Sonia Mossé

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Nusch et Sonia
Man Ray, 1936

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Sonia Mossé (* 27. August 1917 in Paris; † 30. März 1943 in Lublin-Majdanek, Polen) war eine französische Künstlerin, Schauspielerin und Zeichnerin.

Biographie

Sonia Mossé war die Tochter von Emmanuel Mossé (1876–?), einem Anwalt am Pariser Berufungsgericht, und von Natasza Goldfain (1890–?). Ihre elf Jahre ältere Halbschwester Esther Levine (1906–1943) stammte aus der ersten Ehe ihrer Mutter mit dem schon 1915 verstorbenen Boris Levine. Ihr neun Jahre älterer Halbbruder Jean Joseph Mossé (1908–1995) stammte aus der ersten Ehe ihres Vaters mit Marguerite Icard. Diese Ehe wurde im April 1917 geschieden, kurz vor Sonia Mossés Geburt. Die standesamtliche Hochzeit von Emmanuel Mossé und Natasza Goldfain fand erst im März 1920 statt, zeitgleich mit der Anerkennung der Elternschaft der gemeinsamen Tochter. Über Sonia Mossés Schulzeit und Ausbildung ist nichts bekannt. Die Schauspielerin und Künstlerin inspirierte viele bekannte zeitgenössische Fotografen und Maler. Sie war jüdischer Abstammung und wurde 1943 zusammen mit ihrer Halbschwester Esther Levine im Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek ermordet.

Künstlerische Laufbahn

Einladungskarte zur Vernissage der Exposition internationale du surréalisme. Sie zeigt zum einen eine Fotografie von Enigmarelle, (einem falschen humanoiden Automaten), als auch die aufgelisteten Veranstaltungen wie u. a. Les plus belles rues de Paris (Die schönsten Straßen von Paris)
Plakat zur Internationalen Surrealismus-Ausstellung, das Sonia Mossé als teilnehmende Künstlerin anführt

In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen boten Theater, Malerateliers, Fotostudios, Modehäuser und Kabaretts jungen Frauen beispiellose Karrieremöglichkeiten. Sonia Mossé arbeitete und versuchte sich in vielen dieser künstlerischen Bereiche. So übernahm sie beispielsweise im März 1937 die Rolle der Renommée in Barraults Inszenierung von Cervantes’ Werk Numance am Pariser Théâtre Antoine.[1]

Als Mitglied der surrealistischen Bewegung um André Breton und Paul Éluard war Mossé eng mit Man Ray, Raoul Ubac und Antonin Artaud verbunden. Ihre blonde und sommerliche Schönheit inspirierte sowohl die Fotografen Man Ray, Juliette Lasserre und Wols, als auch die Maler Alberto Giacometti, Balthus und André Derain, für die sie Modell saß.[2]

Ihre Freundschaft zu Nush Éluard wurde 1936 von Man Ray in einem Porträt festgehalten,[3] das heute zu seinen bekanntesten Arbeiten zählt und auf dem Einband zahlreicher Bildbände seiner Werke zu sehen ist.

1938 nahm Sonia Mossé an der Internationalen Surrealisten-Ausstellung in Paris teil. Diese fand vom 17. Januar bis zum 24. Februar in der Galerie Beaux-Arts von Georges Wildenstein in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré statt. Sonia Mossé schuf einen weiblichen Mannequin, dessen Haupt mit einem schwarzen Trauerschleier bedeckt war, der bis zu den Füßen reichte. Auf den Lippen der Puppe thronte eine große, dunkle Käferattrappe. In ihrem Bauchnabel saß ein kleiner Skorpion. Der nackte Körper war spärlich mit Seerosen und weiteren Käfern bedeckt, und zwischen ihren Beinen ragte der Kelch einer Calla-ähnlichen Blüte empor – „die einzige Mannequin-Künstlerin hat damit auch die einzige dezidiert phallische Interpretation des Puppengeschlechts im engeren Sinn vorgenommen.“[4] Im betitelten Ausstellungsbereich Les plus belles rues de Paris wurde dieser Mannequin zusammen mit anderen Schaufensterpuppen, unter anderem von André Breton, André Masson, Yves Tanguy, Hans Arp, Wolfgang Paalen, Marcel Duchamp und Salvador Dalí, ausgestellt.[3] Die ausgestellten Mannequins wurden von Denise Bellon,[5] Raoul Ubac, Pierre Jahan, Gaston Paris und Georg Reisner dokumentiert. Man Rays Aufnahmen zur Ausstellung erschienen 1966 in limitierter Auflage unter dem Titel Résurrection des mannequins.[6][7]

