Staatsterrorismus

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Staatsterrorismus bezeichnet Gewaltakte gegen eine politische Ordnung unterhalb der Schwelle eines Krieges, die als terroristisch bewertet werden und in die ein (anderer) souveräner Staat involviert ist.[1] Ob eine staatlich geförderte Gewalttat als terroristisch betrachtet wird, hängt stark vom politischen Kontext sowie von der politischen Perspektive ab, so dass der Begriff letztlich nicht eindeutig definiert ist und unterschiedliche Sachverhalte bezeichnen kann. So können Guerillakämpfer, die aus Sicht eines Landes Freiheitskämpfer sind, aus anderer Perspektive Terroristen darstellen und deren Unterstützung somit als Staatsterrorismus angesehen werden.[1]

Einige Länder fordern seit langem vergeblich die Aufnahme des Begriffs des Staatsterrorismus als Tatbestand ins Völkerrecht. Die Vereinten Nationen konnten dazu bisher keine Einigung erzielen. Der ehemalige Generalsekretär Kofi Annan äußerte dazu, Terrorismus sei als Straftatbestand im internationalen Recht bereits ausreichend definiert und sanktioniert, daher sei der zusätzliche Tatbestand des Staatsterrorismus unnötig.[1]

Wie beim Stammbegriff des Terrorismus selbst gibt es aus den oben angeführten Gründen weder eine allgemein akzeptierte wissenschaftliche noch politische oder juristische Definition des Begriffs.

Nicht zu verwechseln ist der Staatsterrorismus mit dem philosophischen Begriff Staatsterror.

Ebenfalls ist die Ausübung von Terrorakten durch Staaten abzugrenzen von der staatlichen Unterstützung von Terrorismus.

Definition des Staatsterrorismus von Noam Chomsky

Noam Chomsky publizierte zu diesem Thema, wobei er definitorisch die staatlich-offiziellen Definitionen von Terrorismus übernahm und diese reflektorisch auf das eigene staatliche Handeln anwendete, um die damit zusammenhängende Doppelmoral bzw. Doppelbegrifflichkeit („Gegenterror“, „Konflikte niederer Intensität“, „Aufstandsbekämpfung“)[2] auf ihren Widerspruch zu führen: „Problematisch an den offiziellen Definitionen von ‚Terror‘ und ,Terrorismus' ist weiterhin, dass sich aus ihnen zwingend ergibt, die USA als führenden terroristischen Staat zu begreifen.“ (Chomsky)[3] Auf diese Weise kürzt Chomsky die oben angesprochene Abhängigkeit und Relativierung der Begriffsbildung von Kontext und Perspektive heraus und kann den Begriff damit trennscharf anwenden.

Beispiele

Iran

Mykonos-Attentat

Am 17. September 1992 wurden vier Exilpolitiker der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK-I) im Auftrag des iranischen Geheimdienstes im Mykonos-Restaurant in Berlin erschossen. Sie waren auf Einladung des damaligen SPD-Vorsitzenden Björn Engholm zu Gast. Die Staatsanwaltschaft konnte den Iraner Kazem Darabi und drei libanesischen Helfer als Täter ermitteln, die im Auftrag des iranischen Staates gehandelt haben sollen.[4]

Vereitelter Anschlag in Frankreich

Im Jahr 2018 vereitelte die belgische Polizei einen Anschlag auf eine Veranstaltung des Nationalen Widerstandsrat des Iran bei der 25.000 Gäste teilgenommen hatten. Unter den Gästen der Veranstaltung befanden sich auch der Trump-Vertraute Rudy Giuliani sowie weitere US-amerikanische und europäische Politiker. Die Täter wurden mit Sprengstoff im Auto von Spezialeinheiten der Polizei in Brüssel gestoppt, bevor sie den Anschlag durchführen konnten.[5] Als Drahtzieher hinter dem Anschlag wurde der iranische Ex-Botschafter in Wien Assadollah Assadi ermittelt, der im Sommer 2018 auf einer bayerischen Autobahn festgenommen wurde. Im Februar 2021 wurde Assadi in Belgien zu zwanzig Jahren Haft verurteilt.[6]

Libyen

Libyen förderte in den 1970er und 1980er Jahren palästinensische Terrorgruppen, die es als Freiheitskämpfer im Kampf gegen Israel ansah, was von der westlichen Welt als Staatsterrorismus bewertet wurde.

