

Für Selina sind die Erklärungen Jean Pauls über die Unsterblichkeit der Seele ein großer Trost. Sie ist eine eifrige Jean-Paul-Leserin, beschränkt sich zumeist auf das Anhören der Dispute des Gastes mit den Gastgebern. Manchmal äußert sie aber auch knapp ihre Meinung zum jeweiligen Betreff.[A 1] Für das Mädchen ist die Mutter nicht gestorben. Gione erscheint ihr im Traum. Selina verfügt über magnetische Kräfte und mit Hilfe des hellseherischen „Selbermagnetismus“ erfährt sie im „Kunstschlummer“ von der Verwundung des Bräutigams. Henrion liegt tatsächlich in Marseille an einer Brustwunde darnieder.

Form

Verglichen mit dem „Kampaner Tal“ wurde die Poesie zurückgedrängt zugunsten der Rhetorik: „Die Kreuz- und Querzüge des Gesprächs“[8] mit Einbeziehung u. a. der Naturkunde[9] und der Philosophie[10] prägen große Teile der Diskussion Alexanders mit Jean Paul. Streckenweise überdeckt Jean Paul mit seinen „ruhigen unbefangenen, nur um Sachen bekümmerten Untersuchungen“[11] die Handlung und lockert den Vortrag nur gelegentlich durch Vergleiche auf – zum Beispiel mit den Betrachtungen über die Seelenwanderung von Zaunkönig in den Adler, in das Lamm und in die Nachtigall. Jean Paul weitet seine Betrachtungen auch auf die Seelenwanderung der Ehebrecherin, des Kindes im Mutterleib und des Professors der Geschichte und Thesen wie, Liebe, Trauer und Freude arbeiteten nicht im Kopf, sondern im Herz, aus.[12]

Rezeption

  • Der erste Herausgeber Christian Otto kategorisiert das Fragment 1827 als „philosophischen Roman“. De Bruyn formuliert „in Erzählung eingekleidete Dialoge“[13] und bei Ortheil[14] gehört es zu den „theoretisierenden Werken“. Zeller spricht von einer „philosophisch-poetischen Erörterung“ und weist auf die „kosmische“[15] Textstruktur hin: Die Kapitel heißen Merkur, Venus, Erde, Mars, Vesta, Juno, Ceres, Pallas und Jupiter.
  • Goltz[16] ist 1860 vom Humor Jean Pauls angetan: die Erde, ein großer Leichenwagen, der um die Sonne kreist.
  • Zeller wird mit Henrion an den Horion des Hesperus erinnert.[17] Selina bedeutet Mondgöttin. Auf dem Mond lebten die Seelen.[18]
  • Wie können wir Trost finden, wenn wir einen unserer Toten beklagen? In „Selina“ wird der Tod von Gione beklagt. Jean Paul ist sich nicht sicher. Gibt ein Blick in die Bibel oder ins Weltall Trost?[19] Doch eines stehe fest. Jeder Mensch brauche einen Gott.[20]
  • Nach Schulz[21] stirbt Henrion an seiner Verwundung. In der verwendeten Ausgabe ist von keinem Tod des jungen Kriegers die Rede.

Literarische Rezeption

Literatur

Textausgaben

Erstausgabe
Verwendete Ausgabe

Sekundärliteratur

  • Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Halle (Saale) 1975, ISBN 3-596-10973-6.
  • Peter Sprengel (Hrsg.): Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland. Beck. München 1980, ISBN 3-406-07297-6.
  • Hanns-Josef Ortheil: Jean Paul. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1984, ISBN 3-499-50329-8.
  • Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Teil 2. Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration: 1806–1830. München 1989, ISBN 3-406-09399-X.
  • Gert Ueding: Jean Paul. München 1993, ISBN 3-406-35055-0.
  • Annette Debold: Reisen bei Jean Paul. Studien zu einer real- und gattungshistorisch inspirierten Thematik in Theorie und Praxis des Dichters. Röhrig, St. Ingbert 1998, ISBN 3-86110-174-2.
  • Christoph Zeller: Allegorien des Erzählens. Wilhelm Raabes Jean-Paul-Lektüre. Metzler, Stuttgart 1999, ISBN 3-476-45218-2.

Weblinks

Anmerkungen

  1. Zum Beispiel sagt Selina über Gott: „Ist es nicht ein tröstlicher Gedanke, dieser verdeckte Reichtum in unserer Seele? Können wir nicht hoffen, daß wir unbewußt vielleicht Gott inniger lieben als wir wissen...?“ (Verwendete Ausgabe, S. 1189, 34. Z.v.o.) Oder: „Alle meine schönen Tage hast du mir aus deinem Himmel gesandt.“(Verwendete Ausgabe, S. 1198, 29. Z.v.o.) Überdies meint sie, Tote beten allein zu Gott. (Verwendete Ausgabe, S. 1203, 14. Z.v.o.)

Einzelnachweise

  1. Schulz, S. 365, 7. Z.v.o.
  2. Cotta Stuttgart und Tübingen, 1827, 2 Bde. Nur 9 von 12 geplanten Kapiteln waren fertig.
  3. Verwendete Ausgabe, S. 1319–1320
  4. Sprengel, S. 98 unten
  5. de Bruyn, S. 366, 3. Z.v.u.
  6. Verwendete Ausgabe, S. 1144, 11. Z.v.o.
  7. Verwendete Ausgabe, S. 1198, 23. Z.v.o.
  8. Verwendete Ausgabe, S. 1126, 9. Z.v.o.
  9. de Bruyn, S. 306, 14. Z.v.u.
  10. Debold, S. 98, 10. Z.v.u.
  11. Verwendete Ausgabe, S. 1216, 32. Z.v.o.
  12. Verwendete Ausgabe, S. 1176, 8. Z.v.o.
  13. de Bruyn, S. 359, 7. Z.v.o.
  14. Ortheil, S. 132, 10. Z.v.o.
  15. Zeller, S. 189, 2. Z.v.o.
  16. Sprengel, S. 184, 8. Z.v.o.
  17. Zeller, S. 188, Fußnote 58
  18. Zeller, S. 190
  19. Ueding, S. 183
  20. Schulz, S. 365, 16. Z.v.u.
  21. Schulz, S. 365, 17. Z.v.o.