“In stark contrast, the surrealists did feature one mannequin designed by a female artist, Sonia Mossé. Mossé’s mannequin, quasi-nude, appears to be wearing a funeral veil in place of a wedding veil for the consummation of a marriage, implying that the institution signifies literal bondage. Similar associations of the female mannequin and automatism ensue.”

„Im scharfen Kontrast stellten die Surrealisten eine Schaufensterpuppe aus, die von einer Künstlerin, Sonia Mossé, entworfen worden war. Mossés Schaufensterpuppe, die quasi nackt ist, scheint einen Trauerschleier anstelle eines Brautschleiers für den Vollzug einer Ehe zu tragen, was impliziert, dass diese Institution buchstäblich Fesselung bedeutet. Ähnliche Assoziationen mit der weiblichen Schaufensterpuppe und dem Automatismus ergeben sich.“

Lauren Walden, University of Coventry, UK[8]

Kurz vor Silvester 1938 eröffnete Mossé mit Michelle Lahaye und der Sängerin und Schauspielerin Agnès Capri das Kabarett Chez Agnès Capri.[9] Unterstützt wurden sie von Francis Picabia, Max Ernst, Alberto Giacometti, Jean Cocteau, Balthus, André Derain und Moise Kisling, die zur Finanzierung Gemälde und Zeichnungen zur Verfügung stellten.[10] Die Inneneinrichtung des Kabaretts hatte Mossé entworfen.[11] Suzy Solidor, Charles Trenet und auch Jacques Prévert sorgten auf der kleinen Bühne mit ihren Liedern für eindrucksvolle Abende.[12] Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und Paris von den Deutschen Truppen besetzt wurde, schloss das Kabarett, und Sonia Mossé sowie Agnès Capri waren gezwungen, die französische Hauptstadt zu verlassen. In einem ihrer Briefe an Sartre schrieb Simone de Beauvoir über eine zufällige Begegnung mit Sonia Mossé:

« A cette terrasse avaient émigré les gens du Flore et je me suis assise juste derrière Sonia et Agnès Capri; elles étaient beaucoup moins fringantes qu’avant; à présent elles ne pensaient plus qu’à foutre le camp sur Nice: «Je ne peux pas repasser une nuit pareille», disait Sonia; et elles faisaient fébrilement des calculs d’argent. »

„Auf diese Terrasse waren die Leute vom Flore gezogen, und ich hatte mich direkt hinter Sonia und Agnès Capri gesetzt; sie waren viel weniger flott als früher; jetzt dachten sie nur noch daran, nach Nizza abzuhauen: „Eine solche Nacht kann ich nicht nochmal überstehen“, sagte Sonia; und sie stellten fieberhaft Geldberechnungen an.“

Simone de Beauvoir: Brief vom 8. September 1938, Lettres à Sartre, Gallimard, 1990[13]

Die Gründe, warum Mossé dennoch nach Paris zurückkehrte, sind nicht bekannt. Das Tragen des Judensterns wurde am 19. September 1941[14] mit der Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden in Paris in Kraft gesetzt. Dies führte zur sozialen Ausgrenzung, Diskriminierung und Demütigung der jüdischen Bevölkerung. Der Judenstern war somit auch in Paris eine öffentlich sichtbare Maßnahme zur Vorbereitung des Holocaust. Sonia Mossé soll den gelben Stern nicht getragen haben und frequentierte weiterhin die für jüdische Bürger verbotenen Cafés.[15]

