Sinus-Milieus
Die Sinus-Milieus sind ein geschützter Markenname, unter dem die Gesellschafts- und Zielgruppen-Typologie des Sinus-Institut vermarktet werden[1]. Diese Milieu-Einteilung wurde Ende der 1970er Jahre[2] entwickelt und 2007 laut der Fachzeitschrift „media & marketing“ in Deutschland zu den bedeutendsten Ansätzen in der Zielgruppenforschung gezählt.[3]
Die Einteilung der Sinus-Milieus werden von verschiedenen Wissenschaftlern kritisiert.[4][5]
Gruppen
Die Sinus-Milieus gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln (vgl. Lebenswelt). Die Milieu-Einteilung erfolgt entlang zweier Dimensionen: „Soziale Lage“ (Unter-, Mittel- oder Oberschicht) und „Grundorientierung“ („Tradition“, „Modernisierung/Individualisierung“ und „Neuorientierung“). Grundlegende Wertorientierungen werden dabei ebenso berücksichtigt wie Alltagseinstellungen (zu Arbeit, Familie, Freizeit, Konsum, Medien etc.). Soziodemografische Variablen (Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen etc.) dienen der näheren Beschreibung der Milieus[6].
Die Sinus-Milieumodelle werden kontinuierlich an die soziokulturellen und sozialstrukturellen Veränderungen in den jeweiligen Gesellschaften angepasst. Das aktuelle Sinus-Milieumodell für Deutschland besteht aus diesen zehn Gruppen (Stand: 2021):
Milieu-Gruppen | Sinus-Milieu
(in Deutschland) |
Kurzbeschreibung | Bevölkerungsanteil (in %)
Deutschland 2021[7] |
---|---|---|---|
Leitmilieus | Konservativ-Gehobenes Milieu | Die alte strukturkonservative Elite: klassische Verantwortungs- und Erfolgsethik sowie Exklusivitäts- und Statusansprüche; Wunsch nach Ordnung und Balance; Selbstbild als Fels in der Brandung postmoderner Beliebigkeit; Erosion der gesellschaftlichen Führungsrolle | 11% |
Postmaterielles Milieu | Engagiert-souveräne Bildungselite mit postmateriellen Wurzeln: Selbstbestimmung und -entfaltung sowie auch Gemeinwohlorientierung; Verfechter von Postwachstum, Nachhaltigkeit, diskriminierungsfreien Verhältnissen und Diversität; Selbstbild als gesellschaftliches Korrektiv | 12% | |
Milieu der Performer | Die effizienzorientierte und fortschrittsoptimistische Leistungselite: globalökonomisches und liberales Denken; gesamtgesellschaftliche Perspektive auf der Basis von Eigenverantwortung; Selbstbild als Stil- und Konsum-Pioniere; hohe Technik- und Digital-Affinität | 10% | |
Zukunftsmilieus | Expeditives Milieu | Die ambitionierte kreative Bohème: Urban, hip, digital, kosmopolitisch und vernetzt; auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen, Lösungen und Erfolgen; ausgeprägte Selbstdarstellungskompetenz, Selbstbild als postmoderne Elite | 10% |
Neo-Ökologisches Milieu | Die Treiber der globalen Transformation: Optimismus und Aufbruchsmentalität bei gleichzeitig ausgeprägtem Problembewusstsein für die planetaren Herausforderungen; offen für neue Wertesynthesen: Disruption und Pragmatismus, Erfolg und Nachhaltigkeit, Party und Protest; Selbstbild als progressive Realisten; Umwelt- und klimasensibler Lebensstil | 8% | |
Moderner Mainstream | Adaptiv-Pragmatische Mitte | Der moderne Mainstream: Anpassungs- und Leistungsbereitschaft, Nützlichkeitsdenken, aber auch Wunsch nach Spaß und Unterhaltung; starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit; wachsende Unzufriedenheit und Verunsicherung aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung; Selbstbild als flexible Pragmatiker | 12% |
Konsum-Hedonistisches Milieu | Die auf Konsum und Entertainment fokussierte (untere) Mitte: Spaßhaben im Hier und Jetzt; Selbstbild als cooler Lifestyle-Mainstream; starkes Geltungsbedürfnis; berufliche Anpassung vs. Freizeit-Eskapismus; zunehmend genervt vom Diktat der Nachhaltigkeit und Political Correctness | 8% | |
