Der stille Don

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Roman in der Zeitschrift Roman-gazeta, 1928

Der stille Don (russisch Тихий Дон) ist das Hauptwerk des Schriftstellers Michail Scholochow und einer der bedeutendsten Romane der sowjetischen Literatur. Scholochow erhielt für das Werk 1965 den Nobelpreis für Literatur.

Inhalt

Der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution sowie der darauffolgende Aufstand der Weißen gegen die Rote Armee bilden den geschichtlichen Hintergrund des Romans.

Vor diesem entfaltet sich die Lebensgeschichte des Donkosaken Grigori Melechow. In seiner Jugend verliebt sich Melechow in Aksinja, die Frau seines Nachbarn Stepan Astachow. Nachdem er mit Natalja verheiratet wurde, flüchtet er mit Aksinja, kehrt aber, nachdem diese ihn betrog, zu Natalja zurück und zeugt mit ihr zwei Kinder. Zu dieser Zeit kämpft er bereits als Soldat im Ersten Weltkrieg, den er trotz mehrfacher Verwundung überlebt. Später schließt er sich den Bolschewiki an, die er jedoch nach kurzer Zeit wieder verlässt. Melechow sehnt sich nach einem friedlichen Kosakenleben, wird jedoch bald wieder vom Krieg eingeholt und kämpft auf Seite der Weißen gegen die Rote Armee. Aufgrund seines Mutes und seiner Kampferfahrung erreicht er den Offiziersrang. Melechow kann sich jedoch nicht mit den politischen Zielen der Weißen identifizieren. Doch auch den Roten fühlt er sich nicht zugehörig. Er sitzt „zwischen zwei Stühlen“. Nachdem die Weißen vernichtet wurden, bleibt ihm aber nichts anderes übrig, als den Roten zu dienen. Er kämpft kurz an der polnischen Front.

Zu dieser Zeit hat er, nachdem er sein Verhältnis zu Aksinja erneuerte, seine Frau Natalja bereits durch eine misslungene Abtreibung verloren. Auch sein Vater, die Schwägerin, sein Bruder Petro und zahlreiche Verwandte und Freunde sind bereits gestorben. Von Aksinja wird er immer wieder getrennt, und als er schließlich, nach Ausschluss aus der Roten Armee, zu ihr zurückkehrt, muss er erfahren, dass auch seine Mutter verstorben ist und seine Schwester Dunja sich mit seinem ehemaligen Freund, dem überzeugten Bolschewiken Michail, verheiratet hat. Michail, voller Hass auf die Weißen, zwingt den ehemaligen Rittmeister Melechow, sich vor den Bolschewiki für seine Tätigkeiten in der Weißen Armee zu verantworten.

Melechow ahnt, dass dies seinen Tod bedeuten könnte, und verlässt seinen Heimatort. Er schließt sich schweren Herzens einer Räuberbande an, die schon bald von Schwadronen der Roten Armee zerschlagen wird. Nachdem er sich auf einer Insel versteckt hielt, wagt er eine kurze Heimkehr, um Aksinja zu holen und mit ihr zu flüchten. Auf dieser Flucht wird Aksinja jedoch erschossen, und Grigori Melechow, von der Sehnsucht nach seinen Kindern geplagt, legt alle Waffen ab und kehrt zurück in den heimatlichen Chutor.

Das Ende des Romans bleibt weitgehend offen. Melechow findet seinen Sohn, der ihm erzählt, dass die Tochter verstorben und der gefährliche Schwager Michail an der Front ist. Vater und Sohn nehmen sich in den Arm.

Stil

Das Werk gilt als ein klassisches Beispiel für den Sozialistischen Realismus. Ansätze zu avantgardistischem Schreiben, die sich in den ersten beiden Büchern noch zeigen (Zitate aus der Wirklichkeit, ungewöhnliche Metaphern, Verwendung von Ausdrücken auf niedrigem Sprachniveau), weichen bald einer konservativen Darstellung, die sich am Realismus der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts orientiert. Der oft abrupte Wechsel von ruhiger zu beschleunigt-dramatischer Darstellung, von einem tragischen zu einem komischen Ton machen den Roman abwechslungsreich. Scholochow verzichtet auf Kommentare eines allwissenden Erzählers und auf Innere Monologe seiner Protagonisten und stellt – oft in Dialogen und szenischen Darstellungen – allein deren Handlungen dar, was eine moralische Typisierung erschwert.[1]

