Verslehre
Die Verslehre oder Metrik (altgriechisch μετρική τέχνη metrikē technē, deutsch ‚metrische Kunst‘, ‚Lehre von den (Vers-)Maßen‘, danach lateinisch ars metrica) befasst sich mit den Eigenschaften der gebundenen Sprache, insbesondere in Hinblick auf ihre Gliederung in — durch Wiederholung — wahrgenommene Einheiten wie Vers und Strophe. Die Mittel dieser sprachlichen Gestaltung sind neben der rhythmischen Strukturierung die verschiedenen Formen der Lautbindung wie Reim, Assonanz und Alliteration.
Die Metrik als wissenschaftliche Disziplin untergliedert sich in die Bereiche
- vergleichende Metrik,
- systematische Metrik,
- historische Metrik und
- theoretische Metrik.
Die vergleichende Metrik untersucht die verschiedenen Sprachen und ihre Literaturen in Hinblick auf die in ihnen maßgeblichen Gestaltungsmittel. Zentral ist hier der Begriff des Versprinzips. Man unterscheidet:
- quantitierendes Versprinzip (Silben messend), bei dem die Silbenlänge bestimmend ist, vorherrschend in der antiken Dichtung
- silbenzählendes Versprinzip (Silben zählend), bei dem die Anzahl der Silben bestimmend ist, vorherrschend in den romanischen Sprachen
- akzentuierendes Versprinzip (Silben wägend), bei dem die Betonung der Silben (Versakzent) bestimmend ist, vorherrschend in den germanischen Sprachen
Die vergleichende Metrik untersucht auch die Probleme, die entstehen, wenn metrische Begriffe unreflektiert zwischen Sprachen mit ganz unterschiedlichen Prinzipien ausgetauscht werden. Das ist von besonderer Bedeutung in der deutschen Metrik, die zeitweise geprägt war durch die (silbenzählende) französische Dichtung und ab dem 18. Jahrhundert durch die Übernahme von Formen und Begriffen aus der (quantitierenden) antiken Dichtung, was zu einer bis heute immer wieder beklagten Verwirrung der metrischen Begriffe und Konzepte führte.
Die systematische Metrik untersucht existierende dichterische Werke auf Gemeinsamkeiten und strukturierende Elemente und arbeitet dabei mit Begriffen wie
und unterscheidet deren verschiedene Gestaltungen und Ausprägungen durch entsprechende Begriffe und Festlegung von deren Merkmalen. Mittel der Begriffsbildung ist dabei die Festlegung des Schemas einer bestimmten metrischen Form (zum Beispiel des Reimschemas einer Strophenform oder der von Fußfolge eines Versmaßes, der Kadenz einer Taktreihe oder der Gliederung von Versen in Kola durch Zäsur und Dihärese), wobei man sich verschiedener, dem jeweiligen Bereich angespasster Formen der metrischen Notation bedient.
Die historische Metrik untersucht die historische Entwicklung der lyrischen Formen, meist bezogen auf eine bestimmte Sprache oder Literatur. In der historischen Metrik des Deutschen ist das etwa die Ablösung der altgermanischen stabreimenden Langzeile durch den Otfridschen Reimvers in der Mitte des 9. Jahrhunderts. Ebenso Gegenstand ist die Untersuchung historischer Theoriebildungen, etwa der Werke der antiken alexandrinischen Grammatiker oder der Wirkung von Martin Opitz’ Buch Von der Deutschen Poeterey auf die deutsche Dichtung. Und schließlich werden auch die Beziehungen, Einflüsse und Übernahmen zwischen den verschiedenen Literaturen in ihrer historischen Dimension erforscht, zum Beispiel der Einfluss der französischen Poesie auf die Barockdichtung in Deutschland und Frankreich.
Die theoretische Metrik beginnt mit den erwähnten Arbeiten der hellenistischen Grammatiker und setzt sich zum Ziel, über den deskriptiven Ansatz der systematischen Metrik hinaus das Wesentliche der lyrischen Formen zu bestimmen im Unterschied zum zufällig historisch Gewordenen. Die aus dem Ansatz entstehenden Probleme zeigten sich bereits in der Antike in Gestalt verschiedener Schulen mit einander widersprechenden Theorien, etwa bei den Grammatikern, die eine Schule, die alle Metra aus 8 bis 10 Grundmaßen (metra prototypa) ableiten wollte, im Gegensatz zu den Vertretern der Derivationstheorie, die alle Metra von Hexameter und jambischem Trimeter ableiten wollte. Im Deutschen war der Einfluss der von Philologen betriebenen rein wissenschaftlichen Metrik auf die poetische Praxis gering. Relativ bedeutender war der Einfluss auch theoretisch arbeitender Dichter wie Opitz, Klopstock und Lessing und in der Moderne Friedrich Georg Jünger.
Neben der Unterscheidung der verschiedenen Richtungen der Metrik nach ihrem Ansatz ist es auch sinnvoll, nach Sprache zu gliedern, da für jede einzelne Sprache und Literatur neben der jeweiligen geschichtlichen Entwicklungen es auch durch die natürliche Prosodie der Sprache für diese ganz eigentümliche Möglichkeiten bzw. Probleme gibt, die untersucht werden können. Als wichtige Bereiche sind hier zu nennen:
- Antike Metrik: Traditionell stark dominiert von der griechischen bzw. der lateinischen Metrik. Eher randständig die Untersuchung spätantiker bzw. frühmittelalterlicher Formen der mittellateinischen Metrik einerseits, hier insbesondere die Metrik kirchlicher Dichtung, und für die entsprechenden späten Formen im Griechischen die byzantinische Metrik andererseits. Sehr am Rande des Interesses die Verslehre anderer Kulturen des Altertums, insbesondere altägyptische, mesopotamische und althebräische Metrik.