Prekäres Milieu | Die um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht: Dazugehören und Anschlusshalten an den Lebensstandard der breiten Mitte – aber Häufung sozialer Benachteiligungen und Ausgrenzungen; Gefühl des Abgehängtseins, Verbitterung und Ressentiments; Selbstbild als robuste Durchbeißer | 9% | |
Traditioneller Mainstream | Nostalgisch-Bürgerliches Milieu | Die harmonieorientierte (untere) Mitte: Wunsch nach gesicherten Verhältnissen und einem angemessenen Status; Selbstbild als Mitte der Gesellschaft, aber wachsende Überforderung und Abstiegsängste; gefühlter Verlust gelernter Regeln und Gewissheiten; Sehnsucht nach alten Zeiten | 11% |
Traditionelles Milieu | Die Sicherheit und Ordnung liebende ältere Generation: verhaftet in der kleinbürgerlichen Welt bzw. traditionellen Arbeiterkultur; anspruchslose Anpassung an die Notwendigkeiten; steigende Akzeptanz der neuen Nachhaltigkeitsnorm; Selbstbild als rechtschaffene kleine Leute | 10% |
Die aktuellen Sinus-Milieumodelle für Österreich und die Schweiz bestehen ebenfalls aus zehn Gruppen (Stand: 2021):
Milieu-Gruppen | Sinus-Milieu | Bevölkerungsanteil (in %) | |
---|---|---|---|
Österreich 2021[8] |
Schweiz 2021[9] | ||
Sozial gehobene Milieus/
Gesellschaftliche Leitmilieus |
Konservative (AT)
Gehoben-Bürgerliche (CH) |
5 %* | 16 %* |
Etablierte (AT)
Arrivierte (CH) |
8 %* | 9 %* | |
Performer (AT/CH) | 8 % | 11 % | |
Digitale Individualisten (AT)
Digitale Kosmopoliten (CH) |
9 %* | 8 %* | |
Milieus der Mitte | Adaptiv-Pragmatische (AT/CH) | 12 % | 6 % |
Bürgerliche Mitte (AT/CH) | 14 % | 15 % | |
Postmaterielle (AT/CH) | 10 %* | 13 %* | |
Milieus der unteren Mitte/
Unterschicht |
Traditionelle (AT)
Genügsam Traditionelle (CH) |
12 % | 7 %* |
Konsumorientierte Basis (AT/CH) | 9 %* | 7 %* | |
Hedonisten (AT)
Eskapisten (CH) |
13 % | 9 %* | |
* Die unterschiedlichen Bezeichnungen der Milieus in den jeweiligen Ländern berücksichtigen länderspezifische Eigenheiten, daher sind die Zahlen der deutschen, österreichischen und schweizerischen Milieumodelle nur sehr eingeschränkt vergleichbar. |
Theoretischer Hintergrund
In den Sozialwissenschaften werden Milieus als Gruppen Gleichgesinnter mit ähnlichen Grundwerten und Prinzipien der Lebensführung verstanden, die sich durch erhöhte Binnenkommunikation und Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen auszeichnen[10].
Das Sinus-Milieumodell folgt der soziologischen Lebensstil-Interpretation, wie sie seit etwa Mitte der 1980er-Jahre auch von der akademischen sozialen Ungleichheitsforschung entwickelt worden ist. Dabei wird von folgender Überlegung ausgegangen: Gleiche sozioökonomische Lebensbedingungen produzieren offensichtlich ungleiche Lebensstile und Lebenswelten. Demnach ist die Unterschiedlichkeit von Lebensstilen für die Alltagswirklichkeit von Menschen vielfach bedeutsamer als die Unterschiedlichkeit sozioökonomischer Lebensbedingungen. Soziale Zugehörigkeit wird deshalb maßgeblich auf der Basis gemeinsamer Mentalitäten soziokulturell homogener Teilgruppen (Milieus) definiert.
Soziale Milieus machen jedoch die Berücksichtigung der sozialen Schicht nicht überflüssig. Eine radikale „Entkoppelung“ von objektiven und subjektiven Lebensbedingungen, also sozialer Schicht und sozialen Milieus, wird heute kaum mehr propagiert. Vielmehr geht man von einem Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit und sozialer Lage aus – es gibt Oberschicht-, Mittelschicht- und Unterschichtmilieus[11].