Plagiatsvorwurf

Lange Zeit war die Autorschaft des Romans Der stille Don umstritten; es wurde vielfach angenommen, dass Scholochow den Text plagiiert habe. Verstärkt wurde der Eindruck dadurch, dass Scholochow nichts oder nur wenig tat, um den Vorwürfen zu entgegnen und Fragen zu klären. Als Indizien wurden angeführt: starke weltanschauliche Differenzen zwischen dem streng linientreuen Kommunisten Scholochow und seinem Text, die relative Belanglosigkeit seiner anderen, stilistisch stark abweichenden Werke, das Fehlen von Manuskripten des Romans, die Weigerung Scholochows, Quellen für seine außergewöhnlich präzisen historischen Angaben vorzulegen, und die Existenz eines Amateurfilms aus dem Jahr 1975, auf dem festgehalten ist, wie Scholochow, direkt mit den Plagiatsvorwürfen konfrontiert, zusammenbricht und äußert: „Sagen Sie bitte Ataman Glaskow, wie sehr ich mich schäme. Ich bitte die Kosaken, mir zu verzeihen.“[2]

Bereits 1928, bei der Veröffentlichung des ersten Teils des Stillen Don, begannen Gerüchte zu zirkulieren, dass es sich bei dem Werk um ein Plagiat handle. Wie es scheint, waren diese Vorwürfe auf militärische Funktionäre zurückzuführen, die so der im Roman enthaltenen Darstellung der brutalen Unterdrückung der Kosaken durch die Rote Armee entgegenzutreten versuchten. 1929 unterbrach die Redaktion des „Oktober“, in dem Der stille Don seit einigen Jahren erschien, die Veröffentlichung bis zur Klärung der Vorwürfe. Die erfolgte noch im selben Jahr, und die Prawda nannte die Gerüchte „bösartige Verleumdungen, verbreitet durch Feinde der Diktatur des Proletariats“.[3]

Zu den Vorwürfen wurde nicht weiter publiziert, bis der russische Historiker Roi Medwedew sie unter Zuhilfenahme neuer Fakten 1966 erneuerte[4] und die Theorie einer „doppelten Autorschaft“ entwarf. Scholochow sei nur für fünfzehn bis zwanzig Prozent des Textes verantwortlich, basierend vor allem darauf, dass Scholochow als 23-Jähriger „zu jung war, als dass er ein so reifes Werk hätte verfassen können“. Gestärkt wurden diese Vorwürfe durch ein anonymes Pamphlet, das 1974 in Paris mit einem Vorwort von Alexander Solschenizyn erschien. Nach seiner Darstellung war der Autor des Stillen Don Fjodor Krjukow, ein 1920 verstorbener weißgardistischer Offizier. Da dieser politisch „persona non grata“ war, sei das Manuskript, das auf ungeklärten Wegen zum Schriftstellerverband der Sowjetunion gelangt war, bis zu Scholochow als politisch opportunem Autor durchgereicht worden, der dann als Strohmann diente, um das außergewöhnliche Werk in der Sowjetunion zugänglich zu machen.

1982 erschien eine computergestützte Textanalyse von German Jermolajew, die jedoch zum entgegengesetzten Ergebnis kam und konstatierte, dass Scholochow als der einzige Autor des Stillen Don anzusehen sei;[5] diese Ergebnisse wurden in einer ähnlichen Analyse 1984 von Geir Kjetsaa bestätigt, der zu dem Schluss kam, dass „mathematische Statistiken es uns erlauben, die Möglichkeit auszuschließen, dass Krjukow den Roman geschrieben hat, Scholochow hingegen als Autor nicht ausgeschlossen werden kann.“[6] Medwedew wurde 2005 nach einer statistischen Analyse des Textes durch Anatolij Fomenko dagegen bestätigt.[7]

Der Fund von über zweitausend Manuskriptseiten des Stillen Don 1987 hat die Wende bestärkt; eine Fremdautorschaft oder auch nur eine doppelte Autorschaft wurde danach kaum noch vermutet.[8]