- Deutsche Metrik
- Französische Metrik
- Italienische Metrik
- Spanische Metrik
- Englische Metrik
Als bedeutende Wissenschaftler, die sich mit der Verslehre befassten, sind zu nennen:
- Sandro Boldrini
- Friedrich Crusius
- Andreas Heusler
- Wolfgang Kayser
- Christoph Küper
- Paul Maas
- August Rossbach
- Rudolf Westphal
- Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
Siehe auch
Literatur
Nachschlagewerke
- Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3. Auflage. Metzler, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-476-01612-6.
- Roland Greene, Stephen Cushman et al. (Hrsg.): The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. 4. Auflage. Princeton University Press, Princeton 2012, ISBN 978-0-691-13334-8.
- Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen (= Kröners Taschenausgabe. Band 479). 2., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-47902-8.
- Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8. Auflage. Kröner, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-520-84601-3.
Allgemeines
- Ivo Braak: Poetik in Stichworten. 8. Auflage. Bornträger, Stuttgart 2001, ISBN 3-443-03109-9.
- Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik. Verstheorie bei Opitz, Klopstock und Bürger in der europäischen Tradition. Ripperger & Kremers, 2014, ISBN 978-3-943999-11-2
- Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart, Weimar 1995.
- Christoph Küper: Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des Verses. Niemeyer, Tübingen 1988, ISBN 3-484-10574-7.
- Burkhard Moennighoff: Metrik (= Reclams Universal-Bibliothek. Bd. 17649). Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-017649-2.
- Hans-Wolf Jäger: Metrik. edition lumière, Bremen 2021, ISBN 978-3-948077-21-1
Antike Metrik
- Sandro Boldrini: Prosodie und Metrik der Römer. Teubner, Stuttgart, Leipzig 1999, ISBN 3-519-07443-5.
- Wilhelm Christ: Metrik der Griechen und Römer. Teubner, Leipzig 1874.
- Friedrich Crusius: Römische Metrik. Eine Einführung. Neu bearbeitet von Hans Rubenbauer. Georg Olms, Hildesheim 1984. ISBN 3-487-07532-6
- Hans Drexler: Einführung in die römische Metrik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1974, ISBN 3-534-04494-0.
- Dietmar Korzeniewski: Griechische Metrik. 3., unveränd. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991, ISBN 978-3534044962.
- Paul Maas: Griechische Metrik (= Einleitung in die Altertumswissenschaft. Bd. 1,7). Teubner, Leipzig 1929.
- Wilfried Neumaier: Antike Rhythmustheorien. Historische Form und aktuelle Substanz. Grüner, Amsterdam 1989, ISBN 90-6032-064-6.
- Karl Rupprecht: Einführung in die griechische Metrik. 3., gänzlich umgearbeitete Auflage. Hueber, München 1950.
- Otto Schröder: Nomenclator metricus. Heidelberg 1929.
- Christiaan Marie Jan Sicking: Griechische Verslehre (= Handbuch der Altertumswissenschaft. Abt. 2, Teil 4). Beck, München 1993, ISBN 3-406-35252-9.
- Otto Skutsch: Prosodische und metrische Gesetze der Iambenkürzung. Göttingen 1934.
- Bruno Snell: Griechische Metrik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982.
- Richard Volkmann u. a.: Rhetorik und Metrik der Griechen und Römer. 3., umgearbeitete Auflage. 1901.
- Christian Zgoll: Römische Prosodie und Metrik. Ein Studienbuch mit Audiodateien. Darmstadt 2012, ISBN 978-3-534-23688-6.
Mittellateinische Metrik
- Paul Klopsch: Einführung in die Mittellateinische Verslehre. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972, ISBN 3-534-05339-7.
- Wilhelm Meyer: Gesammelte Abhandlungen zur mittellateinischen Rhythmik. 3 Bände. Weidmann, Berlin 1905–1936. Nachdruck: Olms, Hildesheim, New York 1970.
- Dag Ludvig Norberg: Introduction à l’étude de la versification latine médiévale. Almqvist & Wiksell, Stockholm 1958.
Deutsche Metrik
- Erwin Arndt: Deutsche Verslehre. Ein Abriss. 12., durchgesehene Auflage. Berlin 1990.
- Herbert Bögl: Abriss der mittelhochdeutschen Metrik. Mit einem Übungsteil. Olms, Hildesheim 2006.
- Dieter Breuer: Deutsche Metrik und Versgeschichte. Fink, München 1981, ISBN 3-7705-1623-0. 3. Auflage 1994, ISBN 3-8252-0745-5.
- Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2. Auflage. Francke, Tübingen & Basel 1993, ISBN 3-7720-2221-9.
- Daniel Frey: Einführung in die deutsche Metrik. München 1996.
- Otto Paul, Ingeborg Glier: Deutsche Metrik. 9. Auflage. Hueber, München 1974.
- Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. 5., erweiterte Auflage. Beck, München 2007, ISBN 3-406-55731-7.
- Volkhard Wels: Kunstvolle Verse. Stil- und Versreformen um 1600 und die Entstehung einer deutschsprachigen ‚Kunstdichtung‘. Harrassowitz, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-447-11073-0 (online abrufbar auf academia.edu).
Metrik moderner Sprachen
- Hans-Jürgen Diller: Metrik und Verslehre (= Studienreihe Englisch. Bd. 18). Bagel, Düsseldorf 1978, ISBN 3-513-02268-9.
- W. Theodor Elwert: Französische Metrik. Hueber, München 1961, ISBN 3-19-003021-9.
Weblinks
- Metricalizer² (Programm zur automatischen metrischen Analyse von Gedichten)