Methodik
Forschungsgegenstand der Sinus-Milieus ist die Lebenswelt einer Person, also die Gesamtheit der individuellen subjektiven (Alltags-)Wirklichkeit. Die Lebenswelt lässt sich objektiv nicht messen, sondern kann nur über das Alltagsbewusstsein eines Individuums erfasst werden.
Die Sinus-Milieus werden in einem ersten Forschungsschritt auf der Basis qualitativer Lebenswelt-Interviews entwickelt, die die wichtigsten soziodemografischen Segmente (nach Geschlecht, Alter, Bildung, Einkommen, Region etc.) abdecken. In dieser mehrstündigen Lebenswelt-Exploration stellen die Interviewpartner alle aus ihrer Sicht relevanten Lebensbereiche in ihrer eigenen Sprache dar. Auf Basis dieser Interviews werden fallübergreifende Kategorien bzgl. grundsätzlicher Lebenseinstellung und Lebensweise entwickelt und in ein hypothetisches Milieumodell überführt.
Danach erfolgen die quantitative Überprüfung und repräsentative Verallgemeinerung des Modells. Hierfür wird ein standardisiertes Fragebogen-Instrument zur Diagnose der Milieuzugehörigkeit entwickelt – ein sogenannter Milieu-Indikator. Ein solcher Indikator beinhaltet Statements, die die typischen Werthaltungen der einzelnen Milieus repräsentieren und damit auch die Grenzen zwischen den Milieus rekonstruierbar machen. Dabei haben sich Aussagen am besten bewährt, die Grundüberzeugungen der Befragten erfassen oder alltäglich wirksame Motive diagnostizieren und so eine maximale Differenzierungskraft zwischen den Milieus besitzen. Für jede Milieugruppe wird eine spezifische Verteilung von Antwortwahrscheinlichkeiten über alle Indikator-Items bestimmt (Normprofile). Die Milieuklassifikation erfolgt mit Hilfe einer speziell adaptierten Form der statistischen Clusteranalyse nach Ähnlichkeit der individuellen Antwortmuster mit dem Wahrscheinlichkeitsmodell.
Dieser iterative Prozess wird so lange durchgeführt, bis sich das theoretische Modell in ausreichendem Maß quantitativ verifizieren lässt[12].
Anwendung
Die Sinus-Milieus werden für eine Vielzahl von Fragestellungen seit Beginn der 1980er-Jahre von Unternehmen und Agenturen, aber auch von Ministerien, politischen Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen[13], Verbänden sowie der Wissenschaft für strategische Planung, Marken- und Kommunikationsstrategien sowie ferner für Produktentwicklung und Produktmanagement verwendet[14]. Der Begriff „Sinus-Milieus“ ist eine geschützte Marke.
Seit Ende der 1980er wird das Sinus-Milieumodell in den großen Markt-Media-Studien und TV- und Konsumenten-Panels eingebunden und wurde auch zunehmend in der akademischen Forschung aufgegriffen. Auch die Messung der Einschaltquote von Fernsehsendern in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird heutzutage standardmäßig mit den Sinus-Milieus verknüpft, d. h. alle Testzuschauer sind entsprechend klassifiziert worden und die Sender bieten entsprechende Auswertungen an[15].
Das Sinus-Milieumodell wurde für verschiedene Bereiche erweitert[16]:
- Sinus-Meta-Milieus
- Milieumodelle für über 40 Länder, bspw. für Schwellenländer
- Digitale Sinus Milieus
- Milieuverortung von Internet-Usern, bspw. für Online-Kampagnen
- Sinus-Milieus in der Microgeographie
- Anwendung der Sinus-Milieus im mikrogeographischen Raum, bspw. für Raumplanung und Direktmarketing
- Sinus-Jugendmilieus
- Untersuchung der Lebenswelten von Jugendlichen, bspw. in Jugendstudien 2008, 2012[17], 2016[18]
- Sinus-Migrantenmilieus
- Untersuchung der Lebenswelten von Migranten[19]
Literatur
- Florian Allgayer, Jochen Kalka (Hrsg.): Der Kunde im Fokus. Die wichtigsten Zielgruppen im Überblick – Milieus, Lebenswelten, Konsumenten. Redline Wirtschaftsverlag, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-86881-521-4.
- Bertram Barth, Berthold Bodo Flaig, Norbert Schäuble, Manfred Tautscher (Hrsg.): Praxis der Sinus-Milieus – Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-658-19334-8.