2006 wurde jedoch der Betrugsverdacht von Felix Philipp Ingold erneut erhoben. Er gelangte zu dem Schluss, mittlerweile herrsche „so gut wie Gewissheit“, dass es sich um „ein zusammengestohlenes Kompilat“ handele. Offenkundig sei Scholochow, „seiner öffentlichen Glorifizierung als ‚proletarischer Tolstoi‘ zum Trotz, ein nur schwach belesener, literarisch völlig unbedarfter Autor“ gewesen, der früh vom sowjetischen Geheimdienst GPU angeworben und auf die Rolle eines Großschriftstellers und Parteiliteraten vorbereitet worden sei. Der Name Scholochow stehe mithin „nicht für einen realen Autor“, sondern für ein „Machwerk anonymer Ghostwriter“.[9]

Der russisch-israelische Literaturwissenschaftler Zeev Bar-Sella bezeichnete 2015 den Schriftsteller Wenjamin Krasnuschkin (1891–1920) als eigentlichen Autor des Romans. Dieser habe sich unter dem Pseudonym Viktor Sewski als Erneuerer der physiologischen Skizze einen Namen gemacht und auf Seiten der Weißen gekämpft, bis die Roten ihn erschossen.[10][11]

Trivia

Pete Seeger dienten die in Der stille Don zitierten Verse des Donkosaken-Lieds Koloda Duda als Inspiration für den Text seines Liedes Where Have All the Flowers Gone.

Auszeichnungen

Ausgaben

  • Der Stille Don. Verlag Volk und Welt, Berlin 1947
    • Band 1: Die Zarenzeit. Übersetzt von Olga Halpern; 425 Seiten
    • Band 2: Krieg und Revolution. Übersetzt von Olga Halpern; 456 Seiten
  • Der stille Don. dtv, München 1985,
    • Band 1: 1. und 2. Buch übersetzt von Olga Halpern, 661 Seiten, ISBN 3-423-01313-3.
    • Band 2: 3. und 4. Buch übersetzt von E. Margolis und R. Czora, 850 Seiten, ISBN 3-423-01314-1.
  • Der stille Don. dtv, München 2000, ISBN 978-3-423-12728-8.

Verfilmungen

Einzelnachweise

  1. Kindlers Literatur Lexikon, s.v. Tichij Don. Taschenbuchausgabe, dtv, München 1986, Bd. 11, S. 9364.
  2. Zitiert nach Ota Filip: Sein Szepter reichte vom Don bis zum East River. In: Die Weltwoche, November 1986.
  3. Prawda vom 29. März 1929, S. 4.
  4. Roy Medwedew: Problems in the Literary Biography of Mikhail Sholokhov. Cambridge, 1966.
  5. Herman Ermolaev: Mikhail Sholokhov and his Art. Princeton, 1982.
  6. Geir Kjetsaa et al.: The Authorship of „The Quiet Don“. Oslo, 1984.
  7. Anatoly Timofeevich, V.P. und T.G. Fomenko: History – Fiction or Science? (2005), S. 425–444, Kapitel: The authorial invariant in Russian literary texts. Its application: Who was the real author of the "Quiet Don"?
  8. Siehe Ulrich M. Schmid: Lautes Getöse um den „Stillen Don“. In: Neue Zürcher Zeitung, 23. April 2005. [1]
  9. Geklonter Nobelpreisträger. Ein epochaler Betrug – neue Debatten um Michail Scholochow. In: Neue Zürcher Zeitung, 23. August 2006. [2]
  10. Зеев Бар-Селла: «Тихий Дон» против Шолохова. В сборнике «Загадки и тайны Тихого Дона». Самара, P.S. пресс, 1996 с. 122—194. (dt.: Zeev Bar-Sella: «Der stille Don» gegen Scholochow. In: Puzzlestücke und Geheimnisse des stillen Dons. Samara, 1996, S. 122–194.)
  11. Kerstin Holm: Nobelpreis für ein Plagiat – Die Ruhmsucht der Sowjetunion. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 31. Juli 2015, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 31. Juli 2015]).
  12. Kindlers Literatur Lexikon, s.v. Tichij Don. Taschenbuchausgabe, dtv, München 1986, Bd. 11, S. 9364.