Deportation und Ermordung

Es ist nicht klar, ob Sonia Mossé im Februar 1943 von der französischen Polizei oder von der Gestapo festgenommen wurde, aber wahrscheinlich ging dem eine Denunziation voraus. Sie wurde im Sammellager Drancy bei Paris interniert und am 25. März 1943 zusammen mit ihrer Halbschwester Esther Levine im Konvoi 53 von Drancy in das polnische Lager Sobibor deportiert.[16] Sonia Mossé wurde schließlich am 30. März 1943 im Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek ermordet.

Außer den Fotos ihres surrealistischen Mannequins aus dem Jahr 1938 ist kein weiteres ihrer Werke erhalten geblieben.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ce soir: grand quotidien d'information indépendant / directeur Louis Aragon; directeur Jean Richard Bloch. 26. April 1937, abgerufen am 27. Mai 2022 (französisch).
  2. Michèle Pellevillain: Derain, Balthus, Giagometti – MAM Paris – Juillet 2017. Abgerufen am 27. Mai 2022 (französisch).
  3. a b Clément Chéroux (Hrsg.): Man Ray Portraits: Paris, Hollywood, Paris; aus dem Man Ray-Archiv im Centre Pompidou Paris. Schirmer/Mosel, München 2011, ISBN 978-3-8296-0503-8, S. 199 (Link zum Bild).
  4. Ringvorlesung Avantgarden der Kunst und Literatur: Surrealismus, Kunstkörper, Fotografie. In: homepage.ruhr-uni-bochum.de. 1. Dezember 1999, abgerufen am 14. Juli 2022.
  5. akg-images, Berlin. Abgerufen am 23. Juni 2022.
  6. Resurrection des Mannequins (The J. Paul Getty Museum Collection). Abgerufen am 22. Juni 2022 (englisch).
  7. L'Exposition surréaliste de 1938 (Graphic Arts). 18. September 2010, abgerufen am 22. Mai 2022 (englisch).
  8. Lauren Walden: From the Rue des Nations to the Rue aux Lèvres. The 1938 International Surrealist Exhibition Parody of the 1889 and 1900 World Fair Cityscapes. In: MDCCC 1800. Band 6. Fondazione Università Ca’ Foscari, Venezia Juli 2017, S. 9–18, hier S. 15, doi:10.14277/2280-8841/MDCCC-6-17-1 (englisch, Volltext [PDF]).
  9. Confédération générale du travail (France): Le Peuple: organe quotidien du syndicalisme. 3. Januar 1939, abgerufen am 12. Juni 2022 (französisch).
  10. Ce soir: grand quotidien d'information indépendant / directeur Louis Aragon; directeur Jean Richard Bloch. 13. Dezember 1938, abgerufen am 22. Mai 2022 (französisch).
  11. Excelsior: journal illustré quotidien: informations, littérature, sciences, arts, sports, théâtre, élégances. 20. Dezember 1938, abgerufen am 23. Mai 2022 (französisch).
  12. Confédération générale du travail (France) Auteur du texte: Le Peuple: organe quotidien du syndicalisme. 3. Januar 1939, abgerufen am 22. Mai 2022 (französisch).
  13. Simone de Beauvoir: Lettres à Sartre. 1930–1939. Gallimard, Paris 1990, S. 94 (französisch, online).
  14. Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden (1941). Abgerufen am 25. Mai 2022.
  15. med médiène: Man Ray, Dora Maar – Les plaisirs et la mort de Sonia Mossé et Nusch Eluard. Abgerufen am 17. Mai 2022 (französisch).
  16. - Mémorial de la Shoah. Abgerufen am 23. Mai 2022 (französisch).
  17. a b Anne Baldassari: Picasso: love and war, 1935–1945. Paris: Flammarion, 2006, ISBN 978-2-08-030521-3 (englisch, archive.org [abgerufen am 12. Juni 2022]).