- Marc Calmbach, Berthold B. Flaig, Ingrid Eilers: MDG-Milieuhandbuch 2013. Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus, Heidelberg/München 2013, online.
- Rainer Diaz-Bone: Milieumodelle und Milieuinstrumente in der Marktforschung. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis, Band 26, Nr. 4, 2003, S. 365–380 online.
- Ersa Erdem: Community and Democratic Citizenship: A Critique of the Sinus Study on Immigrant Milieus in Germany. German Politics and Society, Band 31, Nr. 2, 2013, S. 93–107, JSTOR 43917443.
- Rolf Frankenberger, Siegfried Frech (Hrsg.): Soziale Milieus: Lebenswelten in Deutschland. 1. Auflage. Wochenschau Verlag, Schwalbach 2017, ISBN 978-3-7344-0501-3.
- Nico Hribernik: Birds of a Feather Flock Together: More Future-Orientation with Values-Based Segmentation. Research & Results, International Issue (2016/2017), 2016, S. 44–45.
- Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1992, ISBN 3-593-34615-X.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Vermarktungsprodukte des Sinus Instituts
- ↑ Heise Online vom 22. Oktober 2009
- ↑ Florian Allgayer, Jochen Kalka: Der Kunde im Fokus. Die wichtigsten Zielgruppen im Überblick – Milieus, Lebenswelten, Konsumenten. Redline Wirtschaftsverlag, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-636-01501-3, S. 7.
- ↑ Heise Online vom 22. Oktober 2009 „Glückliche Arbeitslose“ trafen die Wissenschaftler im Gegensatz zu den Sinus-Soziologen nirgends an.
- ↑ Humboldt-Universität zu Berlin 2005: "... ist es als Manko anzusehen, Menschen anhand von äußeren Merkmalen derart zu klassifizieren."
- ↑ Berthold Bodo Flaig, Bertram Barth: Die Sinus-Milieus® 3.0 – Hintergründe und Fakten zum aktuellen Sinus-Milieu-Modell. In: Zielgruppen im Konsumentenmarketing. Springer Gabler, Wiesbaden, 2014, S. 105–120, doi:10.1007/978-3-658-00625-9_8 (springer.com [abgerufen am 31. Juli 2017]).
- ↑ Sinus-Milieus Deutschland. Abgerufen am 30. September 2021.
- ↑ Integral Marktforschung. Abgerufen am 30. September 2021.
- ↑ Sinus-Milieus Schweiz. Abgerufen am 30. September 2021.
- ↑ Barth Bertram, Bodo Flaig Berthold: Was sind Sinus-Milieus®? In: Jugendliche Lebenswelten. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg, 2012, S. 11–35, doi:10.1007/978-3-8274-2971-1_2 (springer.com [abgerufen am 31. Juli 2017]).
- ↑ Bundeszentrale für politische Bildung: Soziale Milieus - eine praxisorientierte Forschungsperspektive | bpb. Abgerufen am 31. Juli 2017.
- ↑ Barth Bertram, Bodo Flaig Berthold: Was sind Sinus-Milieus®? In: Jugendliche Lebenswelten. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg, 2012, S. 11–35, doi:10.1007/978-3-8274-2971-1_2 (springer.com [abgerufen am 31. Juli 2017]).
- ↑ Robert Vehrkamp, Klaudia Wegschaider: Populäre Wahlen. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017. Bertelsmann Stiftung, abgerufen am 16. Oktober 2017.
- ↑ Referenzen. Abgerufen am 31. Juli 2017.
- ↑ familie redlich - familie redlich :systeme: Sinus-Milieus: AS&S. Abgerufen am 31. Juli 2017.
- ↑ SINUS-Lösungen. Abgerufen am 31. Juli 2017.
- ↑ Jugendliche Lebenswelten - Springer. doi:10.1007/978-3-8274-2971-1 (springer.com [abgerufen am 31. Juli 2017]).
- ↑ Marc Calmbach, Silke Borgstedt, Inga Borchard, Peter Martin Thomas, Berthold Bodo Flaig: Wie ticken Jugendliche 2016? - Springer. doi:10.1007/978-3-658-12533-2 (springer.com [abgerufen am 31. Juli 2017]).
- ↑ Bundeszentrale für politische Bildung: Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten | bpb. Abgerufen am 31. Juli 2017.