In der Nacht vom 4. auf den 5. April 1986 wurde ein Bombenanschlag auf die Berliner Diskothek La Belle, bei dem 3 Menschen ums leben kamen. Bereits am Tag nach dem Anschlag beschuldigte US-Präsident Ronald Reagan den libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi, das Attentat angeordnet zu haben, da die USA im Rahmen der Operation Rubikon die verschlüsselte Kommunikation der libyschen Botschaft mitlesen konnte.

Operation Condor

Bei der Operation Condor in den 1970er Jahren arbeiteten Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay, Bolivien und Brasilien mit Unterstützung der Vereinigten Staaten zusammen, um gemeinsam Oppositionelle zu verfolgen und zu ermorden.

Algerien

Habib Souaïdia, Offizier einer algerischen Antiterroreinheit, warf 2001 der algerischen Regierung Staatsterrorismus vor.[7] Sie habe während des Bürgerkriegs der 1990er Jahre, in dem nach Schätzungen von Amnesty International bis zu 200.000 Menschen starben,[8] unter strengster Geheimhaltung einen „schmutzigen Krieg“ gegen die eigene Bevölkerung geführt. Offiziell führte die Regierung Krieg gegen islamistische Terrorgruppen, die Terroranschläge gegen Soldaten und Zivilisten begingen. Laut Souaïdia seien jedoch an zahlreichen Massakern an der Zivilbevölkerung Militärangehörige zumindest beteiligt gewesen, und er sei selbst Zeuge gewesen, wie Geheimagenten des Staates getarnt Terroranschläge gegen Zivilisten verübten, für die dann offiziell und fälschlich die islamistischen Terroristen verantwortlich gemacht worden seien.[9][10][11] Laut anderen Zeugen aus den Geheimdiensten sei die Führungsspitze der größten Terrorgruppe Groupe Islamique Armé (GIA – übersetzt: „Bewaffnete islamische Gruppe“) von Agenten der algerischen Geheimdienste unterwandert gewesen, und die Geheimdienste hätten selbst neue terroristische Gruppen gebildet, die dann „völlig außer Kontrolle geraten“ seien.[9][10] Die algerische Regierung ließ Souaidia, der ins Exil nach Frankreich gegangen war, im Jahr 2002 für seine Aussagen in Abwesenheit zu 20 Jahren Gefängnis verurteilen. Seine auch von anderen Zeugen[10] in ähnlicher Form bestätigten Vorwürfe wurden nie offiziell untersucht.[11] Stattdessen wurde dem Volk im Jahr 2005 eine Generalamnestie für die Verbrechen aller Konfliktparteien zur Abstimmung vorgelegt, die jegliche Verantwortung der Staatsorgane für schwere Menschenrechtsverletzungen verneinte und deren gerichtliche Aufklärung verhindert.[8]

Frankreich

Von 1956 bis 1960 verübte die Rote Hand in der Bundesrepublik Deutschland diverse Sprengstoffanschläge und Morde auf bzw. an Mitgliedern und Sympathisanten der algerischen Untergrundorganisation FLN. Spektakulärster Anschlag war die Versenkung des Bremer Frachter Atlas am 2. Oktober 1958 im Hamburger Hafen. Die Delikte wurden bis in die Gegenwart (2017) nie aufgeklärt.

Das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior wurde am 10. Juli 1985 von Agenten des französischen Service Action im neuseeländischen Auckland versenkt.

Russland

Im Mai 2015 kaperte mutmaßlich eine Einheit des russischen Militärgeheimdienstes GRU insgesamt 14 Server des Deutschen Bundestags und erbeutete Daten im Volumen von 16 Gigabyte. Die Bundesregierung geht bei dem Großangriff von einer durch Russland gesteuerten Aktion aus. IT-Experten konnten Indizien dafür sammeln, dass ein Sofacy Group (auch „Fancy Bear“ und „APT28“) genanntes Hackerkollektiv den Angriff initiierte.

Am 23. August 2019 wurde der zu dieser Zeit in Deutschland asylsuchende Selimchan Changoschwili im Kleinen Tiergarten des Berliner Ortsteils Moabit mutmaßlich im Auftrag des russischen Geheimdienstes FSB erschossen.

Am 20. August 2020 wurde der russische Oppositionsführer Alexei Nawalny durch FSB-Mitarbeiter in Tomsk vergiftet. Später wurde bekannt, dass dieselbe FSB-Einheit Anschläge auf andere Aktivisten und Politiker wie Wladimir Kara-Mursa beging.

Belarus

Am 23. Mai 2021 wurde Ryanair-Flug 4978 zwangsweise nach Minsk umgeleitet um einen regimekritischen Journalisten und seine Freundin festzunehmen.

Literatur

  • Thomas Riegler: Terrorismus. Akteure, Strukturen, Entwicklungslinien. StudienVerlag, Innsbruck 2009, ISBN 978-3-7065-4604-1 (Online-Version als PDF).
  • Paul Wilkinson: Can a State be “Terrorist”. In: International Affairs. Bd. 57, 1981, Nr. 3, S. 467–472 (PDF).
  • Alexander L. George (Hrsg.): Western State Terrorism. Polity Press, Cambridge 1991, ISBN 0-7456-0931-7.
  • Walter Laqueur: The New Terrorism: Fanaticism and the Arms of Mass Destruction. Oxford University Press, Oxford 1999, Kapitel State Terrorism, S. 156–182 (Vorschau).
  • Philipp H. Schulte: Terrorismus und Anti-Terrorismus-Gesetzgebung. Eine rechtssoziologische Analyse (= Kriminologie und Kriminalsoziologie. Bd. 6). Waxmann, Münster 2008 (zugleich Dissertation, Universität Münster, 2008), S. 25–28 und S. 46–48.
  • Tobias O. Keber: Der Begriff des Terrorismus im Völkerrecht (= Öffentliches und Internationales Recht. Bd. 10). Peter Lang, Frankfurt am Main 2009 (zugleich Dissertation, Universität Mainz, 2008), S. 6.
  • Richard Jackson, Eamon Murphy, Scott Poynting: Contemporary State Terrorism: Theory and Practice. Routledge, Abingdon, New York 2010 (Vorschau).
  • Gillian Duncan, Orla Lynch, Gilbert Ramsay, Alison M. S. Watson: State Terrorism and Human Rights: International Responses since the End of the Cold War. Routledge, London, New York 2013 (Vorschau).
  • Bettina Koch: Johannes von Salisbury und die Nizari Ismailiten unter Terrorismusverdacht. Zur kritischen Bewertung eines Aspekts in der aktuellen Terrorismusdebatte. In: Zeitschrift für Rechtsphilosophie. 2/2013, S. 18–38 (Vorschau).
  • Bettina Koch: State Terror, State Violence: Global Perspectives (= State – Sovereignty – Nation.). Springer VS, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-658-11180-9 (Vorschau).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Michael Lind: The Legal Debate is Over: Terrorism is a War Crime. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Financial Times. Ehemals im Original; abgerufen am 6. November 2016.@1@2Vorlage:Toter Link/www.ft.com (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  2. z. B. Noam Chomsky: Hybris. Piper, 2006, ISBN 3-492-24654-0, S. 225 ff.
  3. Noam Chomsky: Hybris. Piper, 2006, ISBN 3-492-24654-0, S. 227
  4. Susanne Memarnia: Als der Iran seine Mörder schickte. In: taz. 16. September 2017, abgerufen am 7. April 2021.
  5. Belgische Polizei verhindert Anschlag auf Exil-Iraner in Frankreich. In: Deutsche Welle. 2. Juli 2018, abgerufen am 13. Juni 2021.
  6. Belgisches Gericht verurteilt iranischen Diplomaten wegen Anschlagsplan. In: Reuters. 4. Februar 2021, abgerufen am 13. Juni 2021.
  7. Habib Souaïdia: Schmutziger Krieg in Algerien. Bericht eines Ex-Offiziers der Spezialkräfte der Armee (1992–2000). Übersetzung aus dem Französischen. Chronos-Verlag, Zürich 2001, S. 199–201.
  8. a b Amnesty International Algerien.
  9. a b „Wenn sich die Männer des DRS den Bart wachsen liessen, wusste ich, dass sie sich auf einen ‚schmutzigen Auftrag‘ vorbereiteten, bei dem sie sich als Terroristen ausgaben.“ Habib Souaïdia: Schmutziger Krieg in Algerien. Bericht eines Ex-Offiziers der Spezialkräfte der Armee (1992–2000). Übersetzung aus dem Französischen. Chronos, Zürich 2001, S. 113.
  10. a b c Djamel Benramdane: Algeriens schmutziger Krieg. Geheimdienstler packen aus. (Memento des Originals vom 4. Juni 2008 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.eurozine.com In: Le Monde Diplomatique, 18. März 2004. Abgerufen am 11. November 2017.
  11. a b Ali Al-Nasani: Das alltägliche Massaker. In: Zeit Online, Oktober 2002. Abgerufen am 11. November 2017.